Aber dann starben dicht nacheinander die letzten schwerverletzten Spanier, und das drückte stark auf die allgemeine Stimmung. Whitmarsh hatte getan, was er konnte, hatte mehrere Amputationen ausgeführt, und bei den Schmerzensschreien der Unglücklichen schwand Bolithos kurze Befriedigung darüber, daß es ihm gelungen war, seine Mannschaft zusammenzuschweißen. Der Todeskampf des letzten Spaniers hatte tagelang gedauert. Beinahe einen Monat hatte er sich quälen müssen, schluchzend und stöhnend, oder auch friedlich schlafend, während Whitmarsh stundenlang bei ihm wachte. Es war, ais wolle der Arzt seine Kräfte erproben, als erwarte er, daß wieder etwas in ihm zerbräche. Die letzten Opfer unter seinen Patienten waren jene gewesen, die von den Haien besonders schlimm zerfleischt worden waren oder so schwere Brüche und Quetschungen erlitten hatten, daß auch eine Amputation sie nicht mehr retten konnte. Wundbrand hatte bei ihnen eingesetzt, und durch das ganze Schiff zog ein so furchtbarer Gestank, daß selbst die Mitleidigsten für einen baldigen Tod der Ärmsten beteten.
Unterhalb des Achterdecks wurde eben die Nachmittagswache gemustert, während Leutnant Davy achtern darauf wartete, daß Soames seinen Bericht im Logbuch unterzeichnete. Selbst Davy sah erschöpft und leicht schmuddelig aus, sein gutgeschnittenes Gesicht war in den langen Dienststunden so tief gebräunt, daß er einem Spanier glich.
Alle mieden Bolithos Blick. Als ob sie Angst vor ihm hätten oder ihre ganze Energie brauchten, um auch nur einen weiteren Tag hinter sich zu bringen.
«Wache achtern angetreten«, meldete Davy.
Soames funkelte ihn böse an.»Bißchen spät, Mr. Davy.»
Aber Davy warf ihm nur einen angewiderten Blick zu und wandte sich an den Steuermannsmaaten.»Rudergasten ablösen!»
Wütend stapfte Soames zum Niedergang und verschwand unter Deck.
Bolitho preßte die Hände hinterm Rücken zusammen und machte ein paar Schritte vom Mast weg. Das einzig Gute war der Wind. Tags zuvor, als sie beim Kreuzen auf Ostkurs gegangen waren und der Ausguck weit querab Land in Sicht gemeldet hatte, machte sich der Westpassat bemerkbar. Bolitho beschattete die Augen mit der Hand, blickte nach oben und sah, wie der Wind ungeduldig und kraftvoll in jedes Segel drückte und die Großrah unter dem Druck vibrierte wie eine gigantische Armbrust. Dieser verschwommene Fleck Land war Cap Agulhas[10] gewesen, die südlichste Spitze des afrikanischen Kontinents. Nun dehnte sich vor dem Wirrwarr der Wanten und Schoten die blaue Leere des Indischen Ozeans; und ebenso wie viele seiner neuen Matrosen stolz darauf waren, daß sie den Äquator überquert hatten, konnte er sich mit einigem Stolz vor Augen halten, was sie alle zusammen geleistet hatten, um überhaupt so weit zu kommen. Seiner Vorausberechnung nach hatte das Kap der Guten Hoffnung etwa die Hälfte ihres Weges bezeichnen sollen, und bis jetzt schien seine Rechnung zu stimmen. Meile um Meile, einen sonnendurchglühten Tag nach dem anderen, auf wilder Fahrt in brausenden Stürmen oder mit reglosen Segeln in den Kalmen, hatte er auf jede Weise versucht, seine Leute bei Laune zu halten. Als das nicht mehr wirkte, hatte er den täglichen Dienst verschärft, Geschütz- und Segeldrill befohlen und für die wachfreie Mannschaft allerlei
Wettbewerbe veranstaltet.
Der Zahlmeister und sein Gehilfe standen bei einem Faß Pökelfleisch, das soeben aus dem vorderen Laderaum hochgehievt worden war. Midshipman Keen stand daneben und versuchte so auszusehen, als verstünde er etwas davon, während Triphook das Faß öffnete und jedes einzelne Vierpfundstück Schweinefleisch prüfte, bevor er es für die Kombüse freigab. Keen, der voll jugendlicher Würde als Midshipman der Wache bei solchen Gelegenheiten den Kapitän vertrat, hielt das vermutlich für Zeitverschwendung. Aber Bolitho wußte aus Erfahrung, daß dem keineswegs so war. Manche Schiffsausrüster waren für ihre unredlichen Praktiken bekannt; sie wogen zu knapp oder packten unten in die Fässer verdorbenes Fleisch hinein, manchmal sogar Fetzen von altem Segeltuch. Denn sie wußten: wenn der Schiffszahlmeister den Betrug entdeckte, war er weit weg und konnte sich nicht beschweren. Auch die Zahlmeister selbst wirtschafteten manchmal in die eigene Tasche, indem sie mit ihren Partnern an Land allerlei krumme Geschäfte machten.
