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»Als Kind habe ich mal einen Wirbelsturm erlebt«, bemerkte der neue Kapitän Jacare Jack, »und ich weiß noch, wie schrecklich der war, obwohl wir uns in die Gewölbe der Festung La Galera geflüchtet hatten. Aber ich hätte mir nicht ausmalen können, gegen so etwas auf offener See anzukämpfen.«

Drei Tage später, als sie bereits ruhig an der afrikanischen Küste entlang segelten, wurde ihnen klar, daß das Schiff angeschlagen war und unterhalb der Wasserlinie kleine Lecks aufwies, die der Zimmermann weitgehend vergeblich während der Fahrt zu reparieren versuchte.

»Wir müssen das Schiff an Land kalfatern«, befand Meister Bertrán schließlich, der jede Planke der Jacare zu kennen schien, als hätte er sie selbst geschnitzt. »In diesem Zustand schafft es die Überfahrt nicht.«

»Wieviel Zeit wirst du brauchen?« wollte der Margariteno wissen.

»Mindestens eine Woche.«

Sein neuer Kapitän wies auf die sandige Küste, die Backbord in der Ferne zu sehen war.

»Hier scheint es keinen geeigneten Ort zu geben. Und wenn wir nicht aufpassen wie die Luchse, schneiden uns die Mauren hier die Kehle durch.«

»In vier oder fünf Tagen sind wir in Sichtweite der Kanarischen Inseln«, mischte sich Lucas Castano ins Gespräch. »Auf einigen Inseln finden wir sicher einen einsamen Strand, an dem wir arbeiten können.«

»Die Kanaren gefallen mir auch nicht gerade«, urteilte Sebastián Heredia. »Wahrscheinlich wissen sie dort, daß die Casa einen Preis auf unsere Köpfe ausgesetzt hat, und die Jacare ist ein unverwechselbares Schiff.«

»Dieses Risiko müssen wir eingehen«, beharrte Meister Bertrán selbstbewußt. »Ansonsten haben wir bald sechs Strich Wasser im Kielraum.«

Damit hatte er nicht unrecht, denn obwohl die Männer im Turnus Stunde um Stunde schöpften, ging der Wasserstand nicht zurück. Das malträtierte Schiff ächzte und stöhnte während der Fahrt derart, daß man in der Stille der Nacht hätte glauben können, sein letztes Stündlein habe geschlagen.

Schließlich tauchte in der Ferne ein düsteres Kap auf, dann ein weiteres, und schließlich kamen die hohen Klippen der Nordküste von Lanzarote in Sicht, die eine Wasserstraße von nur einer Meile Breite von den seichten Stränden der kleinen Insel Graciosa trennte. Hier konnte man sehr gut ein Schiff an Land ziehen, da sich keine Menschenseele sehen ließ. Waren auf der Insel aber Soldaten stationiert, das war dem Margaritefio bewußt, stand er vor unlösbaren Problemen, wenn es galt, einen Angriff zurückzuschlagen.

Auf offener See waren seine Männer erfahrene Kämpfer und wurden mit jeder Schwierigkeit fertig, solange sie die Planken eines Schiffs unter ihren Füßen spürten. Doch hatte Sebastian keine Ahnung, wie seine Männer reagieren würden, wenn sie nicht mehr auf die Schnelligkeit und Manövrierfähigkeit der Jacare vertrauen konnten, die sie notfalls aus der Schußlinie brachte.

»Eine Woche ist viel Zeit…« dachte er sich ein ums andere Mal, während er sorgenvoll auf die Steilküste blickte. »Verdammt viel Zeit.«

Schließlich entschloß er sich, mit den fünf besten Schützen der Mannschaft an Land zu gehen, und übergab Lucas Castano das Kommando an Bord mit der strikten Anweisung, bei Anzeichen der geringsten Gefahr die Anker zu lichten.

Als es dunkel wurde, ließen sie die Schaluppe zu Wasser, steuerten die letzte Landspitze auf der Luvseite der Insel an und gingen in tiefster Finsternis an einem breiten Strand mit hohen Dünen an Land, zwischen denen sie das Boot mühelos verstecken konnten.

Im Morgengrauen sahen sie sich verblüfft an, in was für karge, von Felsen übersäte Gefilde sie geraten waren. Zahlreiche hohe Vulkankegel verliehen der Landschaft ein unwirkliches Aussehen, als wären sie auf einem anderen Planeten gelandet. Die nackte Erde hatte nichts mit den Antillen gemein, auf denen sie geboren oder zumindest aufgewachsen waren.

Kein Baum, kein Bach, ja nicht einmal eine winzige Wiese, auf der ein einfaches Maultier hätten weiden können, und die Luft war so trocken, daß man sich andauernd räuspern mußte.

