Литмир - Электронная Библиотека
A
A

Ich hatte sie nie so gesehen. Sie war so geladen mit Abwehr, Abscheu, Haß und funkelndem Triumph, entkommen zu sein, daß sie bebte. Mir ging es ähnlich; aber bei mir kam auf einmal, wie ein Blitz, der blendete, etwas anderes hinzu — der jähe Gedanke an Rache. Georg hatte hier keine Macht! Er konnte nicht seiner Gestapo pfeifen. Er war allein.

Der Gedanke verwirrte mich so, daß ich nicht wußte, was ich im Augenblick tun sollte. Ich konnte mich nicht prügeln und wollte es auch nicht; ich wollte das Wesen vor mir auslöschen. Es sollte nicht mehr existieren. So wie die Inkarnation des Bösen keines Urteils bedarf, um es zu vernichten, so schien es mir mit Georg. Ihn zu vernichten bedeutete nicht nur Rache — es bedeutete auch, Dutzende unbekannter künftiger Opfer zu retten.

Ich ging, ohne daran zu denken, was ich tat, zur Tür. Ich wunderte mich, daß ich nicht taumelte. Ich mußte allein sein. Ich mußte überlegen. Helen sah mich aufmerksam an. Sie sagte nichts, Georg beobachtete mich verächtlich und setzte sich dann wieder. „Endlich!" knurrte er, als ich die Tür hinter mir schloß.

Ich ging die Treppe hinunter. Man roch das Mittagessen; es gab Fisch. Auf dem Treppenabsalz stand eine italienische Truhe. Ich war oft daran vorbeigegangen, aber ich hatte sie nie bemerkt. Jetzt sah ich die Schnitzerei so genau, als wollte ich sie kaufen. Ich ging wie ein Nachtwandler weiter. Im zweiten Stock stand eine Tür offen. Das Zimmer war hellgrün gestrichen, die Fenster standen offen, und das Zimmermädchen drehte die Matratze des Bettes um. Sonderbar, was man alles sieht, wenn man glaubt, vor Erregung nichts zu sehen!

Ich klopfte an die Tür eines Bekannten, der im ersten Stock wohnte, Er hieß Fischer und hatte mir einmal einen Revolver gezeigt, den er besaß, um das Leben erträglicher zu finden. Die Waffe gab ihm die Illusion, freiwillig das karge und trostlose Dasein eines Emigranten zu führen, weil er die Wahl hatte, es abzubrechen, wann er wollte.

Fischer war nicht da, aber sein Zimmer war nicht verschlossen. Er hatte nichts zu verbergen. Ich ging hinein, um auf ihn zu warten. Ich wußte nicht genau, was ich wirklich wollte, obschon ich wußte, daß ich die Waffe von ihm leihen mußte. Es war sinnlos, Georg im Hotel zu töten, das war mir klar; es hätte Helen und mich und die anderen Emigranten, die hier lebten, gefährdet. Ich setzte mich auf einen Stuhl und versuchte ruhig zu werden. Es gelang mir nicht. Ich saß da und starrte vor mich hin.

Ein Kanarienvogel fing plötzlich an zu singen. Er hing in einem Drahtbauer zwischen den Fenstern. Ich hatte ihn vorher nicht gesehen und schreckte auf, als hätte mich jemand gestoßen. Gleich darauf kam Helen herein.

„Was machst du hier?" fragte sie.

„Nichts. Wo ist Georg?"

„Er ist fort."

Ich wußte nicht, wie lange ich in Fischers Zimmer gewesen war. Es schien mir sehr kurz. „Kommt er wieder?" fragte ich.

„Ich weiß es nicht. Er ist hartnäckig. Weshalb bist du aus dem Zimmer gegangen? Um uns allein zu lassen?"

„Nein", sagte ich. „Nicht deshalb, Helen. Ich konnte ihn plötzlich nicht mehr ertragen."

Sie stand in der Tür und sah mich an. „Haßt du mich?"

„Ich dich hassen?" fragte ich tief erstaunt. „Warum?"

„Es fiel mir ein, als Georg weg war. Hättest du mich nicht geheiratet, wäre dir das alles nicht passiert."

„Es wäre mir dasselbe passiert. Oder noch Schlimmeres. Es kann sein, daß Georg in seiner Weise sogar noch Rücksicht deinetwegen genommen hat. Ich bin nicht in den elektrischen Stacheldraht getrieben und nicht an einem Fleischerhaken erhängt worden. — Ich dich hassen! Wie kannst du nur an so etwas denken!"

Ich sah auf einmal hinter den Fenstern Fischers wieder den grünen Sommer. Das Zimmer lag nach hinten, und im Hof stand eine große Kastanie, durch deren Blätter die Sonne schien. Der Krampf in meinem Nacken löste sich, wie ein Katzenjammer am späten Nachmittag. Ich fühlte mich selbst wieder. Ich wußte, welcher Tag es war und daß der Sommer draußen stand, daß ich in Paris war und daß man nicht Menschen erschießt wie Hasen. „Ich könnte mir eher denken, du würdest mich hassen", sagte ich. „Oder verachten." „Ich?"

