Mein Vater war so erschüttert, daß ich Angst hatte, er würde es für geschmacklos halten, jetzt wieder von Geld anzufangen. Er empfand unsere Begegnung als tragisch, fing aber schon an, diese Tragik auf einer Ebene edlen Leidens auch ein bißchen zu genießen, Geschmack daran zu finden, und dann würde es schwer sein, ihn wieder auf die monatlichen dreihundert Mark zu bringen, die er mir angeboten hatte. Mit Geld war es ähnlich wie mit dem »fleischlichen Verlangen«. Keiner sprach richtig darüber, dachte richtig daran, es wurde entweder — wie Marie vom fleischlichen Verlangen der Priester gesagt hatte — »sublimiert« oder als ordinär empfunden, nie als das, was es im Augenblick war: Essen oder ein Taxi, eine Schachtel Zigaretten oder ein Zimmer mit Bad. Mein Vater litt, es war offensichtlich und erschütternd. Er wandte sich zum Fenster hin, zog sein Taschentuch und trocknete sich ein paar Tränen. Ich hatte das noch nie gesehen: daß er weinte und sein Taschentuch richtig benutzte. Er bekam jeden Morgen zwei frische Taschentücher herausgelegt und warf sie abends ein bißchen verknautscht, aber nicht merklich angeschmutzt in den Wäschepuff in seinem Badezimmer. Es hatte Zeiten gegeben, in denen meine Mutter aus Sparsamkeit, weil Waschmittel knapp waren, lange Diskussionen mit ihm darüber führte, ob er nicht die Taschentücher wenigstens zwei oder drei Tage mit sich herumtragen könne.
»Du trägst sie ja doch nur mit dir herum, und richtig schmutzig sind sie nie — und es gibt doch Verpflichtungen der Volksgemeinschaft gegenüber.« Sie spielte damit auf »Kampf dem Verderb« und »Groschengrab« an. Aber Vater war — das einzige Mal, soweit ich mich erinnern konnte — energisch geworden und hatte darauf bestanden, morgens seine beiden frischen Taschentücher zu bekommen. Ich hatte noch nie ein Tröpfchen oder Stäubchen, irgend etwas, was Naseputzen notwendig gemacht hätte, an ihm gesehen. Jetzt stand er am Fenster und trocknete nicht nur Tränen, wischte sogar so etwas Ordinäres wie Schweiß von der Oberlippe. Ich ging raus in die Küche, weil er immer noch weinte, ich hörte ihn sogar ein bißchen schluchzen. Es gibt nur wenige Menschen, die man gern dabei hat, wenn man weint, und ich dachte mir, der eigene Sohn, den man kaum kennt, wäre die am wenigsten angemessene Gesellschaft. Ich selbst kannte nur einen Menschen, in dessen Gegenwart ich weinen konnte, Marie, und ich wußte nicht, ob Vaters Geliebte von der Art war, daß er in ihrer Gegenwart weinen konnte. Ich hatte sie nur einmal gesehen, sie lieb und hübsch und auf eine angenehme Weise dumm gefunden, hatte aber viel von ihr gehört. Von Verwandten war sie uns als geldgierige Person geschildert worden, aber in unserer Verwandtschaft galt jedermann als geldgierig, der so unverschämt war, daran zu erinnern, daß ein Mensch hin und wieder essen, trinken und Schuhe kaufen muß. Einer, der Zigaretten, warme Bäder, Blumen, Schnaps für lebensnotwendig erklärt, hat jede Chance, als »irrsinniger Verschwender« in die Chronik einzugehen. Ich stelle mir vor, daß eine Geliebte eine kostspielige Person ist: sie muß ja wohl Strümpfe kaufen, Kleider, muß Miete zahlen und immer gut gelaunt sein, was nur möglich ist bei »vollkommen ausgeglichener Finanzlage«, wie Vater es ausgedrückt hätte. Wenn er nach den sterbenslangweiligen Aufsichtsratssitzungen zu ihr ging, mußte sie doch gut gelaunt sein, gut riechen, beim Friseur gewesen sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie geldgierig war. Wahrscheinlich war sie nur kostspielig, und das war in unserer Verwandtschaft gleichbedeutend mit geldgierig. Wenn der Gärtner Henkels, der dem alten Fuhrmann manchmal half, plötzlich mit erstaunlicher Bescheidenheit darauf aufmerksam machte, daß die Tarife für Hilfsarbeiter »eigentlich schon seit drei Jahren« höher seien als der Lohn, den er von uns bekam, hielt meine Mutter mit schriller Stimme einen zweistündigen Vortrag über die »Geldgier gewisser Leute«. Sie hatte einmal unserem Briefträger fünfundzwanzig Pfennige als Neujahrstrinkgeld gegeben und war empört gewesen, als sie am nächsten Morgen die fünfundzwanzig Pfennig in einem Briefumschlag im Postkasten fand mit einem Zettel, auf den der Briefträger schrieb: »Ich bringe es nicht über mich, Sie zu berauben, gnädige Frau.« Natürlich kannte sie einen Staatssekretär im Postministerium, bei dem sie sich sofort über den »geldgierigen, impertinenten Menschen« beschwerte.