Bolitho sah, wie der hagere Zahlmeister kummervoll nickte, seine Liste abhakte — offenbar war alles in Ordnung — , und dann der kleinen Prozession zur Kombüse folgte; seine Schuhsohlen quietschten, weil sie an dem heißen Pech der Decksnähte hängenblieben. Die Hitze, die erbarmungslose Eintönigkeit waren schon schlimm genug; aber Bolitho wußte: eine Andeutung von Korruption, der kleinste Verdacht, daß die Mannschaft von ihren Offizieren betrogen wurde — und die ganze Crew explodierte. Er hatte sich immer wieder gefragt, ob er nicht zu oft an seine letzte Reise dachte. Schon das bloße Wort Meuterei füllte das Herz manchen Kapitäns mit Furcht, besonders wenn er nicht im Geschwaderverband, sondern ganz allein segelte. Bolitho tat ein paar Schritte an der Reling und verzog das Gesicht, als seine Hand gegen das Schanzkleid stieß. Das Holz war knochentrocken, die Farbe blätterte trotz regelmäßiger Pflege ab. Er blieb einen Moment stehen und beschattete seine Augen, um einen großen Fisch zu beobachten, der weit voraus hochsprang. Wasser. Darum machte er sich die meisten Sorgen. Bei den vielen neuen Leuten und dem unvorhergesehenen zusätzlichen Verbrauch für die Pflege der Kranken und Verwundeten würde das kostbare Trinkwasser selbst bei strenger Rationierung bald knapp werden.
Er sah zwei schwarze Matrosen sich auf dem BackbordDecksgang ausstrecken; wirklich eine gemischte Mannschaft. Schon bei der Ausreise von Spithead war sie bunt gewesen, aber seit die überlebenden Spanier dazugekommen waren, hatte sich die Zahl der verschiedenen Hautfarben noch erhöht. Außer dem Leutnant Rojart, der stets melancholisch dreinblickte, bestand die überlebende Crew des Spaniers aus zehn Matrosen, zwei Schiffsjungen und fünf Soldaten. Diese letzteren, so froh sie zuerst gewesen waren, daß sie überhaupt noch lebten, waren jetzt mit ihrem neuen Status offensichtlich unzufrieden. Sie hatten an Bord der Nervion zu Puigservers Leibwache gehört; jetzt waren sie weder Fisch noch Fleisch, und während sie sich als Matrosen versuchten, schielten sie mit einer Mischung von Neid und Verachtung nach den schwitzenden Marineinfanteristen der Undine.
Herrick unterbrach seine trüben Gedanken mit der Meldung:»Mein Besteck und das des Steuermanns stimmen überein. «Er hielt Bolitho seine Schreibtafel hin.»Wenn Sie kontrollieren wollen, Sir?«Sein Ton war ungewöhnlich zurückhaltend.
Mudge schlurfte in den Schatten der Finknetze und sagte:»Wenn Sie über Stag gehen wollen, Sir, dann können wir das ebensogut jetzt tun. «Er zog sein Taschentuch hervor und schnaubte sich heftig die Nase.
Herrick warf eilig dazwischen:»Ich möchte einen Vorschlag machen, Sir.»
Mudge trat beiseite und nahm geduldig beim Rudergänger Aufstellung. Es war schwer zu sagen, ob Herricks Vorschlag auf einem spontanen Einfall beruhte, oder ob er ihn mit den anderen abgesprochen hatte.»Es hat einige überrascht, Sir«, begann er,»daß Sie Cape Town nicht angelaufen haben. «Seine Augen leuchteten blauer denn je in der hellen Sonne.»Wir hätten die Kranken an Land bringen und Trinkwasser überne hmen können. Ich bezweifle, daß der holländische Gouverneur sich groß darum gekümmert hätte, was wir vorhaben.»
«Tatsächlich, Mr. Herrick?»
Von der Kombüse stieg eine mattgraue Rauchwolke auf. Bald würde die Freiwache in der brütenden Hitze des Mannschaftslogis' ihr Mittagessen bekommen, Skillygolee, wie sie es nannten: eine Mischung aus Roggenschleim, zerklopftem Schiffszwieback und Fleischresten vom Vortag; dazu eine volle Ration Bier zum Hinunterspülen.