Im bleichen Glanz des Morgens flössen Himmel und Meer zu milchigem Dunst zusammen. Schwerfällig schob sich das überladene Langboot aus den Bäumen und kleinen Stranden heraus, die den Meeresarm zu beiden Seiten säumten. Bolitho hielt scharf Ausschau nach irgendwelchen Zeichen von Leben, die auf einen Hinterhalt deuteten. Hoch oben segelten ein paar Vögel, und weit draußen, vor den letzten, winzigen Landfetzen, sah er die offene See, seltsam farblos im Morgenlicht. Dann musterte er die Männer im Boot. Die kurze Ruhepause schien ihnen wenig genützt zu haben. Müde und verängstigt sahen sie aus, ihre Kleidung starrte vor Schmutz und getrocknetem Blut, die Gesichter waren hohl und stoppelig. Man konnte sich kaum vorstellen, daß sie zu einem Schiff des Königs gehörten.
Soames stand aufrecht neben Allday und spähte voraus, überwachte die Männer, die das eingesickerte Wasser ausschöpften, und sah zwischendurch nach dem verwundeten Matrosen — seine Augen waren überall. Ganz vorn auf dem Steven hockte Keen, die nackten Füße im Wasser, zusammengesunken wie unter einer schweren Last, und beobachtete das nächstliegende Ufer.
Die erste Dünung rollte in die Bucht; das Boot hob und senkte sich in den Wellen. Ein paar Leute stöhnten erschrocken auf, aber die meisten starrten stumpf vor sich hin; ihnen war längst alles gleich.»Wenn wir im offenen Wasser sind«, sagte Bolitho,»drehen wir nach Backbord ab. So treffen wir am schnellsten auf die Boote der Undine.»
Soames blickte kurz zu ihm herüber.»Kann Stunden dauern. Bis dahin wird es so heiß wie in einem verdammten Ofen.»
Bolitho tastete unwillkürlich nach seiner Uhr und stöhnte schmerzlich auf, als seine Finger die Prellung auf dem Oberschenkel berührten. Schließlich hatte er die Uhr herausgezogen: die abgeprallte Kugel hatte Deckel und Werk völlig zerschlagen, doch ohne die Uhr wäre er jetzt wahrscheinlich dem Tode nahe oder bestenfalls Gefangener an Bord der Brigantine.
«Die ist hin, Sir«, bemerkte Soames gelassen. Bolitho nickte und erinnerte sich daran, wie seine Mutter sie ihm geschenkt hatte. Er war gerade Leutnant geworden. Die Uhr hatte ihm sehr viel bedeutet, nicht zuletzt deswegen, weil sie ihn an seine Mutter erinnerte, an ihre Sanftheit und die Seelenstärke, mit der sie es getragen hatte, Mann und Söhne an die See zu verlieren.
Ein paar Stimmen protestierten laut, weil das Boot stark krängte, und Bolitho sah, daß Keen von seinem exponierten Platz ins Bootsinnere zurückkletterte.»Da, Sir! Steuerbord voraus!«schrie er, das Gesicht vor Schreck verzerrt.
Bolitho stand auf, stützte sich mit einer Hand auf Alldays Schulter und starrte auf die beiden langen, flachen Gebilde, die eben die äußerste Spitze des Landes rundeten: Boote. Unter perfektem Gleichschlag der langen Paddel glitten sie ziemlich schnell dahin, genau auf den Eingang der Bucht zu.
«Kriegskanus«, sagte Fowlar heiser.»Ich kenne sie von früher. Die kommen noch näher ran, wenn ich mich nicht irre. «Er zog seine Pistole aus dem Gürtel und suchte nach dem Pulverhorn.
Mit zusammengekniffenen Augen spähte Soames nach den beiden Kanus aus. Sein Gesicht war maskenstarr.»Gott verdamm' mich, in jedem sind mindestens dreißig Mann!»
«Die tun uns nichts, das wäre nicht fair! Wir sind doch keine Sklavenjäger!«schrie ein Matrose angstvoll auf.
«Still, der Mann da!«Fowlar spannte die Pistole und legte den Lauf auf den Unterarm.»Für die sind alle Weißen gleich, also halt die Schnauze!»
«Tempo zulegen!«befahl Bolitho.»Vielleicht kommen wir vorbei.»
«Wenn Sie meinen, Captain?«sagte Allday und gab den Ruderern einen schnelleren Rhythmus an.
