Bolitho zuckte zusammen: ein Kanonenschuß krachte, aus der Bordwand der Brigantine schoß eine lange, gelbrote Flamme wie eine giftige Zunge. Die Kugel zischte über das Heck des Bootes hinweg und grub sich in den Sand.
«Ruhe!«rief Bolitho.»Und Schlag halten!«Denn unsauberes Rudern hätte zuviel Gischt aufgeworfen, dann mußte das Boot ein besseres Ziel bieten.
«Einer ist eben gestorben«, flüsterte Keen heiser.»Hodges,
Sir.»
«Werft ihn ins Wasser! Aber die Trimmung ausgleichen, das Boot muß ruhig liegen!«Armer Hodges, er würde nie mehr über die Marschen von Norfolk streifen, nie wieder den Anhauch der Nordsee auf seinem Gesicht spüren oder einem Flug Enten nachschauen. Ärgerlich schüttelte sich Bolitho — was war mit ihm los? Der Leichnam glitt über den Bootsrand, und der Ruderer, der dazu Platz gemacht hatte, rutschte wieder an die Ducht.
«Sie haben das Feuer eingestellt«, bemerkte Soames.»Lecken sich wahrscheinlich ihre Wunden, genau wie wir.»
Wieder fühlte Bolitho Bitterkeit in sich aufsteigen. Der Sklavenfänger hatte eine Anzahl Männer verloren, gewiß. Aber er hatte immer noch genügend Neger an Bord, so daß sich seine Reise auch ohne die an der Lagerstelle lohnte. Während er, Bolitho… Er versuchte, nicht an ihren Mißerfolg zu denken. Seine Männer waren vermutlich deswegen zurückgewichen, weil sie das Vertrauen zu ihm verloren hatten. Und wer die Nervion angegriffen hatte, blieb immer noch ein Rätsel. Die
Besatzung eines Sklavenschiffes bestand gewöhnlich aus dem Abschaum vieler Häfen und Länder. Vielleicht hatte Davy tatsächlich recht gehabt, und er hätte die Brigantine überhaupt in Ruhe lassen sollen. Der Kopf tat ihm genauso weh wie die Prellung an seinem Oberschenkel. Er konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen.
Fowlar sagte:»Mr. Mudge hat es mir erklärt, Sir. Morgen muß die Undine sich weit vom Land klarhalten, wegen der Sandbänke hier herum. Der Sklavenkapitän kennt wahrscheinlich eine bessere Durchfahrt, aber… «Er sprach nicht zu Ende.
«Ja. «Bolitho sah ein paar überhängende Bäume sich wie eine halbzerstörte Brücke übers Wasser recken.»Wir machen hier fest. Lassen Sie die Männer rasten und verteilen Sie, was noch an Wasser und Verpflegung vorhanden ist.»
Niemand antwortete. Manche schienen im Sitzen zu schlafen und blieben unbeweglich hocken, wie Bündel alter Lumpen.
Bolitho versuchte, nicht an die Brigantine zu denken. Hätte er sie nicht angegriffen, so wüßte ihr Kapitän gar nicht, daß die Undine in der Nähe lag. Offenbar hatte man die Fregatte nicht gesichtet und wußte auch nicht, wer der Angreifer gewesen war. Es war schließlich nichts Ungewöhnliches, daß ein Sklavenhändler dem anderen die Beute abzujagen versuchte. Aber wegen seiner, Bolithos, Dickköpfigkeit würde der Sklavenkapitän jetzt die Undine erkennen, sobald er die freie See gewann. Die Undine durfte sich nicht zu nahe heranwagen, und eine lange Verfolgungsjagd hatte auch keinen Zweck. Somit wußte der Kapitän, falls er an der Verzögerung von Puigservers Mission beteiligt war, jetzt zumindest, daß die Undine unterwegs war.
Bolitho preßte die Finger um den Degengriff, bis der Schmerz ihn zur Besinnung brachte. Wäre Rojart nicht gewesen, hätte es geklappt. Wie viele Schlachten waren schon verlorengegangen, bloß weil ein einzelner einen dummen Fehler beging? Armer Rojart… Das Schiff, das seine Nervion zugrunde gerichtet hatte, war das letzte gewesen, was er auf Erden gesehen hatte. Dann hatten sie ihn genauso brutal umgebracht.
«Eine kleine Bucht an Backbord, Captain! Sieht ziemlich sicher aus. «Allday starrte auf Bolithos gebeugte Schultern. Er empfand die Verzweiflung seines Kapitäns wie seine eigene.
«Steuern Sie sie an, Allday!«befahl Bolitho. Er schob seine Gedanken mit fast physischer Anstrengung beiseite.»Drei
Wachen zu je zwei Stunden. «Er setzte nochmals an.»Posten aufstellen und scharf aufpassen!»
