»Das ist Euer Vorschuß. Den Rest bekommt Ihr, wenn der Kapitän geheilt ist.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich ihn heilen werde«, lautete die trockene Antwort. »Nur, daß ich es versuchen werde. Und jetzt ab mit dir.« Als der Junge schon fast am großen Portal angelangt war, rief sie ihn zurück und fügte hinzu: »Und das nächste Mal kommst du bitte am Abend. Man muß ja nicht unbedingt sehen, wie ein Pirat am hellichten Tage bei mir aus – und eingeht.« Sie zeigte ein schelmisches Lächeln. »Obwohl du, ehrlich gesagt, eher wie ein Klosterschüler als wie ein Pirat ausschaust.«
Verwirrt bis gekränkt verließ der Margariteno das große Haus. Noch immer wußte er nicht so recht, was in dem schattigen Innenhof voller krächzender Papageien geschehen war.
Er hatte erwartet, einem alten Juden mit langem Bart und Hakennase zu begegnen, vielleicht so einem wie dem Ladino Samuel, dem Geldverleiher von La Asuncion, den sein Vater mehr als einmal hatte aufsuchen müssen, wenn die Perlenfischerei nicht den erhofften Gewinn abwarf. Doch hier hatte er es mit einer beunruhigenden und überraschenden Frau zu tun, die ihr Leben lang auf eigenen Beinen gestanden hatte.
Abgesehen von den einfachen Dorfbewohnern von Juan Griego hatte Sebastián Heredia nur mit den fröhlichen und schamlosen Huren der »Winterquartiere« zu tun gehabt. Und wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß er sich nie hätte träumen lassen, daß eine Frau Bücher lesen, etwas von Medizin verstehen und so selbstbewußt sprechen könnte wie Raquel Toledo.
Nicht die Tatsache, daß er eine Ärztin vor sich hatte, die ihn gleichzeitig anzog und abstieß, auch nicht ihr charmanter exotischer Akzent, sondern ihre nicht vorgeschützte, sondern tatsächliche Überlegenheit ließ den armen Perlenfischer aus Margarita, der zum Piraten geworden war, darüber nachdenken, welch unergründliche Kluft zwischen seiner eigenen Welt und der eines so einzigartigen Geschöpfs bestand.
Er nahm auf einer Mauerböschung des weiten Palmenstrands Platz und fragte sich, ob jene Raquel Toledo, Schwester eines konvertierten Juden und selbst Jüdin, die zum Christentum übergetreten war, nicht in Wahrheit eine jener gefürchteten Hexen war, von denen man sich an Bord der Jacare in den langen Mußestunden so viel erzählte.
Sie konnte lesen, glaubte nicht an Jesus, konnte geheimnisvolle Tränke gegen eklige Würmer zubereiten und hatte darüber hinaus zwei beunruhigende Augen und hellblondes, fast weißes Haar. Ohne Zweifel konnte man sie viel eher als echte Hexe ansehen als all die anderen Geschöpfe, von denen der arme Junge in seinem kurzen Leben gehört hatte.
»Gefällt mir nicht«, murmelte er schließlich in sich hinein. »Gefällt mir überhaupt nicht.«
Längere Zeit hing er seinen Gedanken nach, bis ihn der Hunger packte und er sich ohne Hast auf die breite Esplanade am Hafen begab. Dutzende Frauen priesen dort mit lauter Stimme alle möglichen zubereiteten scharfen Speisen an, als hätte man in der unglaublichen Hitze der Stadt, in der sich kein Lüftchen regte, nicht schon genug geschwitzt.
Mit einem Beutel voller Geld und unendlicher Neugier stürzte sich der Junge aus Margarita bald in den Schlund der heißesten, lebendigsten und pulsierendsten Stadt der Karibik. Sie war das Herz einer Neuen Welt und seit dem Niedergang von Santo Domingo die inoffizielle Hauptstadt des Kontinents.
In Cartagena de Indias strömten nicht nur die Reichtümer, sondern auch die überaus unterschiedlichen Menschen aus allen Winkeln des spanischen Weltreichs zusammen. Auf den weiten Plätzen und in den beschaulichen Gassen liefen halbnackte Indianer mit Federschmuck herum, während elegante Fräulein ihre zarte Haut mit riesigen, reich bestickten Sonnenschirmen schützten, die sie in einem gleichmäßigen Rhythmus drehten.
Kapitäne in spanischem Sold, Seeleute, Schreiber, Pfarrer, Mönche, Händler, schwarze Sklaven, aufgeputzte Freudenmädchen, Mischlinge und Tagelöhner: Vom Sonnenaufgang bis kurz nach Mittag war es ein einziges Kommen und Gehen. Dann leerten sich die Straßen wie durch Zauberhand, denn in der drückenden Hitze des frühen Nachmittags wagte sich nicht einmal der mutigste Straßenköter in die pralle Sonne, die einem das Hirn wegschmolz.
