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Sie ging an den steinernen Weihwasserbecken vorbei durch das große Eingangsportal und bog sofort nach links. Am Dom entlang führte ein breiter, mit Steinplatten gepflasterter Weg, der durch eiserne Ketten zwischen Sandsteinpfählen vom großen Domplatz abgetrennt war. Sie sprang über die Ketten, ging einige Schritte in das Dunkel, blieb stehen und drehte sich um. Ich kann nicht erklären, was ich in diesem Augenblick empfand. Wenn ich sage, daß mir so war, als ginge mein ganzes Leben dort vor mir her, scheinbar weg von mir, und drehe sich plötzlich um und sähe mich an — so ist das wieder ein Klischee, und es ist wahr und nicht wahr, aber trotzdem fühlte ich es, doch das war nicht alles, was ich fühlte. Ich ging auf Helen zu, auf ihre schmale, dunkle Gestalt, auf ihr bleiches Gesicht und auf ihre Augen und ihren Mund, und ich ließ alles hinter mir, was gewesen war. Die Zeit, in der wir nicht zusammen gewesen waren, versank nicht; sie blieb, aber wie etwas, das ich gelesen hatte, nicht erlebt.

„Wo kommst du her?" fragte Helen, fast feindselig, bevor ich sie erreicht hatte.

„Aus Frankreich."

„Haben sie dich hereingelassen?"

„Nein. Ich bin schwatz über die Grenze gekommen."

Es waren fast dieselben Fragen, die Martens gestellt hatte. „Warum?" fragte sie. „Um dich zu sehen." „Du hättest nicht kommen sollen!" „Ich weiß. Ich habe mir das jeden Tag gesagt." „Und warum bist du gekommen?" „Wenn ich das wüßte, wäre ich nicht hier." Ich wagte nicht, sie zu küssen. Sie stand dicht vor mir, aber so starr, als könne sie zerbrechen, wenn man sie berührte. Ich wußte nicht, was sie dachte, aber ich hatte sie wiedergesehen, sie lebte, und nun konnte ich gehen oder dem entgegensehen, was käme. „Du weißt es nicht?" fragte sie. „Ich werde es morgen wissen. Oder in einer Woche. Oder später."

Ich sah sie an. Was war zu wissen? Wissen war ein bißchen Schaum, der über eine Woge tanzt. Jeder Wind konnte ihn wegblasen; aber die Woge blieb.

„Du bist gekommen", sagte sie, und ihr Gesicht verlor die Starre, es wurde sanft, und sie trat einen Schritt naher. Ich hielt sie bei den Armen, und ihre Hände waren gegen meine Brust gepreßt, als wolle sie mich noch abwehren. Ich hatte das Gefühl, als ständen wir lange Zeit so einander gegenüber auf dem schwarzen, windigen Domplatz, allein, während der Straßenlärm uns nur, wie durch eine dämpfende Glaswand entfernt, matt erreichte. Links, etwa hundert Schritte entfernt, lag, der Querseite des Platzes gegenüber, das hellerleuchtete Stadttheater mit seinen weißen Stufen, und ich weiß noch, daß ich mich einen Augenblick vage darüber wunderte, daß man dort noch spielte und nicht schon eine Kaserne oder ein Gefängnis daraus gemacht halte. Eine Gruppe von Leuten kam an uns vorbei. Jemand lachte, und einige sahen sich nach uns um. „Komm", flüsterte Helen. „Wir können nicht hierbleiben."

„Wohin sollen wir gehen?"

„In deine Wohnung."

Ich glaubte nicht recht gehört zu haben. „Wohin?" fragte ich noch einmal.

„In deine Wohnung. Wohin sonst?"

„Man kann mich auf der Treppe erkennen! Wohnen nicht dieselben Leute wie früher noch in dem Haus?"

„Man wird dich nicht sehen."

„Und das Mädchen?"

„Ich werde es für den Abend wegschicken."

„Und morgen früh?"

Helen sah mich an. „Bist du von so weit gekommen, um mich alles das zu fragen?"

„Ich bin nicht gekommen, um gefaßt zu werden und dich in ein Lager zu bringen, Helen."

Sie lächelte plötzlich. „Josef, sagte sie. „Du hast dich nicht verändert. Wie bist du nur hierher-gekommen?"

„Das weiß ich auch nicht", erwiderte ich und mußte selbst lächeln. Die Erinnerung daran, daß sie das früher manchmal, halb zornig, halb verzweifelt, über meine Umständlichkeit gesagt hatte, wischte die Gefahr auf einmal weg. „Aber ich bin da", sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf, und ich sah, daß ihre Augen voll Tränen waren. „Noch nicht", erwiderte sie. „Noch nicht! Und nun komm, oder man wird uns tatsächlich verhaften, weil es aussieht, als mache ich dir eine Szene."

