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Als er anschließend Kurs auf die Stadt nahm, die sich im Westen erhob, und sich dem weißen Häusermeer näherte, konnte er angesichts der majestätischen Festung von San Felipe sein Staunen nicht unterdrücken. Das Fort beherrschte die Stadt völlig und war zweifellos das großartigste militärische Bauwerk, das je ein Architekt entworfen hatte.

Das so gefürchtete kleine Fort La Galera, in dessen Schatten er auf die Welt gekommen und aufgewachsen war, erschien ihm angesichts dieser hohen und dicken Mauern wie eine Hundehütte. Hätte man die unzähligen Kanonen, mit denen die gestaffelten Mauern gespickt waren, gleichzeitig abgefeuert, wäre wahrscheinlich auf jeden Quadratmeter der Bucht eine Kugel gestürzt.

Cartagena de Indias war die wunderschöne Stadt, in der jedes Jahr die unendlichen Schätze aus allen Winkeln des Kontinents lagerten, bis sie mit der Großen Flotte nach Sevilla gebracht wurden. Die Baumeister von vier Generationen spanischer Könige hatten die Stadt zum damals gewaltigsten »Tresor« der Menschheit ausgebaut, so stolz und uneinnehmbar, daß die Tatsache, im ruhigen Wasser der Bucht zu segeln, für sich allein ein unvergeßliches Erlebnis war.

Die Meerseite der Zitadelle war von bis zu zwanzig Meter dicken, mit Geschützen gespickten Mauern unterstützt, und als ob das nicht ausgereicht hätte, machten die schweren Kanonen von San Felipe mit ihrer langen Reichweite jedem Träumer deutlich, daß er anstelle von Cartagena de Indias ebensogut die Holle hätte angreifen können.

Tausende von Gefangenen hatten über ein Jahrhundert lang Tag und Nacht geschuftet, damit sich die Steinblöcke mit mathematischer Präzision ineinanderfügten. Niemand wußte genau, wie viele Geheimkammern sich im Labyrinth der Gänge verbargen, die in die Eingeweide der Erde führten, bis in die fernen Gewölbe des Dominikanerklosters.

Die Festung San Felipe war in Wahrheit eine zweite Stadt in der Stadt, eine unüberwindliche Zuflucht, falls die übrigen Verteidigungsanlagen nicht ausgereicht hätten. In den tiefsten Verliesen lagerte man über Monate hinweg die Schätze, bis sie nach Spanien eingeschifft wurden.

Der Hafen pulsierte vor Leben und Hektik, so daß niemand Notiz von der Ankunft eines kleinen Fischerboots zu nehmen schien. Nachdem er seine Ware unter Wert verkauft und nur soviel gefeilscht hatte, daß er keinen Argwohn erregte, packte Sebastián Heredia den schwarzen Zackenbarsch in einen alten Sack und machte sich ohne Hast auf den Weg zum Turm, der die Hafeneinfahrt beherrschte.

Eine halbe Stunde später betätigte er den Klopfer einer schweren Tür am Ende einer engen Gasse, einen Steinwurf vom Gouverneurspalast entfernt, und sofort öffnete ihm ein indianischer Diener. Nachdem er den Besucher von Kopf bis Fuß gemustert hatte, ließ er ihn in einen schattigen Innenhof eintreten, in dem ein Dutzend bunter Papageien plapperte.

»Meister Isaias ist nicht da«, war alles, was er sagte. »Aber seine Schwester wird Euch empfangen.«

Kurz darauf erschien eine Frau mit dem blassesten Teint und den blondesten Haaren, die der Margariteno je gesehen hatte. Zwar war sie nicht unbedingt schön, doch mit ihrer Art zu sprechen und sich zu benehmen zog sie unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich. Kein Zweifel: Sie war ein einzigartiges Geschöpf, das mit den Frauen der Karibik wenig oder gar nichts gemein hatte.

Sie musterte den Neuankömmling mit einer merkwürdigen Mischung aus Interesse und Mißfallen angesichts seines unordentlichen Aussehens. Meister Isaias sei auf Reisen, wiederholte sie, doch auch ihre medizinischen Kenntnisse reichten aus, um jeder Bitte zu entsprechen.

»Seit Jahren arbeite ich mit meinem Bruder zusammen. Wie kann ich Euch helfen?«

Mit dieser Situation hatte der Junge nun überhaupt nicht gerechnet. Dabei verwirrte ihn weniger die Tatsache, daß die Person, die er sprechen wollte, nicht anwesend war, sondern daß er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er sein Problem einer Frau erklären sollte.

»Ich kann ja wiederkommen«, murmelte er schließlich.