»Was für ein seltsamer Ort«, murmelte hinter dem Rücken Sebastians einer, der sich offenbar ein Land ohne Wälder kaum vorstellen konnte. »Zum Fürchten!«

Dann hörten sie das vom Winde verwehte Läuten einer fernen Glocke: ein Klang, der ihnen völlig unpassend erschien auf diesem Boden, auf dem wohl nur Eidechsen leben konnten.

Unendlich vorsichtig tasteten sie sich weiter vorwärts, und bald konnten sie die drohende Silhouette eines düsteren Forts ausmachen, das an einem der schlafenden Vulkane förmlich zu kleben schien. Unterhalb der Festung breitete sich ein kleines weißes Dorf aus, dessen stolze Kirche ein Kuppeldach zeigte.

»Hier leben ja doch Menschen«, murmelte der gleiche von vorhin, als wolle er seinen eigenen Worten nicht trauen. »Wovon leben die nur, zum Teufel?«

»Wirklich ein Wunder«, erwiderte Sebastian.

Den restlichen Tag lagen sie auf der Lauer, ohne auch nur eine Menschenseele zu entdecken. Erst als die Sonne nicht mehr auf die Felsen brannte, konnten sie einen Mann ausmachen, der sehr langsam auf sie zukam und das seltsamste Tier am Zügel führte, das sie je gesehen hatten.

»Was für ein häßliches Pferd!« rief der ewige Schwätzer aus. »Und wie komisch das läuft!«

»Das ist doch kein Pferd, du Idiot!« fuhr ihn der Margariteno an. »Das muß ein Kamel sein.«

Bei Anbruch der Dunkelheit näherten sie sich den ersten Häusern und achteten über zwei Stunden lang auf alle Geräusche und Stimmen, bis sie davon überzeugt waren, daß es dort lediglich ein halbes Dutzend Männer im waffenfähigen Alter gab.

»Kehren wir zurück!« befahl Jacare Jack schließlich. »Ich glaube, bei so wenigen Menschen gehen wir kein Risiko ein.«

Sie kehrten zum Schiff zurück und setzten das Schiff an einer stillen Reede auf Sand. Nachdem sie die Kanonen an Land gebracht hatten, um jeden Angriff von der Steilküste aus zurückschlagen zu können, machten sie sich daran, das Schiff so schnell wie möglich zu reparieren und zu kalfatern.

Am dritten Tag entdeckten sie einige Ziegenhirten, die sie von den Klippen aus beobachteten. Über ihren Anblick zerbrachen sich die Piraten aber kaum den Kopf, denn die Hirten schien die Anwesenheit des mächtigen Schiffs mit seinen gut sichtbaren zwanzig Kanonen weit mehr zu beunruhigen.

Um so erstaunter waren die Piraten, als am nächsten Morgen langsam eine winzige Gestalt die glatte, wie mit dem Messer geschnittene Felswand hinabkletterte.

Sie hielten den Atem an, denn jeden Augenblick konnte dieses törichte Wesen in den Abgrund stürzen. Ihre Überraschung wurde jedoch noch größer, als sie schließlich feststellen mußten, daß da ein sehr junges und attraktives Mädchen auf diese Weise sein Leben aufs Spiel setzte.

Sebastian ging ihr entgegen, um sie wegen ihres törichten Verhaltens zur Rede zu stellen, doch das Mädchen ließ ihm gar nicht die Zeit, den Mund zu öffnen, sondern fragte in aller Unschuld:

»Fahrt ihr nach Westindien?«

»Ja«, sagte der Margariteno, dessen Verblüffung immer größer wurde. »Warum?«

Das Mädchen, denn es war kaum mehr als ein Mädchen, auch wenn es bereits weibliche Rundungen aufwies, zog aus der Tasche seines schlichten Kleids einen fleckigen Umschlag und reichte ihn Sebastian.

»Könnt Ihr mir den Gefallen tun und diesen Brief meinem Verlobten überbringen?« bat sie inständig. »Sie haben ihn vor einem Jahr eingezogen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Die Schiffe kommen bei ihrer Rückkehr aus Westindien hier nicht vorbei.«

Sebastian nahm das grobe Papier, auf dem mit fast kindlicher Schrift zu lesen stand: »Pompeyo Medina. Westindien.«

»Aber in welchem Teil Westindiens ist er denn?« wollte er wissen.

»Das weiß ich nicht«, entgegnete das Mädchen mit rührender Offenheit. »Doch Westindien kann ja nicht sehr groß sein, und ich bin sicher, daß Ihr ihn findet. Er ist groß, hat braune Haare, riesige dunkle Augen und am Kinn ein tiefes Grübchen.« Sie zeigte ein faszinierendes Lächeln, als sie fragte: »Werdet Ihr ihm meinen Brief geben?«

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