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Die gesellschaftliche Entwickelung ist ohne republikanische Form unmöglich, es ist also immer ein großer Schritt gewonnen, wenn diese erlangt ist. Es ist aber sonderbar, wenn man dann stehenbleibt, ebenso sonderbar, als hartnäckig am Protestantismus festzuhalten, nachdem man sich einmal vom Katholizismus losgemacht, oder bei der Geldherrschaft stehenzubleiben, nachdem man einmal die feudale Leibeigenschaft abgeschafft hat. Glauben Sie nicht, daß ich hier den Reformatoren und Revolutionären vergangener Zeiten undankbare Vorwürfe machen will, nicht im mindesten; nein, ich mache hier nur den Pseudo-Revolutionären der Gegenwart einen Vorwurf. Im Jahre 1789 war das bloße Wort Republik schon ein unermeßlicher Fortschritt, die Republik war die frohe Botschaft, welche der Menschheit die Revolution ankündigte, die Republik erhob sich am leuchtenden und sonnigen Horizonte, sie erschien, wie einst den Christen das Reich Gottes, als die Erfüllung aller menschlichen Wünsche, sie war die Religion, die revolutionäre Idee ihrer Zeit. Weder das von den Aposteln geträumte Reich Gottes, noch die von den Jakobinern geträumte Republik konnten sich verwirklichen, und der fanatische Glaube an diese Verwirklichung hat ihre Macht und Majestät geschaffen. Die Ereignisse sind nur dann groß, wenn sie mit denhöchsten Bestrebungen ihrer Zeit zusammenfallen; die Menschen werfen sich dann mit ihrer ganzen Kraft und Energie auf die Vollendung des Werkes, ihre Tätigkeit reibt sie auf, begeistert sie, sie vergessen alles, was jenseits der Sphäre liegt, die sie fortgerissen hat. Mögen wir auch zum zwanzigsten Mal die Ereignisse der ersten Revolution lesen, immer wieder klopft unser Herz, und immer wieder ist unsere Seele bewegt, wir stehen unter der Gewalt dieser düstern, männlichen und tatkräftigen Größe. Darum prägen sich dem Gedächtnisse eines jeden von uns auf immer die Namen dieser riesigen Individualitäten, diese plastischen Ereignisse, selbst die Worte ein, welche von diesen Männern ausgesprochen wurden, die Antwort von Mirabeau, die Einnahme der Bastille, der 10. August, Danton, Robespierre, der 21. Januar und alle diese Riesen des bürgerlichen und kriegerischen Mutes. Und zu gleicher Zeit fangen wir an, die kurzsichtigen Schwächlinge zu vergessen, welche sich am 24. Februar in den Vordergrund zu drängen wagten, die Löwen der provisorischen Regierung und der Konstituante. Diese Menschen schritten langsam vor, sie erschraken vor den Konsequenzen, sie waren von einem unruhigen Vorgefühl durchzittert, sie sahen, daß noch etwas anderes am Himmel aufstieg, sie begriffen aber dies Etwas nicht und wollten es aufhalten, sie wollten dem Rad der Geschichte den Hemmschuh anlegen. Diese Menschen von so wenig Glauben waren unserer Zeit gegenüber keine Revolutionäre, und sie haben die Revolution zugrunde gerichtet, sowohl Louis Blanc der sozialistische, als Lamartine, der politische Dilettant.