„Ja. Weil ich deinen Bruder nicht fernhalten kann. Weil ich..."

Ich schwieg. Die gerade vergangenen Minuten waren plötzlich sehr weit weg. „Was tun wir hier?" sagte ich. „In diesem Zimmer?"

Wir gingen die Treppe hinauf. „Alles, was Georg gesagt hat, ist wahr", sagte ich. „Du mußt das wissen! Wenn ein Krieg kommt, sind wir Angehörige eines feindlichen Landes, du noch mehr als ich."

Helen öffnete die Fenster und die Tür. „Es riecht nach Soldatenstiefeln und Terror", sagte sie. „Laß den August herein! Wir wollen die Fenster offenlassen und weggehen. Ist es Zeit zum Mittagessen?"

,Ja. Und es ist Zeit, Paris zu verlassen."

„Warum?"

„Georg wird versuchen, mich anzuzeigen."

„So weit denkt er nicht. Er weiß nicht, daß du hier unter einem anderen Namen lebst."

„Es wird ihm einfallen. Und er wird wiederkommen."

„Das mag sein. Ich werde ihn rauswerfen. Laß uns auf die Straße gehen."

Wir gingen zu einem kleinen Restaurant hinter dem Palais de Justice und aßen an einem Tisch auf dem Trottoir. Es gab pate maison, boeuf a la mode, Salat und Camembert. Dazu tranken wir einen offenen Vouvray und hinterher Kaffee. Ich erinnere mich an alles das genau, sogar an das goldkrustige Brot und die angestoßenen Kaffeetassen; ich war an diesem Mittag erschöpft von einer tiefen, anonymen Dankbarkeit. Mir schien, ich wäre aus einem dunklen, schmutzigen Kanal entkommen, in den ich nicht zurückzuschauen wagte, weil auch ich ein Teil dieses Schmutzes gewesen war, ohne es vorher gewußt zu haben. Ich war entkommen und saß nun an einem Tisch mit einem rot und weiß gewürfelten Tischtuch und fühlte mich gereinigt und gerettet, die Sonne warf gelbe Reflexe durch den Wein, Spatzen lärmten über einem Haufen Pferdemist, die Katze des Wirtes schaute ihnen satt und uninteressiert zu, ein leichter Wind wehte über den stillen Platz, und das Dasein war wieder so gut, wie es nur in unseren Wünschen ist.

Später gingen wir durch den honigfarbenen Sommernachmittag von Paris und blieben vor dem Fenster einer kleinen Couturiere stehen. Wir hatten schon öfter davorgestanden. „Du solltest ein neues Kleid haben", sagte ich.

„Jetzt noch?" fragte Helen. „So kurz vor dem Kriege? Ist das nicht extravagant?"

„Gerade jetzt noch. Und gerade weil es extravagant ist.“

Sie küßte mich. „Gut!"

Ich saß ruhig in einem Sessel neben der Tür zum Hinterzimmer, in dem probiert wurde. Die Couturiere brachte die Kleider heran, und Helen war bald so interessiert, daß sie mich fast vergaß. Ich hörte die Stimmen der Frauen hin und her gehen und sah die Kleider im Türausschnitt vorüberwehen und ab und zu Helens nackten braunen Rücken, und eine sanfte Müdigkeit, die etwas von schmerzlosem Sterben ohne den Begriff des Sterbens hatte, hüllte mich ein.

Ich wußte, etwas beschämt, warum ich das Kleid hatte kaufen wollen. Es war eine Auflehnung gegen den Tag, gegen Georg, gegen meine Hilflosigkeit — ein kindischer ferner Versuch einer noch kindischeren Rechtfertigung.

Ich erwachte, als Helen plötzlich vor mir stand, in einem sehr weiten, bunten Rock mit einem schwarzen, kurzen und enganliegenden Sweater. „Genau richtig!" erklärte ich. „Das nehmen wir." „Es ist sehr teuer", sagte Helen. Die Couturiere versicherte, es sei das Modell eines großen Hauses — eine charmante Lüge — aber wir wurden einig und nahmen das Kleid gleich mit. Es war gut, etwas zu kaufen, was man sich nicht leisten konnte, dachte ich. Der damit verbundene Leichtsinn verscheuchte den letzten Schatten Georgs. Helen trug das Kleid am Abend, und auch in der Nacht, als wir noch einmal aufstanden und im Fenster lehnten, um auf die Stadt im Mondlicht zu schauen — unersättlich, immer wieder, geizend mit dem Schlaf, wissend, daß es nur noch für kurze Zeit war."

31
{"b":"125278","o":1}