Lincoln packte ihn beim Handgelenk und drehte es so, daß das Entermesser nicht mehr auf den Verwundeten gerichtet war.»Langsam, Alter! Sonst stellst du noch was an mit dem Ding.»
Irgendwie schien Lincolns gelassen-freundliche Stimme den Kleinen zu beruhigen. Er drehte sich um und blickte Bolitho ganz vernünftig an.»Mein Name ist Jonathan Potter, Sir, aus Bristol.»
Bolitho nickte.»Schön, Jonathan, du kannst mir nützlich sein. Deine Kameraden werden davon zwar nicht wieder lebendig, aber vielleicht können wir andere vor einem ähnlichen Schicksal bewahren. Allday, kümmern Sie sich um ihn!»
Er trat aus der Kajüte, dankbar für die frische Luft an Deck, für die Aktivität, mit der Davys Leute Vorbereitungen zum Segelsetzen trafen. Potter war sicherlich der einzige Engländer auf der portugiesischen Bark gewesen. Nur deswegen hatte Muljadi ihn! am Leben gelassen. Und ihn wie einen Sklaven gehalten, ihn so geschunden, daß er kaum noch einem Menschen glich. Das paßte nur zu dem, was er bisher über Muljadi gehört hatte.
Davy kam zu ihm herüber.»Ich bin soweit, daß wir Anker lichten können, Sir. «Er schwieg einen Moment, denn er merkte, daß Bolitho an etwas anderes dachte.»Dieser arme Teufel muß ja Schreckliches durchgemacht haben, Sir. Narben und Striemen von Kopf bis Fuß und nur noch Haut und Knochen.»
«Irgend etwas muß ihn am Leben erhalten haben, Mr. Davy. Angst vor dem Tod, Durst nach Rache, ich weiß nicht, was«, erwiderte Bolitho nachdenklich. Das Schiff krängte plötzlich in der Dünung, und er griff nach einem Stag.»Aber was es auch ist, ich werde es für unsere Zwecke nutzen.»
«Und der Kapitän des Schoners, Sir?»
«Wenn er wirklich Muljadis Sohn ist, dann haben wir einen guten Fang gemacht. Aber auf jeden Fall wünsche ich, daß er am Leben bleibt, also sagen Sie allen Leuten Bescheid. «Er dachte an das mörderische Glitzern in Carwithens Augen.»Aber wirklich allen!»
Er spähte querab zu der kleinen Insel hinüber, auf der so viel passiert war. Die gezackten Felsen lagen schon in tiefem Schatten.»Wir gehen gleich auf Südwestkurs, um Seeraum zu gewinnen. Gegen Sonnenaufgang müßten wir so weit sein, daß wir wenden und die Undine sichten können. «Er warf einen zufriedenen Blick auf die Männer, die geschäftig über Deck eilten.»Da haben wir eine hübsche kleine Prise aufgebracht.»
Überrascht starrte Davy erst Bolitho, dann den Schoner an; offenbar wurde ihm die Bedeutung erst jetzt richtig klar. Er nickte vergnügt.»Natürlich, Sir. Bestimmt ein schönes Stück Geld wert.»
Bolitho ging auf die andere Deckseite.»Dachte mir, daß Sie das interessieren würde, Mr. Davy. Aber jetzt schicken Sie Leute an das Gangspill und lassen Sie Anker lichten, solange der Wind sich hält. «Er mußte auch an Herrick denken.»Jedenfalls sind wir keine Bettler mehr.»
Verständnislos schüttelte Davy den Kopf. Dann sah er den Rudergänger an und die Ankercrew und grinste über das ganze Gesicht. Endlich eine Prise, und vielleicht die erste von vielen.
Noddall wartete schon in der Kajüte beim Eßtisch. Er nickte zufrieden, als Bolitho seinen geleerten Teller zur Seite schob.»So ist es schon besser, Sir! Der Mensch kann nur arbeiten, wenn er sich anständig sattgegessen hat.»
Bolitho lehnte sich behaglich im Stuhl zurück und ließ den Blick langsam in der Kajüte schweifen. Es war schön, wieder auf der Undine zu sein, besonders wenn man einen Erfolg seiner Mühen vorweisen konnte.
Die Laterne über dem Tisch warf schon einen blasseren Schein, und er sah durchs Heckfenster, daß die Morgenröte bereits einem wolkenlosen Tageshimmel gewichen war. Wie ein goldener Faden spannte sich die Kimm hinter der dicken, salzfleckigen Fensterscheibe.
Gestern hatte er fast um dieselbe Stunde mit dem gekaperten Schoner wieder die Undine erreicht; die Spannung und Anstrengung des blutigen Gefechts waren vorübergehend im Hurrageschrei der an der Reling stehenden Matrosen und
Seesoldaten untergegangen. Herrick war fast außer sich vor Freude gewesen und hatte darauf bestanden, daß Bolitho unverzüglich in seine Kajüte ging und sich erst einmal ausruhte.
