»Ihnen gefällt es.«
»Rum, Glücksspiel und Frauen sind ihnen noch lieber. Die Seeräuberei ist kein Priesteramt. Damit verdient man Geld.«
»Und wie lange wird es dauern, bis sie ihren Anteil verschleudert haben?«
»Das ist nicht mein Problem. Und wer kein Geld mehr hat, kann jederzeit auf einem anderen Schiff anheuern. Aber für die Jacare, so wie sie jetzt ist, war das die letzte Fahrt, und ihre Flagge bleibt für immer eingeholt.«
Anschließend mußte er in allen Details berichten, was seit dem Augenblick ihrer Trennung geschehen war, und als sein Vater und seine Schwester schließlich schlafen gingen, machte der Margariteno einen langen Spaziergang am Strand, um sich auszumalen, wie nach so vielen aufregenden Jahren auf See sein Leben an Land aussehen konnte.
Immer wieder kam es ihm seltsam vor, keine schwankenden Schiffsplanken mehr unter den Füßen zu haben und nicht jeden Augenblick vor einem Mast oder einer Schiffswand zu stehen.
Wenn er mitten in der Nacht aufwachte, ohne das Knarren der Jacare zu hören, befiel ihn eine seltsame Unruhe, und wenn ihm der Duft der feuchten Erde und der dichten Vegetation des fruchtbaren Jamaika in die Nase stieg, vermißte er sein Schiff, das nach Teer und feuchtem Holz roch.
Er würde noch lange brauchen, bis er kein echter Seemann mehr war, doch das Meer bot ihm keine Zukunft mehr. Schließlich sah er sich nicht als Kapitän eines Handelsschiffs, und ebenso absurd war die Vorstellung, daß ihm Engländer, Franzosen oder Spanier je ein Kommando über ein Kriegsschiff anvertrauen würden.
Ob er wollte oder nicht, seine Zukunft lag an Land.
Er setzte sich unter eine hohe Kokospalme und schaute zu, wie sich der Mond in den breiten, von Korallenriffen gebildeten Lagunen spiegelte, als ihn plötzlich eine seltsame Unruhe befiel, eine düstere Vorahnung, daß etwas Schreckliches passieren würde, ohne daß er hätte sagen können, woher die undefinierbare Gefahr kam, die all seine Bewegungen mit tausend Augen hinter seinem Rücken aus dem Dickicht der Zuckerrohrfelder zu verfolgen schien.
Er bemühte sich, seine Sorgen zu verscheuchen und sich selbst davon zu überzeugen, daß seine Familie und seine überaus wertvolle Beute in Sicherheit waren. Er hatte also nichts zu fürchten, wenn er sich dazu entschloß, auf der Insel zu bleiben. Diese würde stets eine Zuflucht für alle Menschen sein, die ihr von Plünderung und Gewalt bestimmtes Leben für immer ändern wollten.
Man mußte nicht besonders aufgeweckt sein, um zu begreifen, daß sich die Zeiten änderten und sich die glorreichen Zeiten der Seeräuberei allmählich ihrem Ende zuneigten. Die meisten ehrbaren Menschen der Region waren der Ansicht, daß mit Anbruch des schon so nahen neuen Jahrhunderts die Antillen nicht mehr die Jagdgründe der Seewölfe, sondern Teil einer zivilisierteren Welt sein würden, in der die Probleme nicht ausschließlich mit Plünderungen und Kanonenschüssen gelöst wurden.
Die Spanier schienen inzwischen akzeptiert zu haben, daß andere Mächte sich auf einigen Inseln der Karibik festgesetzt hatten, und früher oder später würden die Regierungen dieser Nationen zur Überzeugung gelangen, daß friedliche Handelsbeziehungen wesentlich einträglicher waren als ein Schiff nach dem anderen zu schicken, um andere Schiffe zu zerstören.
Mit dem Korsarenleben würde es an dem Tag vorbei sein, an dem ihnen ihre jeweiligen Souveräne den Schutz entzogen, und sobald keiner mehr die Korsaren brauchte, waren auch die Seeräuber und Freibeuter der Küste zu raschem Niedergang verurteilt. Der Fortschritt in der Neuen Welt würde sie von der Landkarte fegen.
In dieser unruhigen Nacht voller finsterer Gedanken kam Sebastián Heredia zu dem bitteren Schluß, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sein Leben zu ändern, auch wenn das Leben an Land für ihn ein kleiner Tod war.
Er schlief schlecht, und als er aufwachte, waren seine düsteren Gedanken noch immer nicht verschwunden. Als er jedoch die große Seeterrasse betrat, auf der seine Schwester lächelnd mit dem Frühstück auf ihn wartete, kam ihm im Licht des neuen Tages die Zukunft wieder wunderbar und vielversprechend vor.
