«Wußte ich doch, Thomas. Sie haben nicht das richtige Gesicht zum Schwindeln.»
Wieder klopfte es, diesmal war es der Schiffsarzt.
«Nun, Mr. Whitmarsh?«fragte Bolitho,»geht es unserem Gefangenen schlechter?»
Whitmarsh schob sich durch die Tür wie in eine Zelle. Er duckte sich unter jeden Decksbalken, als suche er einen
Fluchtweg.»Es geht ihm soweit ganz gut, Sir. Aber ich bin immer noch der Meinung, daß es besser gewesen wäre, ihn mit dem Schoner zum Stützpunkt zurückzuschicken.»
Bolitho sah Herricks Wangenmuskeln arbeiten und wußte, gleich würde er sich die Unverschämtheit des Arztes verbitten. Wie den anderen Offizieren fiel es auch Herrick nicht leicht, seine Abneigung gegen Whitmarsh zu verbergen. Und der tat selbst wenig, um sich beliebter zu machen.
Ruhig erwiderte Bolitho:»Ich könnte schließlich nicht die Verantwortung für einen Gefangenen übernehmen, der nicht in meinem Gewahrsam ist, oder?»
Schweißtropfen bildeten sich auf der Stirn des Arztes. Hatte er so früh am Morgen schon getrunken? Ein Wunder, daß er sich noch nicht umgebracht hatte.
Oben hörte man taktmäßige Schritte und metallisches Klirren: die Marineinfanteristen traten zur Musterung an. Etwas gezwungen fügte Bolitho hinzu:»Sie müssen sich schon auf mein Urteil verlassen, Mr. Whitmarsh; ich rede Ihnen ja auch nicht drein.»
Der Arzt starrte ihn an.»Sie geben also zu: wenn Sie ihn nach Pendang Bay hätten schaffen lassen, wäre er gehängt worden?»
Ärgerlich warf Herrick ein:»Herrgott noch mal, Mann, schließlich ist der Kerl ein verdammter Pirat!»
Whitmarsh fixierte ihn böse. »Ihrer Meinung nach!»
Rasch erhob sich Bolitho und trat zum Fenster.»Nun bleiben Sie aber sachlich, Mr. Whitmarsh! Als gewöhnlicher Pirat würde er verurteilt und gehängt, wie Sie recht gut wissen. Aber falls er tatsächlich Muljadis Sohn ist, dann können wir ihn als Druckmittel benutzen. Hier steht mehr auf dem Spiel, sind mehr Menschenleben in Gefahr, als ich geglaubt habe. Da kann ich auf Ihre Privatgefühle keine Rücksicht nehmen.»
Whitmarsh hielt sich an der Tischkante fest und beugte sich vor.»Wenn Sie durchgemacht hätten, was ich… »
Bolitho wandte sich scharf zu ihm um.»Ich weiß Bescheid über die Sache mit Ihrem Bruder, und er tut mir aufrichtig leid. Aber wie viele Hochverräter und Mörder haben Sie schon hängen oder in Ketten verfaulen sehen, ohne auch nur einen Gedanken an sie zu wenden?«Er merkte, daß jemand oben an dem offenen Skylight stehen blieb, und senkte die Stimme.»Menschlichkeit bewundere ich. Aber Sentimentalität lehne ich ab. «Er beobachtete, wie die Wut in den Zügen des Arztes tiefem Schmerz wich.»Also geben Sie sich Mühe mit dem
Gefangenen«, fuhr er fort.»Wenn es ihm bestimmt ist, gehängt zu werden, kann ich es nicht verhindern. Aber wenn ich sein Leben zu unserem Vorteil nutzen kann und es ihm damit rette, dann um so besser.»
Unsicher wankte Whitmarsh zur Tür und sagte dumpf:»Und diesen Potter vom Schoner lassen Sie schon wieder Dienst machen!»
Jetzt lächelte Bolitho.»Sie sind aber wirklich hartnäckig, Mr. Whitmarsh! Potter hilft dem Segelmacher. Er wird sich schon nicht totarbeiten, und ich glaube, wenn er was zu tun hat, wird er sich schneller erholen als beim Brüten über seine Leiden.»
Etwas Unverständliches murmelnd, stelzte Whitmarsh steif aus der Tür.
«So eine Frechheit!«rief Herrick.»Den hätte ich an Ihrer Stelle mit einem Belegnagel Mores gelehrt!»
«Das bezweifele ich. «Bolitho schwenkte seinen Kaffeebecher, aber der war leer.»Doch er wird mich nie verstehen und noch weniger mir vertrauen.»
Dann ließ er sich von Noddall seine Galauniform und seinen besten Dreispitz bringen und kam sich ziemlich lächerlich vor, als der Steward ihn abbürstete und ihm Manschetten und Aufschläge zurechtzupfte.
«Ein böses Risiko gehen Sie da ein, Sir«, sagte Herrick unvermittelt.