Der Schoner war früher unter der Flagge der Holländischen Ostindischen Kompanie gefahren, doch ließ sich nicht sagen, wie lange er in den Händen der Piraten gewesen war. Nach dem Schmutz und der Unordnung zu urteilen, mußte es lange gewesen sein.
An Deck wurde Reinschiff gemacht: nackte Füße patschten, Wasser rauschte, die Pumpen quietschten. Bolitho ließ seinen Gedanken freien Lauf. Noddall hatte recht, das Frühstück hatte ihm gut geschmeckt: dünngeschnittener Schweinebauch, mit Zwiebackkrumen braungebraten, dazu starken Kaffee mit etwas Sirup darin.
Es klopfte, und Herrick trat ein. Er sah frisch und munter aus.»Der Wind weht stetig aus Südwest, Sir.»
«Gut, Thomas«, lächelte Bolitho.»Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.»
Es fiel Bolitho auf, daß sich Herrick jedesmal entspannte, wenn es galt, einen festen Plan auszuführen. Falls er wirklich ahnte, wie ungewiß dieser Plan noch im Kopf seines Kapitäns war, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
«Ich höre von Mr. Mudge, daß wir ungefähr zehn Knoten laufen, Sir. «Herrick nahm von Noddall einen Becher Kaffee entgegen.»Und er strahlt, als ob er ein Vermögen am Spieltisch gewonnen hätte«, fuhr er lächelnd fort.
Bolitho runzelte die Stirn.»Also sollten wir jederzeit Land sichten. Wenn der Wind gestern nicht so flau gewesen wäre, hätten wir jetzt schon da sein können. «Er reckte die Arme; welch angenehmes Gefühl an Brust und Rücken, wenn man ein frisches Hemd anhatte.»Aber es gab ja auch eine Menge zu tun.»
«Inzwischen hat Mr. Davy wohl schon den halben Weg zur Pendang Bay hinter sich.»
«Aye. Er wird sich wie ein Fregattenkapitän vorkommen, wenn ich mich nicht irre.»
Davy hatte von innen her gestrahlt, als Bolitho ihm das Kommando über den Schoner erteilt und ihn zu Conway geschickt hatte. Bolitho erinnerte sich an den Tag, als man ihm zum erstenmal das Kommando über eine Prise anvertraut hatte. Er war damals Leutnant gewesen und viel jünger als Davy. Wahrscheinlich hatte er ein ähnliches Gesicht gemacht. Es hieß immer, das erste selbständige Kommando wäre die wichtigste Phase der ganzen Karriere. Vielleicht würde es sich bei Davy ebenso wie bei ihm auswirken.
Er sah zum Skylight hoch, denn der Ausguck sang aus:»Deck ahoi! Land in Lee voraus!»
Bolitho lächelte, obwohl es ihm kalt den Rücken hinunterlief.»Wenn die Argus nicht hier ist, muß ich mir was Neues ausdenken.»
Die Tür öffnete sich, und Midshipman Armitage verkündete:»Mr. Soames läßt mit allem Respekt melden, Sir, daß der Ausguck Land in Lee voraus gesichtet hat.»
«Danke sehr, Mr. Armitage«, antwortete Bolitho.
Die umschatteten Augen des Jungen lagen tief in den Höhlen; seine Finger zuckten nervös an der geflickten Kniehose. Zum Unterschied von den anderen, die mit dabei gewesen waren, konnte er seine Gefühle nicht verbergen. Er hatte Angst und wußte, daß er sie nicht bezwingen konnte.
«Mein Kompliment an Mr. Soames«, sagte Bolitho,»und bestellen Sie ihm: in einer halben Stunde Geschützexerzieren für beide Wachen. «Nach kurzem Zögern fuhr er fort.»Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, sollten Sie es vielleicht jetzt dem Ersten Leutnant anvertrauen — oder auch mir, wenn Sie meinen, wir könnten Ihnen helfen.»
Armitage schüttelte den Kopf.»Nein, Sir, es geht schon wieder. «Er verschwand eilends.
«Was machen wir bloß mit ihm?«fragte Bolitho leise und sah seinen Freund an.
Der Leutnant hob die Schultern.»Man kann nicht jeden bei der Hand nehmen, Sir. Er wird schon darüber hinwegkommen. Schließlich haben wir uns alle einmal durchbeißen müssen.»
«Aber Thomas, das sieht Ihnen gar nicht ähnlich«, erwiderte Bolitho lächelnd.»Geben Sie doch zu, daß Sie sich um den Bengel Sorgen machen.»
«Na ja«, räumte Herrick etwas verlegen ein,»ich habe schon überlegt, ob ich mal mit ihm reden soll.»