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Ihre Hände, mit denen sie die Haustür öffnet, der kleinen Marie oben die Bettdecke geradezieht, in der Küche unten den Toaster einstöpselt, Wasser aufsetzt, eine Zigarette aus der Packung nimmt. Den Zettel des Mädchens findet sie diesmal nicht auf dem Küchentisch, sondern auf dem Eisschrank. »Bin ins Kino gegangen. Um zehn zurück.« Im Wohnzimmer auf dem Fernsehapparat Züpfners Zettel. »Mußte noch dringend zu F. Küsse, Heribert.« Eisschrank anstatt Küchentisch, Küsse statt Kuß. In der Küche, während du dick Butter, dick Leberwurst auf die Toastscheiben streichst, statt zwei, drei Löffel Schokoladenpulver in die Tasse tust, fühlst du sie zum erstenmal: Die Schlankheitskurengereiztheit, erinnerst dich der von Frau Blothert hingekreischten Feststellung, als du das zweite Stück Kuchen nahmst: »Aber das sind ja im ganzen mehr als fünfzehnhundert Kalorien, können Sie sich das leisten?« Der Metzgerblick auf die Taille, Blick, der die unausgesprochene Feststellung enthält: »Nein, Sie können es sich nicht leisten.« Oh, allerheiligster Ka — ka — ka, du -nzler und -tholon! »Ja, ja, du fängst an, anzusetzen.«Es wird geflüstert in der Stadt, in der Flüsterstadt. Warum diese Unruhe, dieser Wunsch, im Dunkeln allein zu sein, in Kinos und Kirchen, im dunklen Wohnzimmer jetzt mit Schokolade und Toast. Was hast du auf der Tanzparty dem jungen Bengel geantwortet, der die Frage rasch herausschoß: »Sagen Sie mir schnell, was Sie lieben, gnädige Frau, schnell!« Du wirst ihm die Wahrheit gesagt haben: »Kinder, Beichtstühle, Kinos, gregorianischen Choral und Clowns.« — »Und Männer nicht, gnädige Frau?« — »Doch, einen«, wirst du gesagt haben. »Nicht die Männer als solche, sie sind so dumm.«— »Darf ich das publizieren?« — »Nein, nein, um Gottes willen, nein!« Wenn sie gesagt hat einen, aber warum sagt sie dann nicht meinen? Wenn man einen Mann liebt, in Worten einen, kann man doch nur seinen meinen, den angetrauten. Oh, vergessenes, verschlucktes kleines m. Das Mädchen kommt nach Haus. Schlüssel ins Schloß, Tür auf, Tür zu, Schlüssel ins Schloß. Licht in der Diele an, aus, in der Küche an, Eisschranktür auf, zu, Licht in der Küche aus. In der Diele sanft an die Tür geklopft. »Gute Nacht, Frau Direktor.« — »Gute Nacht. War Marie lieb?« — »Ja, sehr.« Licht in der Diele aus, Schritte die Treppe hinauf. (»Da saß sie also ganz allein im dunklen Zimmer und hörte Kirchenmusik.«) Alles rührst du mit diesen Händen an, die die Bettwäsche gewaschen haben, die ich unter meinen Achseln gewärmt habe: Plattenspieler, Platte, Hebel, Knopf, Tasse, Brot, Kinderhaar, Kinderdecke, den Tennisschläger. »Warum gehst du eigentlich nicht mehr zum Tennis?« Achselzucken. Keine Lust, einfach keine Lust. Tennis ist so gut für Frauen von Politikern und führenden Katholiken. Nein, nein, so ganz identisch sind die Begriffe noch nicht. Es hält schlank, elastisch und attraktiv. »Und F. spielt so gern Tennis mit dir. Magst du ihn nicht?« Doch, doch. Er hat so was Herzliches. Ja, ja, man sagt, er sei mit »Schnauze und Ellenbogen« Minister geworden. Er gilt als Schurke, Intrigant, und doch ist seine Zuneigung zu Heribert echt: Korrupte und Brutale mögen manchmal Gewissenhafte, Unbestechliche. Wie rührend korrekt es bei Heriberts Hausbau zuging: keine Sonderkredite, keine »Hilfen« baugewerblich erfahrener Partei- und Konfessionsfreunde. Nur, weil er »Hanglage« wollte, mußte er den Überpreis bezahlen, den er »an sich« für korrupt hält. Aber gerade die Hanglage erweist sich nun als störend.