«Achteraus, Sir!«rief ein anderer Matrose.»Ich sehe die Marssegel der Brigantine. «Vorsichtig, um die Ruderer nicht aus dem Takt zu bringen, drehte Bolitho sich um. Der Mann hatte sich nicht geirrt. Weit hinter ihnen glitt ein schlaffes Segel im Schneckentempo über einer Reihe niedriger Baumwipfel dahin. Das Sklavenschiff mußte schon vor Sonnenaufgang Anker gelichtet haben. Das leblose Tuch verriet Bolitho, daß die Brigantine von Booten geschleppt wurde. Aber war sie erst einmal in offenem Wasser, würde sie auch bald entkommen sein. Und dort kamen die Kanus näher. Zum Unterschied von den Sklavenjägern saßen er und seine Männer hier fest und würden sterben — wenn sie Glück hatten.
«Was können wir schon tun, Sir?«fragte Soames.»Diese Kanus sind schneller als wir, und zum Nahkampf lassen sie uns gar nicht erst dicht genug heran. «Nervös spielte er mit seinem Säbelgriff; zum erstenmal verriet er Angst.
«Stellen Sie fest, was wir an Waffen, Pulver und Munition haben«, erwiderte Bolitho.
Viel konnte nicht mehr übrig sein nach der planlosen Schießerei an Land, zumal sein eigenes Enterkommando ja auch die Waffen an Bord der Brigantine gelassen hatte.
Fowlar meldete:»Reicht kaum für einen Schuß pro Mann,
Sir.»
«Na schön. Die zwei besten Schützen nach achtern! Und geben Sie ihnen alles Pulver, das wir haben. «Etwas leiser sagte er zu Soames:»Vielleicht können wir sie in Schach halten, bis unsere Boote eintreffen.»
Die Kanus hatten gestoppt; unter dem Rückwärtsdruck der glitzernden Paddel lauerten sie wie zwei Hechte bewegungslos im Wasser. Bolitho hätte sein Fernrohr gebraucht — aber das lag irgendwo im Dschungel. Dennoch konnte er die Eingeborenen recht deutlich erkennen: die tief schwarzen Leiber waren über die Paddel gebeugt, um auf Befehl sofort loszurudern. Im Heck saß jeweils ein großer Mann mit buntem Kopfschmuck, den Körper von einem ovalen Schild gedeckt. Bolitho dachte an die Sklaven in der Lichtung, an das Mädchen, das an Deck der Brigantine erschlagen worden war. Von diesen Negern, die stumm das Boot beobachteten, konnte kein Weißer Gnade erwarten. Nur Blut würde sie befriedigen.
Die Weißen ruderten immer näher, bis nur noch eine halbe Kabellänge sie von den Eingeborenen trennte. Bolitho blickte sich nach den beiden Scharfschützen in der Achterplicht um. Fowlar war der eine, der andere ein Matrose mit zernarbtem Gesicht. Das Häufchen Pulver und Kugeln wirkte zwischen den beiden Männern noch winziger als vorher.
«Abfallen nach Steuerbord, Allday!«Bolitho war selbst überrascht, wie ruhig seine Stimme klang.»Sie müssen jetzt bald reagieren.»
Als sich das Langboot schwerfällig zur Mitte der Einmündung wandte, kam Leben in die beiden Kanus; schwungvoll fuhren die Paddel ins Wasser, plötzlich vibrierte die Luft von Trommelschlag, und im vordersten Kanu stieß der Anführer einen schrillen Kriegsruf aus.
Bolitho fühlte, wie auch ihr Boot unter ihm vorwärts schoß, sah den Schweiß auf den Gesichtern seiner Rudergasten und die Angst, mit der sie den herangleitenden Kanus entgegenblickten.
«Achtung!«brüllte er,»Schlag halten! Augen binnenbords!»
Etwas schlug spritzend längsseits auf — ein schwerer Stein zweifellos; und jetzt prasselte eine ganze Salve wie Hagel auf Schultern und Rücken der zusammenzuckenden Matrosen. Einige wurden am Kopf getroffen und sanken bewußtlos zusammen. Die Ruderer kamen aus dem Takt; ein Riemen fiel ins Wasser und trieb ab.
«Feuer!«befahl Bolitho.
Fowlar drückte ab und fluchte, weil er vorbeigeschossen hatte. Dann knallte die andere Muskete. Drüben schrie ein Neger auf und stürzte ins Wasser.
«Lenzen!«brüllte Soames. Er feuerte und grunzte befriedigt, als wieder ein Schwarzer ins Wasser stürzte.
Die Kanus trennten sich jetzt. Jedes schlug einen weiten Bogen, so daß sie etwas achterlicher zu beiden Seiten des Langbootes aufkamen, das damit völlig von den Ufern der Bucht abgeschnitten war. Vor ihnen lag die offene See, leer und lockend wie zum Hohn.
Wieder schoß Fowlar, und diesmal hatte er mehr Glück: er traf den Mann mit dem Kopfschmuck, der offensichtlich den Takt angab.
Die Matrosen pullten so angestrengt oder spähten angstvoll nach vorn, daß kaum einer die eigentliche Gefahr bemerkte, bis es fast zu spät war.