«Alle Welt hält Louis Blanc für einen Ultrasozialisten, und Sie behaupten, daß er nur Dilettant sei? Die Sozialisten verständigen sich über nichts, der Grund davon ist einfach der, daß der Sozialismus nie bestimmt und klar seine Prinzipien aufgestellt und keine festgesetzten Dogmen hat; er ist aus einem Dutzend vagen, sich widersprechenden Doktrinen zusammengesetzt». Aber wissen Sie wohl, welche Lehren sich so gut formulieren und in dem stillen Zimmer ausarbeiten? Das sind die Maximen, die Lehren, die sich nie verwirklichen, das ist die platonische Republik, die Morische Atlantis, das christliche Reich Gottes. Doch ich irre, das Reich Gottes war schon viel unbestimmter und die Entwickelung des Christentums liefert uns ein herrliches Beispiel für die Art und Weise, wie sich die sozialen Umwandlungen verwirklichen. War vielleicht die Organisation der Kirche und der katholischen Welt im Evangelium vorbereitet? Keineswegs, das Evangelium war nur eine hohe Abstraktion und eine Negation der bestehenden, vielleicht noch höhern Ordnung; erst nach einem vierhundertjährigen Kampfe gelangten die Christen dazu, sich auf dem Konzil zu Nicäa zu verständigen. Die großen Revolutionen werden nie nach einem im voraus fix und fertigen Programme durchgeführt. Das ist das Bewußtsein dessen, was man nicht will. Der Kampf ist die wahre Geburt der gesellschaftlichen Wiedergeburten; durch den Kampf und den Vergleich werden die allgemeinen und abstrakten Ideen, die unklaren Bestrebungen zu Einrichtungen, Gesetzen und Sitten. Die Embryogenie alles Lebenden ist lang und verwickelt, der Fötus geht durch verschiedene ungestalte und befremdende Zustände, seine Entwickelung ist keine abstrakte Wissenschaft, sondern Wirklichkeit, die Entwickelung eines Samenkornes und eine beständ ge Vermittlung mit den Gegensätzen. Als der Sozialismus noch ärmer an Inhalt, allgemeiner und seiner Wiege noch näher war, formulierte er sich mit viel größerer Leichtigkeit und erschien unter einer religiösen Form, in welcher jede große Idee in ihrer Kindheit auftritt; er hatte damals seine Gläubigen, seine Fanatiker, seine äußeren Zeichen – das war der St. Simonismus. Der Sozialismus erschien darauf in der Gestalt einer rationellen Doktrin, das war seine Periode der Metaphysik und abstrakten Wissenschaft, er konstruierte die Gesellschaft a priori, er machte eine soziale Аlgebra, psychologische Berechnungen, schuf für alles Rahmen, formulierte alles, und überließ nichts mehr der Entdeckung der künft<i>gen Menschen, denen er die Einreihung in ein Phantasterium anwies. Bald kam die Zeit, wo der Sozialismus in die Massen herabstieg und als Leidenschaft, als Rache, als wilde Protestation, als Nemesis erschien. Kaum hörten die Arbeiter, welche die himmelschreiende Ungerechtigkeit der bestehenden Unordnung niederdrückte, von ferne die Worte der Sympathie, kaum sahen sie die Mörgenröte des ihnen Erlösung verheißenden Tages, so übersetzten sie die sozialen Lehren in eine andere, viel rohere Sprache, sie machten den Kommunismus daraus, die Lehre von der gezwungenen Eigentumsentäußerung, die Lehre, welche das Individuum durch die Gemeinschaft aufhebt, welche an den Despotismus grenzt, indem sie vom Hunger emanzipiert. Heutzutage redet niemand vom St. Simonismus, von Fourierismus oder Kommunismus. Alle diese Systeme und Lehren und noch viele andere haben sich vor der starken Stimme der Kritik und Negation gebeugt, welche nichts im voraus beurteilte oder systematisierte, welche aber zur Vernichtung alles dessen aufrief, was die gesellschaftliche Regeneration verhindert und die Abgeschmacktheit und Heuchelei alles dessen aufdeckte, was durch die Freunde der Ordnung aufrecht erhalten wird. Ich will die Solidarität nicht in Abrede stellen, welche uns notwendigerweise an unsere Überlieferung knüpft, nein, gewiß nicht, denn warum soll der Mensch seine Jugendträume verachten? Die vorhergehenden Formen waren zu kindlich, enthielten die Wahrheit nur in einseitiger Auffassung, aber darum waren die Lehren doch nichts weniger als falsch. Derselbe große Gedanke, der eine ganze Welt in seinem Keime enthält, durchzieht alle sozialen Doktrinen, ohne selbst den fortgeschrittensten Kommunismus auszunehmen. Diesen Lehren haben wir es zu danken, daß man einzusehen anfängt, daß man nicht mit dem Abhaspeln der alten politischen Maschine zur Rettung der Welt gelangen wird; von ihnen geht der große Ruf aus nach der Rehabilitation des Fleisches, nach dem Aufhören der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; in ihnen hat man zum ersten Male die Leidenschaften des Menschen anerkannt und den Versuch gemacht, sie zu benutzen und nicht zu unterdrücken. Die Solidarität indessen, die ich annehme, will nicht sagen, daß ich jeden Gedanken, jede Phase, die Details, die ganze Organisation jeder für sich betrachteten Lehre verantworte.