Ein Mann sprang über das Dollbord und watete durch das flache Wasser, den Festmacher wie ein Zuggeschirr über der müden Schulter. Das Boot stieß auf harten Sand. Durch die Strömung und die plötzlich Gewichtsverlagerung beim Hinausklettern der Männer neigte es sich wie trunken zur Seite.
Bolitho hörte Soames die erste Wache einteilen. Ob der wohl Bedenken gehabt hätte, wenn er das Enterkommando befehligt hätte? Vermutlich nicht. Soames hätte getan, was er für richtig hielt, ungeachtet der hilflosen Sklaven, und hätte die Brigantine versenkt oder Feuer an das Pulvermagazin gelegt. Bei diesem Klima wäre die Brigantine innerhalb weniger Minuten ausgebrannt, die Sklavenfänger wären hilflos gewesen und hätten später leicht überwältigt werden können. Dagegen hatte er, Bolitho, überhaupt nichts erreicht und obendrein fast ein Drittel seiner Mannschaft verloren, weil er die Sklaven nicht hatte opfern wollen.
Allday kam mit einer Wasserflasche.»Hab das Boot gesichert, Captain. «Er gähnte gewaltig.»Ich hoffe bloß, wir müssen nicht zu weit landeinwärts. «Und nach einer kleinen Pause:»Lassen Sie sich nicht unterkriegen, es ist eben nicht zu ändern. Wir haben doch schon viel Schlimmeres gesehen und erlebt. Ich weiß, manche unserer Leute sind weggelaufen, statt zu kämpfen, als sie am nötigsten gebraucht wurden. Aber es sind eben andere Zeiten — viele denken das jedenfalls.»
Bolitho sah ihn stumpf an, konnte aber seine Gesichtszüge nicht erkennen.»Wie meinen Sie das?»
Allday hob die Schultern.»Sie sehen nicht ein, daß sie sich wegen ein paar Sklaven totschlagen lassen sollen — oder wegen eines Schiffes, von dem sie nichts wissen. An Bord der alten Phalarope war das anders, verstehen Sie? Da hatten sie eine Flagge, der man folgen konnte, einen Feind, den man sah.»
Bolitho lehnte sich gegen einen Baum, schloß die Augen und lauschte, wie der Dschungel zur Nacht lebendig wurde, quiekend, brüllend, grunzend, raschelnd.»Sie meinen, es war ihnen egal?«fragte er.
Allday grinste.»Wenn wir einen richtigen Krieg hätten, so einen wie den letzten, dann würden wir verdammt schnell ganze Kerls aus ihnen machen.»
«Das heißt also, wenn sie nicht persönlich bedroht sind, fällt es ihnen gar nicht ein, für diese Unglücklichen zu kämpfen?»
Bolitho öffnete die Augen wieder und studierte die Sterne.»Ich fürchte, bevor die Reise zu Ende ist, werden einige von ihnen anders darüber denken.»
Aber Allday war schon eingeschlafen. Das Entermesser lag über seiner Brust wie die Grabbeigabe eines Ritters.
Leise erhob sich Bolitho und ging zum Boot, um nachzusehen, wie der Verwundete versorgt war. Der Widerschein der Sterne glitzerte auf dem trägen Wasser. Zu seinem eigenen Erstaunen war er schon nicht mehr ganz so verzweifelt.
Er blickte zum Waldrand zurück, aber Allday war in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Es war ihm mit Allday schon oft so ergangen: Der Mann schien, absichtlich oder zufällig, in seiner offenen, einfachen Art jedesmal den springenden Punkt zu treffen. Nicht daß er irgendeine Patentlösung anbot, aber man gewann Abstand, und die Dinge rückten in ihre richtige Perspektive.
Der Verwundete lag in tiefem Schlaf. Kalkweiß hob sich sein Verband von den schwarzen Bootsplanken ab. Keen fuhr hoch, als Bolitho hinzutrat.»Entschuldigung, Sir. Ich habe Sie nicht kommen sehen.»
«Bleiben Sie ruhig liegen, Mr. Keen«, erwiderte Bolitho.»Wir haben es ja jetzt gemütlich für die Nacht.»
Als Bolitho gegangen war, trat Fowlar, der sich in der See Gesicht und Hände gewaschen hatte, zum Boot und sagte bewundernd:»Das ist 'n Mann, was? Der jammert und jault nicht, wenn's mal schiefgeht.»
Keen nickte.»Ich weiß. Eines Tages werde ich hoffentlich so wie er.»
Fowlar lachte laut auf, und vom Wald her antworteten die Schreie aufgestörter Vögel.»Ach du lieber Gott, Mr. Keen, da würde er sich aber geschmeichelt fühlen, wenn er das wüßte!»
Keen wandte sich wieder dem Verwundeten zu. Leise, aber heftig murmelte er:»Trotzdem ist es so — basta!»