»Mein Bruder bleibt vielleicht noch länger fort«, lautete die unwirsche Antwort. »Wenn Ihr krank seid, solltet Ihr mir lieber so schnell wie möglich sagen, was Euch fehlt.«

»Nein! Ich bin nicht krank«, beeilte sich der Junge mit der Antwort. »Es geht nicht um mich.«

»Um wen dann?«

Sebastian zögerte.

»Um einen Verwandten«, sagte er schließlich. »Jemand, der schnelle Hilfe nötig hat.«

»Welche Symptome hat er?«

»Würmer.«

»Würmer?« entgegnete die seltsame Frau, ein wenig überrascht. »Was für Würmer? Doch nicht etwas sututus, oder?«

Jetzt war die Verblüffung auf Sebastiáns Seite. Wieder einmal schaute er in die beunruhigenden und fast durchsichtigen Augen, bis er schließlich mit den Schultern zuckte.

»Keine Ahnung, was ein sututu ist.«

»Winzige Larven, die einige Urwaldfliegen auf der Rückenhaut ablegen. Lebt Euer Verwandter im Urwald?«

Der Margariteno schüttelte den Kopf.

»Auf dem Meer. Und es sind keine winzigen Larven, sondern große dicke Würmer, die am ganzen Körper aus stinkenden Wunden kriechen… Einfach widerlich!«

»Aha…!«

Die Frau setzte sich auf eine Steinbank, streckte den Arm aus, auf dem ein riesiger roter Papagei Platz nahm. Mit einer Geste verwies sie ihren Besucher auf eine benachbarte Bank, blieb einen Augenblick stumm und dachte angestrengt darüber nach, während sie den Kopf des Vogels streichelte, ob ihr solche Symptome schon einmal untergekommen waren.

»Seltsam«, murmelte sie schließlich, als spräche sie mit sich selbst. »Sehr merkwürdig für einen Seemann.« Ratlos schüttelte sie den Kopf. »Wie alt ist er?«

»45 Jahre, vielleicht fünfzig. Genau weiß ich es nicht.«

»Muß ja ein ziemlich entfernter Verwandter sein, wenn Ihr nicht mal sein Alter wißt, doch das ist nicht mein Problem.« Sie blickte ihm so tief in die Augen, als wollte sie seine Gedanken lesen. »Ist er in Europa oder Westindien geboren?«

»In Europa.«

»Und wo dort?«

»Irgendwo im Norden…« lautete die zögerliche Antwort Sebastiáns, der nicht zuviel verraten wollte. »Wo genau, weiß ich nicht.«

Die Frau ließ den Papagei auf einen Ast flattern, musterte ihr Gegenüber erneut mit ihrem durchdringenden Blick und murmelte schließlich mit absoluter Ruhe, wobei sie ihn duzte:

»Ich hab allmählich den Verdacht, daß du zu einem jener Piratenschiffe gehörst, die oft die Küste heimsuchen. Oder schlimmer noch, zu einem Korsarenschiff. Doch das spielt keine Rolle. Was mich interessiert, sind die Patienten, nicht ihr Beruf…« Sie lächelte ein wenig, und ihr Lächeln war wirklich sehr anziehend. »Pirat oder Korsar?«

»Pirat.«

»Besser so. Wenn ich ehrlich sein soll, die Scheinheiligkeit der Korsaren ist mir zuwider. Nun gut! Ich werde mich eingehend mit der Krankheit deines >Verwandten< beschäftigen. Wann kann ich ihn sehen?«

Der Junge schüttelte heftig den Kopf.

»Unter keinen Umständen setzt der Kapitän einen Fuß an Land. Wenn er die Wahl zwischen Galgen und Würmern hat, zieht er die Würmer vor.«

»Abwarten«, lautete die ironische Antwort. »Wenn die Dinge so sind, wie sie sind, wird ihm die Schlinge bald lieber sein.« Langsam stand sie auf, als wollte sie das Gespräch damit beenden. »Ich brauche zwei Tage, um die Bücher zu konsultieren und zu sehen, was sich machen läßt.«

»Und wer garantiert mir, daß bei meiner Rückkehr nicht die Soldaten auf mich warten?«

Sein Gegenüber sah ihn abschätzig an, als könnte sie es nicht fassen, daß jemand sie des Verrats für fähig hielt.

»Raquel Toledo«, antwortete sie schließlich ziemlich bitter. »Was du mir gesagt hast, ist so, als hättest du es einem Priester anvertraut. Zwar kann ich die nicht unbedingt leiden, doch ein Geheimnis können sie hüten. Genieß die Stadt, aber bitte unauffällig, und komm in zwei Tagen wieder.«

Sebastian Heredia zog ein scharfes Messer aus dem Gürtel, schnitt den Barsch auf, zeigte eine Handvoll schöner kichererbsengroßer Perlen vor und legte fünf auf die Steinbank.

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