«Aber eines, das sich nicht vermeiden läßt, Thomas. «Eben zog Noddall ein langes Haar von einem seiner Rockknöpfe. Ihr Haar. Ob Herrick das gesehen hatte?» Wir müssen dem französischen Kapitän trauen. Alles weitere ist bloße Spekulation.»
Noddall hatte den alten Degen vom Gestell genommen, aber er hängte ihn sich nur über den Arm — wußte er doch, daß er sein Leben riskierte, wenn er sich Alldays geheiligtes Ritual anmaßte.
Bolitho seinerseits dachte an Whitmarshs Zorn, der zum Teil nicht unbegründet war. Hätte er den Gefangenen ins Fort zurückgeschickt, wäre er von Puigserver bestimmt in Eisen gelegt worden, bis er ihn der nächsten spanischen Behörde übergeben konnte. Dort wäre er dann — falls er Glück hatte — ohne weitere Umstände gehängt worden. Wenn er kein Glück hatte… Nun, darüber dachte man am besten nicht nach. Der Sohn hätte für den Vater büßen müssen.
Wie es jetzt stand, mußten die Überlebenden der Schonerbesatzung, ein wüster Haufen, in Kürze ein rasches, unrühmliches Ende finden. Wieviele Menschen hatten sie auf dem Gewissen? Wieviele Schiffe hatten sie ausgeraubt, wieviele Besatzungen über die Klinge springen lassen oder zu menschlichen Wracks gemacht wie Potter, den Segelmacher aus Bristol? Da kamen sie vergleichsweise gut weg, wenn sie aufgeknüpft wurden.
Bolitho ging hinaus, noch immer tief in Gedanken über Recht und Unrecht bei Schnelljustiz.
An Deck war es frisch; die Tageshitze hatte noch nicht eingesetzt, und er machte, solange noch Zeit dazu war, einen kleinen Spaziergang an Luv. In dem schweren Galarock würde ihm bald der Schweiß ausbrechen, wenn er sich nicht im Schatten der vollen Segel hielt.
Fowlar tippte grüßend an die Stirn und fragte unsicher:»Darf ich Ihnen danken, Sir?»
«Sie haben es zweifellos verdient, Mr. Fowlar«, lächelte Bolitho. Er hatte den Steuermannsmaat zum Vizeleutnant befördert, um die Lücke zu füllen, die Davy an Bord hinterlassen hatte. Wäre der junge Keen mit ihnen gesegelt, hätte er das Glück gehabt. Nun würde Fowlars früheren Rang ein anderer bekommen. Für den würde wieder einer nachrücken, und so ging es immer weiter — wie auf allen Schiffen.
Herrick nahm Fowlar beiseite und wartete, bis Bolitho seinen Spaziergang wieder aufgenommen hatte.»Lassen Sie sich warnen: Sprechen Sie den Captain niemals an, wenn er seinen Spaziergang macht. «Er mußte über Fowlars Verwirrung lächeln.»Außer natürlich, wenn etwas wirklich Wichtiges vorliegt; aber Ihre Beförderung gehört nicht dazu. «Er klopfte ihm auf die Schulter.»Trotzdem — meine Gratulation!»
Bolitho hatte die beiden schon vergessen. Er hatte den dunklen Streifen Land gesehen, der gerade über der glitzernden Kimm auftauchte, und dachte darüber nach, was er dort wohl vorfinden würde. Aus der Entfernung sah es wie eine einzige weite Landmasse aus, aber er wußte, es war in Wirklichkeit eine Ansammlung kleiner Inseln, manche noch kleiner als die, vor der sie den Schoner aufgebracht hatten. Die Holländer hatten sie ursprünglich wegen ihrer günstigen Struktur und Lage okkupiert. Schiffe, die im Innern dieses Archipels ankerten, konnten bei jedem Wind nach jeder Richtung in See gehen und sich unter mehreren Passagen die kürzeste und beste aussuchen. Die Festung war zum Schutz vor Marodeuren gebaut worden, auch vor solchen wie dem, welcher jetzt selbst darin saß und jedem Staat, jeder Flagge Trotz bot. Die Holländer zählten die Benuas immer noch zu ihrem Besitz, aber wohl nur der Form halber; zweifellos waren sie froh, diesen Archipel mit seiner unheilvollen Geschichte los zu sein.
Unter der Back unterhielt sich der Segelmacher mit Potter. Ob der sich wohl jemals wieder richtig erholen würde? Es mochte ihm nicht leicht fallen, schon wieder so dicht bei Muljadis Festung zu sein. Aber außer dem Gefangenen war er der einzige, der gesehen hatte, was hinter den schützenden Riffen und Sandbänken lag.
Trotz seines schweren Rockes überlief Bolitho ein Schauer.
Wenn er nun seinen Gegner falsch eingeschätzt hatte? Dann konnte aus ihm ein zweiter Potter we rden, ein elendes, gebrochenes Wrack, so gut wie tot für seine Schwestern und alle seine Bekannten in England. Und Viola Raymond? Wie lange würde sie brauchen, um ihn zu vergessen?