Die einen wollen nun in dem Sozialismus nur die närrischen Details sehen, in welche einige der ersten Sozialisten geraten sind, hingerissen und geblendet von der Schönheit der Ideen. Mehr Propheten als Organisatoren, blieben sie wahr in ihren vagen Bestrebungen und verkamen in ihrer Anwendung und in ihren Konsequenzen. Das leugnet niemand. Aber Sie haben gut wiederholen, daß die geschichtliche Entwickelung eine fortlaufende Metamorphose ist, in welcher jede neue Form geeigneter ist als die vorhergehende, die Wahrheit zu enthalten; man ladet uns die Überschwenglichkeiten des Vaters Enfantin, alle Maßlosigkeiten Fourriers und alle Fehler der Ikarier auf. Die andern dagegen fragen verwundert und ironisch, was denn mit Ausnahme des Wortes selbst im Sozialismus Neues sei; sie finden, daß der Sozialismus nur die Entwickelung und Fortsetzung der politischen Ökonomie ist und beschuldigen ihn des Undanks und Plagiats. Denn war nicht das Ideal von J. B. Say, wie er selbst sagt, das Nicht-Regieren?Ja. Allerdings ist der Sozialismus die Verwirklichung des Ideals der Nationalökonomie. Die politische Ökonomie ist die Frage, der Sozialismus ihre Lösung. Die politische Ökonomie ist die Beobachtung, die Beschreibung, die Statistik, die Geschichte der Erzeugung und Bewegung, der Zirkulation der Reichtümer. Der Sozialismus ist die Philosophie, die Organisation und die Wissenschaft. Die politische Ökonomie gibt die Materialien und die Dokumente, sie macht die Untersuchung – der Sozialismus spricht das Urteil. Die politische Ökonomie konstatiert die natürliche Tatsache des Reichtums und des Elends – der Sozialismus zerstört es nicht als historisches Faktum, sondern als nofwend ge Tatsache, hebt alle Schranken, alle Dämme auf, welche die Zirkulation hindern, macht das Eigentum flüssig, hebt also mit einem Worte Reichtum und Elend auf. Selbst aus diesem Antagonismus ersieht man, daß der Sozialismus in inn<i>ger Beziehung zur Nationalökonomie steht. Das ist die Analyse und Synthese eines und desselben Gedankens. Hierin liegt aber nichts Wunderbares. Seit in der Welt Doktrinen, Religionen, Systeme, seit eine geistige Bewegung existierte, hatte jede neue Lehre ihre Wurzel in einer vergangenen, sie mag sie immerhin negieren, so bleibt sie doch ihr Stützpunkt, ihr Boden, und selbst wenn sie ihre Mutter verleugnet, ihre Tochter. Auf diese Weise ging das Judentum in das Christentum über, auf diese Weise lebte das Christentum selbst in der Ethik Rousseaus fort, welche der deistischen und philanthropischen Moral des Jahrhunderts als Grundlage dient; auf diese Weise findet sich Hegel in seinem Keime schon in Spinoza und Kant, Feuerbach in Hegel. Jede neue, umgestaltende Idee beunruhigt schon, ehe sie sich als Lehre formulieren kann, die Geister und drängt sich dem Bewußtsein auf; bei dem einen erscheint sie als praktische Inspiration, beim andern als Zweifel, beim dritten als Gefühl. Plötzlich findet diese neue Idee ihr Wort, und die bisherige Morgendämmerung verschwindet vor der Sonne, die Essäer, die Therapeuten werden bei der Erscheinung Christi vergessen, weil Christus der wahre λόγος πpοϕοpιϰος war. Aus dem schöpferischen Punkte, aus welchem sich die neue Religion organisiert, wird Evangelium, aus den fragmentarischen Ideen der Kirche, aus der unsteten und sehnsüchtigen Gärung sozusagen der Befruchtungsakt. Nun wohlan! Hat wohl je ein Mensch Christus für einen Plagiator der Essäer oder selbst der Neu-Platoniker gehalten?

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