„Wie kamen Sie durch?" fragte ich.
„Der Parteigenosse hatte den Brief Helens gelesen. Er gab mir meinen Paß zurück und fragte, ob ich in der Schweiz Bekannte hätte. Ich nickte.
„Wen?"
„Die Herren Ammer und Rotenberg."
Es waren die Namen von zwei Nazis, die in der Schweiz arbeiteten. Jeder Emigrant, der in der Schweiz gelebt hatte, kannte und haßte sie.
„Sonst noch jemand?"
„Unsere Herren in Bern. Nicht nötig, sie alle zu nennen, nicht wahr?"
Er salutierte. „Viel Glück! Heil Hitler!"
Mein Gefährte war nicht so glücklich. Er mußte alle Papiere vorzeigen und wurde einem Kreuzverhör unterzogen. Er schwitzte und stotterte. Ich konnte es nicht mit ansehen. „Kann ich zum Speisewagen zurückgehen?" fragte ich.
„Selbstverständlich!" erwiderte der Parteigenosse. „Guten Appetit!"
Ich fand den Speisewagen besetzt. Eine Schar Amerikaner hatte meinen Tisch okkupiert. „Wo ist mein Platz?" fragte ich den Kellner.
Er hob die Schultern. „Ich konnte ihn nicht halten. Was kann man gegen diese Amerikaner machen? Sie verstehen kein Deutsch und setzen sich hin, wo sie wollen! Nehmen Sie den Platz drüben. Tisch ist ja Tisch, nicht wahr? Ich habe Ihren Wein schon rübergestellt." Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Eine Familie hatte die vier Plätze meines Tisches fröhlich beschlagnahmt. Da, wo mein Geld lag, saß jetzt ein sehr schönes, sechzehnjähriges Mädchen mit einer Kamera. Wenn ich darauf bestanden hätte, den Platz wiederzubekommen, hätte ich Aufmerksamkeit erregt. Wir waren noch auf deutschem Boden.
Während ich entschlußlos dastand, sagte der Kellner: „Warum nimmt der Herr nicht einstweilen den Tisch drüben und nachher, wenn er frei wird, wieder den andern? Amerikaner essen schnell — belegte Brote und Orangensaft. Ich kann dem Herrn dann sein richtiges Essen hinterher servieren." „Gut."
Ich setzte mich so, daß ich mein Geld beobachten konnte. Es ist merkwürdig mit einem — eine Minute vorher hätte ich gern auf alles Geld verzichtet, um nur durchzukommen — jetzt aber saß ich da und wußte nur, daß ich es wiederhaben wollte, in der Schweiz allerdings, selbst wenn ich die amerikanische Familie attackieren müßte. Dann sah ich, wie draußen der kleine, schwitzende Mann abgeführt wurde, und hatte ein Gefühl tiefer, unbewußter Befriedigung, daß nicht ich es war, gekoppelt mit dem scheinheiligen Bedauern, das nichts als eine Bestechung des Schicksals durch billiges Mitleid ist. Ich fand mich widerwärtig und konnte und wollte nichts dagegen tun. Ich wollte gerettet werden, und ich wollte mein Geld. Es war nicht das Geld als Geld — es war Sicherheit, es war Helen, es waren die Monate der Zukunft —, trotzdem war es das Geld, und es war meine eigene Haut und mein eigenes egoistisches Glück. Wir kommen nie davon los. Aber der in uns, den wir nicht kontrollieren können, sollte das Schauspielern lassen..."
„Herr Schwarz", unterbrach ich ihn. „Wie kamen Sie zu Ihrem Geld?"
„Sie haben recht," erwiderte er. „Auch diese törichte Tirade gehört dazu. Die Schweizer Zollbeamten kamen in den Speisewagen, und die amerikanische Familie hatte nicht nur Handgepäck, sondern auch Koffer im Gepäckwagen. Sie mußte hinaus. Die Kinder gingen mit. Sie waren mit dem Essen fertig. Der Tisch wurde abgeräumt. Ich ging hinüber, legte die Hand auf die Tischdecke und fühlte die schmale Erhöhung.
„Alles erledigt mit dem Zoll?" fragte der Kellner, als er meine Flasche herüberbrachte.
„Natürlich", erwiderte ich. „Bringen Sie mir jetzt den Rostbraten. Sind wir schon in der Schweiz?" „Noch nicht", erklärte er. „Erst wenn wir fahren." Er ging, und ich wartete darauf, daß der Zug anziehen möge. Es war die rasende letzte Ungeduld, die Sie wahrscheinlich auch kennen. Ich starrte durch das Fenster auf die Leute am Bahnsteig; ein Zwerg im Smoking mit zu kurzen Hosen versuchte dort, mit aller Gewalt Gumpoldskirchener Wein und Schokolade von einem fahrbaren Nickelwagen zu verkaufen. Dann sah ich den schwitzenden Mann aus meinem Abteil zurückkommen. Er war allein und rannte zu seinem Wagen. „Sie haben aber einen guten Zug," sagte der Kellner neben mir. „Was?"