Wer auf Hängen baut, kann ansteigende oder abfallende Gärten wählen. Heribert hat abfallend gewählt — das erweist sich als Nachteil, wenn die kleine Marie anfangen wird, mit Bällen zu spielen, immer rollen die Bälle auf des Anliegers Hecke zu, manchmal durch diese durch in den Steingarten, knicken Zweige, Blumen, überrollen empfindliche, kostbare Moose und machen verkrampfte Entschuldigungsszenen notwendig. »Wie kann man nur einem so entzückenden kleinen Mädelchen böse sein?« Kann man nicht. Fröhlich wird von Silberstimmen Lässigkeit gemimt, von Schlankheitskuren verkrampfte Münder, angestrengte Hälse mit gespannten Muskeln geben Fröhlichkeit von sich, wo ein handfester Krach mit scharfem Wortwechsel das einzig Erlösende wäre. Alles verschluckt, mit falscher Nachbarschaftsfröhlichkeit zugedeckt, bis irgendwann an stillen Sommerabenden hinter verschlossenen Türen und heruntergelassenen Rolläden mit edlem Geschirr nach Embryogespenstern geworfen wird. »Ich wollte es doch haben — du, du wolltest nicht.« Edles Geschirr klingt nicht edel, wenn's an die Küchenwand geworfen wird. Krankenwagensirenen heulen den Hang hinauf. Geknickter Krokus, verletztes Moos, Kinderhand rollt Kinderball in Steingarten, heulende Sirenen verkünden den nicht erklärten Krieg. Oh, hätten wir ansteigenden Garten gewählt.

Das Klingeln des Telefons schreckte mich auf. Ich nahm den Hörer ab, wurde rot, ich hatte Monika Silvs vergessen. Sie sagte: »Hallo, Hans?« Ich sagte: »Ja«, wußte noch nicht, weswegen sie anrief. Erst als sie sagte: »Sie werden enttäuscht sein«, fiel mir die Mazurka wieder ein. Ich konnte jetzt nicht mehr zurück, konnte nicht sagen »ich verzichte«, wir mußten durch diese entsetzliche Mazurka hindurch. Ich hörte noch, wie Monika den Hörer auf den Flügel legte, zu spielen anfing, sie spielte ausgezeichnet, der Klang war hervorragend, aber während sie spielte, fing ich an, vor Elend zu weinen. Ich hätte nicht versuchen dürfen, diesen Augenblick zu wiederholen: als ich von Marie nach Hause kam und Leo im Musikzimmer die Mazurka spielte. Man kann Augenblicke nicht wiederholen und nicht mitteilen. Der Herbstabend, bei uns im Park, als Edgar Wieneken die 100 Meter in 10,1 lief. Ich habe ihn eigenhändig gestoppt, eigenhändig für ihn die Strecke abgemessen, und er lief sie an diesem Abend in 10,1. Er war in Hochform, Hochstimmung — aber natürlich glaubte niemand es uns. Es war unser Fehler, daß wir überhaupt darüber sprachen und dem Augenblick dadurch Dauer verleihen wollten. Wir hätten glücklich sein sollen zu wissen, daß er wirklich 10,1 gelaufen war. Später lief er natürlich immer wieder seine 10,9 und 11,0, und niemand glaubte uns, sie lachten uns aus. Über solche Augenblicke reden ist schon falsch, sie wiederholen zu wollen Selbstmord. Es war eine Art Selbstmord, den ich beging, als ich jetzt Monika am Telefon zuhörte, wie sie Mazurka spielte. Es gibt rituelle Augenblicke, die die Wiederholung in sich schließen: wie Frau Wieneken das Brot schnitt — aber ich hatte auch diesen Augenblick mit Marie wiederholen wollen, indem ich sie einmal bat, doch das Brot so zu schneiden, wie Frau Wieneken es getan hatte. Die Küche einer Arbeiterwohnung ist kein Hotelzimmer, Marie war nicht Frau Wieneken — das Messer rutschte ihr aus, sie schnitt sich in den linken Oberarm, und dieses Erlebnis machte uns für drei Wochen krank. So teuflisch kann Sentimentalität ausgehen. Man soll Augenblicke lassen, nie wiederholen.

Ich konnte vor Elend nicht einmal mehr weinen, als Monika mit der Mazurka zu Ende war. Sie muß es gespürt haben. Als sie ans Telefon kam, sagte sie nur leise: »Na, sehen Sie.« Ich sagte: »Es war mein Fehler — nicht Ihrer — verzeihen Sie mir.«

Ich fühlte mich, als läge ich besoffen und stinkend in der Gosse, mit Erbrochenem bedeckt, den Mund voll widerlicher Flüche, und als hätte ich jemand bestellt, mich zu fotografieren, und Monika das Foto geschickt.

»Darf ich Sie noch einmal anrufen?« fragte ich leise. »In ein paar Tagen vielleicht. Ich habe nur eine Erklärung für meine Scheußlichkeit, mir ist so elend, daß ich's nicht beschreiben kann.«Ich hörte nichts, nur ihren Atem, für ein paar Augenblicke, dann sagte sie: »Ich fahre weg, für vierzehn Tage.«

»Wohin?« fragte ich.

»In Exerzitien«, sagte sie, »und ein bißchen malen.«

»Wann kommen Sie her«, fragte ich, »und machen mir ein Omelette mit Pilzen und einen von Ihren hübschen Salaten?«

»Ich kann nicht kommen«, sagte sie, »jetzt nicht.«

»Später?« fragte ich.

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