Drei Stunden lang war die lebendigste Stadt der Karibik wie ausgestorben. Zumindest schlief sie, und unter den schattigen Kapokbäumen der Parkanlagen und Plätze schnarchten alle, die keinen geeigneteren Platz für ihre wohlverdiente Siesta hatten finden können.
Wenn die Sonne schließlich die Palmen der Insel Baru, welche die Bucht im Osten abschloß, zu streicheln begann, erwachte Cartagena in der ersten Brise des späten Nachmittags zu neuem Treiben, das noch frenetischer war als in den ersten Morgenstunden.
Doch nun ging es viel vergnügter zu: Man lachte und sang, flanierte am Strand, tändelte im Rhythmus der Trommeln, Gitarren und Rasseln, denn Cartagena de Indias war nicht nur eine hektische, sondern vor allem auch eine sinnliche Stadt, die wie keine andere zur Fleischeslust verführte.
Jede Gasse war eine eigene Welt, jeder kleine Platz ein Universum und jede Haustür eine Aufforderung zum Abenteuer.
Frohgemut und voller Begeisterung stürzte sich Sebastian in diese verrückte Welt der koketten Abenteuer, eine fröhliche, rumselige Welt der Lieder. Ein wenig erstaunt war er schon, daß es da eine Stadt gab, die Piraten, Korsaren, Freibeuter und feindliche Truppen zu ignorieren schien, die vor ihrer Haustüre lauerten. Jeden Augenblick konnte Gewalt und Tod, Blut und Feuer, Verbrechen und Plünderung über die fröhliche Nacht hereinbrechen, denn zu Lande und zu Wasser gab es wohl keinen Räuber, der nicht davon träumte, sich die riesigen Schätze zu holen, die in den tiefsten Gewölben der Festung San Felipe schlummerten.
Jeden Abend riegelte man mit einer dicken und schweren Kette die Einfahrt der Bucht ab. Kein Schiff kam dann mehr durch, und ein halbes Dutzend schneller Schaluppen patrouillierte auf offener See, um beim Anblick eines feindlichen Schiffs sofort Alarm zu schlagen. Doch wußte man auch, daß besagte Feinde gelegentlich die Stadt lieber umgingen, um die Einwohner Cartagenas mit einem Angriff von der Landseite zu überraschen.
Trotzdem vertrauten die Cartagener felsenfest auf die überaus erprobte Uneinnehmbarkeit von Fort San Felipe, dessen mächtige Tore sich schlössen, wenn die Sonne den Horizont berührte, und dessen hohen Mauern sich ab diesem Zeitpunkt unter Androhung der Todesstrafe niemand mehr nähern durfte.
»In San Felipe schießt man zuerst und ruft dann >Halt<«, hieß es, und obwohl manch unschuldiger Trunkenbold im Kugelhagel der aufmerksamen Wachposten sein Leben ausgehaucht hatte, waren sich doch alle einig, einen so vernünftigen Brauch niemals abzuschaffen.
San Felipe schützte sie, und jeder Einwohner der Stadt hatte die Verpflichtung, San Felipe zu schützen und zu respektieren.
Doch unten, an den Stränden, in den Gassen und auf den Plätzen genügte eine gute Stimme, Rhythmus im Blut oder eine Flasche Rum, um an einem der unzähligen Feste teilzunehmen, mit denen man an jeder Ecke die heiße Nacht durchfeierte.
Achtundvierzig wunderbare Stunden lang vergaß Sebastián Heredia Matamoros vollständig, daß er nur ein Pirat war, auf dessen Kopf ein Preis stand, und ein Junge, der darüber unglücklich war, daß ihn seine Mutter auf die schändlichste Art verraten hatte. Achtundvierzig Stunden lang genoß er das neue Gefühl, ein »normaler« Mann zu sein, ohne bittere Vergangenheit, schwierige Gegenwart und unsichere Zukunft.
Achtundvierzig Stunden lang war er ein Fischer, der seinen Gewinn großzügig teilte, die Sänger mit Rum bewirtete und den freizügigen Frauen bunte Tücher verehrte.
Trotzdem ging ihm in diesen achtundvierzig Stunden die aufregende Frau mit den Augen aus Eis und dem strohblonden Haar so gut wie nicht aus dem Kopf.
Matte Schäfchenwolken trieben am roten Abendhimmel dahin, als Sebastian erneut den Weg zur Pforte einschlug, die in den Innenhof führte, wo die Papageien bereits im schattigen Garten vor sich hindösten. Dort empfing ihn Raquel Toledo in einem langen schwarzen Kleid mit tiefem Ausschnitt, das auf den ersten Blick nicht so recht zu ihrer Persönlichkeit und ihrer sozialen Stellung passen wollte.