„Ich meine, der Herr trinken den Wein aber wie beim Feuerlöschen."
Ich sah auf die Flasche. Sie war beinahe leer. Ich hatte sie getrunken, ohne es zu wissen. In diesem Augenblick rumpelte der Speisewagen. Die Flasche schwankte und fiel. Ich fing sie in der Hand. Der Zug begann zu fahren. „Bringen Sie mir noch eine", sagte ich. Der Kellner verschwand.
Ich zog das Geld unter dem Tischtuch hervor und steckte es ein. Gleich darauf kamen die Amerikaner zurück. Sie setzten sich an den Tisch, an dem ich vorher gesessen hatte, und bestellten Kaffee. Das Mädchen begann die Landschaft zu photographieren. Ich fand, daß sie recht hatte; es war die schönste Landschaft der Welt.
Der Kellner kam mit der Flasche. „Jetzt sind wir in der Schweiz."
Ich bezahlte die Flasche und gab ihm ein gutes Trinkgeld. „Behalten Sie den Wein", sagte ich. „Ich brauche ihn nicht mehr. Ich wollte etwas feiern, aber jetzt merke ich, daß schon die erste Flasche zuviel für mich war."
„Sie haben fast auf leeren Magen getrunken, mein Herr", erklärte er mir.
„Das war es." Ich stand auf.
„Haben der Herr vielleicht Geburtstag?" fragte der Kellner.
„Jubiläum", sagte ich. „Goldenes Jubiläum!"
Der kleine Mann in meinem Abteil saß schweigend für einige Minuten da; er schwitzte jetzt nicht mehr, aber man konnte sehen, daß sein Anzug und seine Wäsche feucht waren. Dann fragte er:
„Sind wir in der Schweiz?"
„Ja", erwiderte ich.
Er schwieg wieder und sah aus dem Fenster. Eine Station mit Schweizer Namen kam vorbei. Ein Schweizer Bahnhofsvorsteher winkte, und zwei Schweizer Polizisten standen neben dem Gepäck, das verladen wurde, und plauderten. Man konnte Schweizer Schokolade und Schweizer Würste an einem Kiosk erstehen. Der Mann lehnte hinaus und kaufte eine Schweizer Zeitung. „Ist dies hier die Schweiz?" fragte er den Jungen.
„Ja. Was sonst? Zehn Rappen."
„Was?"
„Zehn Rappen! Zehn Centimes! Für die Zeitung!"
Der Mann zahlte, als hätte er das Große Los gewonnen. Das veränderte Geld mußte ihn endlich überzeugt haben. Mir hatte er nicht geglaubt. Er entfaltete die Zeitung, blickte hinein und legte sie weg. Es dauerte eine Weile, ehe ich hörte, was er sagte. Ich war so benommen von meiner neuen Freiheit, daß die Räder des Zuges in meinem Kopf zu rattern schienen. Erst nachdem ich sah, daß er seine Lippen bewegte, hörte ich, daß er sprach.
„Endlich heraus", sagte er und starrte mich an, „aus eurem verfluchten Land, Herr Parteigenosse! Aus dem Land, das ihr zu einer Kaserne und einem Konzentrationslager gemacht habt, ihr Schweine! In der Schweiz, in einem freien Land, in dem ihr nichts zu befehlen habt! Endlich kann man den Mund aufmachen, ohne von euch mit dem Stiefel in die Zähne getreten zu werden! Was habt ihr aus Deutschland gemacht, ihr Räuber und Mörder und Folterknechte!"
Kleine Blasen bildeten sich in seinen Mundwinkeln. Er starrte mich an, wie eine hysterische Frau eine Kröte anstarren würde. Er hielt mich für einen Parteigenossen, und nach dem, was er gehört hatte, hatte er recht.
Ich hörte ihm zu mit der tiefen Ruhe, geredet zu sein.
„Sie sind ein mutiger Mann", sagte ich dann. „Ich bin mindestens zwanzig Pfund schwerer und fünfzehn Zentimeter größer als Sie. Aber sprechen Sie sich nur aus. Es erleichtert."
„Höhnen!" sagte er und wurde noch wütender. „Verhöhnen wollen Sie mich auch noch, was? Aber das ist vorbei! Für immer vorbei! Was habt ihr mit meinen Eltern gemacht? Was hat mein alter Vater euch getan? Und jetzt! Jetzt wollt ihr die Welt in Brand stecken!"
„Glauben Sie, daß es Krieg gibt?" fragte ich.
„Höhnen Sie nur weiter! Als ob Sie das nicht wüßten! Was sonst bleibt euch übrig mit eurem Tausendjährigen Reich und euren infamen Rüstungen? Ihr Berufsmörder und Verbrecher! Wenn ihr keinen Krieg macht, bricht euer Schwindel-Wohlstand zusammen und ihr mit ihm!"