Wir gingen über den Platz. „Ich kann doch nicht sofort mit dir kommen", sagte ich. „Du mußt dein Mädchen doch vorher wegschicken! Ich habe ein Zimmer in einem Hotel in Münster genommen. Man kennt mich da nicht. Ich wollte dort wohnen." Sie blieb stehen. „Wie lange?" „Das weiß ich nicht", erwiderte ich. „Ich habe nie weiter denken können, als daß ich dich sehen wollte und daß ich danach irgendwie zurück müßte." „Über die Grenze?" „Wohin sonst, Helen?"

Sie senkte den Kopf und ging weiter. Ich dachte daran, daß ich nun sehr glücklich sein sollte, aber ich fühlte es nicht so. Wirklich fühlt man es wohl immer erst später. Jetzt — jetzt weiß ich, daß ich es war.

„Ich muß mit Martens telephonieren", sagte ich. „Du kannst das von deiner Wohnung aus tun", erwiderte Helen. Es traf mich jedesmal, wenn sie „deine Wohnung" sagte. Sie tat es absichtlich. Ich wußte nicht, weshalb.

„Ich habe Martens versprochen, ihn in einer Stunde anzurufen", sagte ich. „Das ist jetzt. Wenn ich es nicht tue, glaubt er, es sei etwas passiert. Vielleicht tut er dann etwas Unvorsichtiges."

„Er weiß, daß ich dich abhole."

Ich blickte auf die Uhr. Es war schon eine Viertelstunde später, als ich anrufen wollte. „Ich kann es von der nächsten Kneipe aus tun", sagte ich. „Es dauert nur eine Minute."

„Mein Gott, Josef!" sagte Helen zornig. „Du hast dich wirklich nicht geändert. Du bist noch pedantischer geworden."

„Dies ist keine Pedanterie. Es ist Erfahrung. Ich habe zu oft gesehen, wieviel Unheil passieren kann, wenn man Kleinigkeiten vernachlässigt. Und ich weiß zu genau, was Warten heißt, unter Gefahr." Ich nahm ihren Arm. „Ohne Pedanterie dieser Art wäre ich nicht mehr am Leben, Helen."

Sie drückte heftig meinen Arm. „Ich weiß", murmelte sie. „Siehst du denn nicht, daß ich fürchte, es würde etwas passieren, wenn ich dich jetzt nur noch eine Minute allein lasse?"

Ich spürte alle Wärme der Welt. „Nichts wird passieren, Helen. Auch daran kann man glauben. Mit aller Pedanterie."

Sie lächelte und hob ihr blasses Gesicht. „Geh nun telephonieren! Aber nicht in einer Kneipe. Drüben ist ein Telephonstand. Man hat ihn hingebaut, während du fort warst. Er ist sicherer als eine Kneipe."

Ich ging in die Glaskabine. Helen blieb draußen. Ich rief Martens an. Die Nummer war besetzt. Ich wartete einige Zeit und rief wieder an. Das Nickelstück fiel scheppernd zurück; die Nummer war immer noch besetzt. Ich wurde unruhig. Durch das Glas sah ich Helen draußen aufmerksam hin und her gehen. Ich machte ihr ein Zeichen, aber sie sah mich nicht. Sie beobachtete die Straße, den Hals gereckt, spähend, ohne es zu sehr zeigen zu wollen, Wärter und Schutzengel zugleich, in einem sehr gut sitzenden Kostüm, wie ich jetzt bemerkte. Ich sah auch, während ich wartete, daß ihr Mund mit Lippenstift nachgezogen war. Im gelben Licht wirkte er fast schwarz. Mir fiel ein, daß Schminke und Lippenstift im neuen Deutschland unerwünscht waren.

Beim dritten Anruf erreichte ich Martens. „Meine Frau hat telephoniert", sagte er. „Fast eine halbe Stunde. Ich konnte sie nicht unterbrechen. Über Kleider, Krieg und Kinder."— „Wo ist sie jetzt?"

„In der Küche. Ich mußte sie reden lassen. Du verstehst?"

„Ja. Alles in Ordnung. Ich danke dir, Rudolf. Vergiß alles."

„Wo bist du?"

„Auf der Straße. Ich danke dir, Rudolf. Ich brauche weiter nichts mehr. Ich habe alles gefunden. Wir sind zusammen."

Ich sah durch die Scheibe auf Helen und wollte den Hörer niederlegen. „Weißt du, wo du unterkommen wirst?" fragte Martens.

„Ich glaube, ja. Sorge dich nicht. Vergiß den Abend, als hättest du geträumt."

„Wenn ich noch etwas tun kann", sagte er zögernd, „laß es mich wissen. Ich war zuerst zu überrascht. Du verstehst..."

„Ja, Rudolf, ich verstehe. Und wenn ich etwas brauche, werde ich es dich wissen lassen."

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