»Mir ist etwas eingefallen!« rief Celeste aus, während sie ihm Eier mit Schinken und eine Tasse Kaffee servierte. »Jetzt weiß ich, was wir mit der Jacare machen können!«
»Na, da fällt mir ja ein großer Stein vom Herzen«, gab Sebastián im gleichen Tonfall zurück. »Und was können wir deiner Meinung nach machen?«
»Mit ihr Sklaven befreien«, erwiderte das Mädchen, als wäre das die normalste und einleuchtendste Sache der Welt. »Die Geschichte der Four Roses und wie du die Schwarzen an der Küste Venezuelas ausgesetzt hast, hat mich immer fasziniert.« Sie beugte sich vor und packte ihn ungewohnt fest am Arm. »Warum wiederholen wir das nicht?«
»Wiederholen?« wollte ihr Bruder verwundert wissen. »Es war reiner Zufall, daß ich auf die Four Roses gestoßen bin.«
»Ich weiß. Aber ich weiß auch, daß jedes Jahr Dutzende dieser Sklavenschiffe von den Küsten Senegals nach Brasilien und Westindien fahren. Und wenn ein so schnelles Schiff wie die Jacare diese Gewässer patrouilliert, dann können wir sie uns der Reihe nach vorknöpfen.«
»Und was fällt dabei für uns ab?«
»Nichts.«
»Nicht gerade viel.«
»Oh doch!« entgegnete das Mädchen überzeugt.
»Das mußt du mir erklären.«
»Doch nicht dir. Wenn du das schon getan hast, als du nichts hattest, um deine Mannschaft zu bezahlen, die dich jeden Augenblick über Bord hätte werfen können, dann hast du jetzt, wo du ein steinreicher Mann bist, doch noch weit mehr Grund dazu.«
»Und ist dir nie durch dein hübsches Köpfchen gegangen, daß ein steinreicher Mann seinen Wohlstand in Ruhe genießen will?«
»Jeder andere Mann, ja. Du nicht.«
»Also hör mal! Und warum?«
»Weil ich dich kenne und ich sicher bin, daß dir in ein paar Monaten die Zuckerplantagen und Rumbrennereien bis hierher stehen. Du gehörst aufs Meer…« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und sah ihm direkt in die Augen. »Und ich ebenfalls.«
»Was willst du damit sagen?« regte sich der frisch pensionierte Kapitän Jack auf. »Soll das heißen, daß du dein Leben auf einem Schiff verbringen willst?«
»Und warum nicht? Mir ist klargeworden, daß mir das wirklich gefällt, und wenn ich schon akzeptiert habe, daß es nicht vernünftig war, an Bord eines Piratenschiffs zu bleiben, dann mußt du deinerseits akzeptieren, daß ich sehr wohl an Bord eines anderen Schiffs leben kann, dessen Besatzung normale Leute sind, die nur für eine edle Sache kämpfen.«
»Und wo finden wir diese normalen Leute?«
»Natürlich nicht in Port-Royal. Aber in jedem anderen Hafen, wenn wir sie gut bezahlen…«
»Eine Schnapsidee!«
»Mir gefällt sie…«
In diesem Augenblick erschien Miguel Heredia in der Tür und fragte spöttisch:
»Und was ist das für eine neue Schnapsidee?«
»Deine Tochter möchte, daß ich mit der Jacare Sklavenschiffe überfalle und die Schwarzen befreie.«
Sein Vater nahm Platz, goß sich eine Tasse Kaffee ein, dachte einige Augenblicke nach und nickte schließlich überzeugt.
»Die erste vernünftige Sache, die ich seit langem gehört habe.«
»Ist das dein Ernst?«
»Mein völliger Ernst. Du hast sehr viel Geld, ein prächtiges Schiff und wenigstens ein halbes Dutzend Männer, Lucas Castano eingeschlossen, die sich nur zu gern in dieses Abenteuer stürzen werden. Wir suchen uns eine neue Besatzung und werden den Rest unseres Lebens damit verbringen, etwas Edelmütiges für die Ärmsten der Armen zu tun. Das gefällt mir! Diese Schnapsidee gefällt mir sehr!«
Den ganzen Morgen über diskutierten sie dieses Thema weiter, und obwohl es seit Wochen Sebastians innigster Wunsch gewesen war, eine ganze Nacht in Gesellschaft der rothaarigen Astrid zu verbringen, beschloß er dennoch am Abend, nicht nach Port-Royal zurückzukehren, sondern im Haus zu bleiben. Vielleicht glaubte er, daß die unbestimmte Gefahr, die er fühlte, konkrete Gestalt annehmen würde und seine Familie Schutz nötig hatte.