Ich ging in der Küche rasch um die Kaffeepfütze herum, durch die Diele ins Badezimmer, zog den Stöpsel aus der Wanne, und es fiel mir ein, daß ich das erste Bad seit Jahren genommen hatte, ohne wenigstens die Lauretanische Litanei zu singen. Ich stimmte leise summend das Tantum Ergo an, während ich mit der Brause die Schaumreste von den Wänden der sich leerenden Wanne spritzte. Ich versuchte es auch mit der Lauretanischen Litanei, ich habe dieses Judenmädchen Miriam immer gern gehabt, und manchmal fast an es geglaubt. Aber auch die Lauretanische Litanei half nichts, sie war wohl doch zu katholisch, und ich war wütend auf den Katholizismus und die Katholiken. Ich nahm mir vor, Heinrich Behlen anzurufen und Karl Emonds. Mit Karl Emonds hatte ich seit dem fürchterlichen Krach, den wir vor zwei Jahren hatten, nicht mehr gesprochen — und geschrieben hatten wir uns nie. Er war gemein zu mir gewesen, aus einem ganz dummen Grund: Ich hatte seinem jüngsten Sohn, dem einjährigen Gregor, ein rohes Ei in die Milch geschlagen, als ich auf ihn aufpassen mußte, während Karl mit Sabine im Kino und Marie beim »Kreis« war. Sabine hatte mir gesagt, ich solle um zehn die Milch aufwärmen, in die Flasche tun und Gregor geben, und weil der Junge mir so blaß und mickrig vorkam (er weinte nicht einmal, sondern quengelte auf eine mitleiderregende Weise vor sich hin), dachte ich, ein rohes Ei in die Milch geschlagen könnte ihm guttun. Ich trug ihn, während die Milch warm wurde, auf den Armen in der Küche hin und her und sprach mit ihm: »Ei, was kriegt denn unser Jüngelchen, was geben wir ihm denn — ein Eichen« und so weiter, schlug dann das Ei auf, schlug es im Mixer und tat es Gregor in die Milch. Karls andere Kinder schliefen fest, ich war ungestört mit Gregor in der Küche, und als ich ihm die Flasche gab, hatte ich den Eindruck, daß das Ei in der Milch ihm sehr wohltat. Er lächelte und schlief nachher sofort ein, ohne noch lange zu quengeln. Als Karl dann aus dem Kino kam, sah er die Eierschalen in der Küche, kam ins Wohnzimmer, wo ich mit Sabine saß, und sagte: »Das war vernünftig von dir, dir ein Ei zu machen.« Ich sagte, ich hätte das Ei nicht selber gegessen, sondern Gregor gegeben — und sofort brach ein wilder Sturm, ein Geschimpfe los. Sabine wurde regelrecht hysterisch und nannte mich »Mörder«, Karl schrie mich an: »Du Vagabund — Du Hurenbock«, und das machte mich so wild, daß ich ihn »verkrampfter Pauker« nannte, meinen Mantel nahm und im Zorn davonlief. Er rief mir noch in den Flur hinunter nach: »Du verantwortungsloser Lump«, und ich schrie in den Flur hinauf: »Du hysterischer Spießer, du elender Steißtrommler.« Ich habe Kinder wirklich gern, kann auch ganz gut mit ihnen umgehen, besonders mit Säuglingen, ich kann mir nicht denken, daß ein Ei einem einjährigen Kind schadet, aber daß Karl mich >Hurenbock< genannt hatte, kränkte mich mehr als Sabines >Mörder<. Schließlich kann man einer erregten Mutter einiges zubilligen und verzeihen, aber Karl wußte genau, daß ich kein Hurenbock war. Unser Verhältnis war auf eine idiotische Weise gespannt, weil er meine »freie Lebensweise« im Grunde seines Herzens »großartig« fand und mich seine spießige im Grunde meines Herzens anzog. Ich konnte ihm nie klar machen, aufweiche fast tödliche Weise regelmäßig mein Leben war, wie pedantisch es ablief mit Bahnfahrt, Hotel, Training, Auftritt, Mensch-ärgere-dich-nicht-spielen und Biertrinken — und wie mich das Leben, das er führte, gerade wegen seiner Spießigkeit anzog. Und er dachte natürlich, wie alle, daß wir absichtlich keine Kinder bekämen, Maries Fehlgeburten waren ihm »verdächtig«; er wußte nicht, wie gern wir Kinder gehabt hätten. Ich hatte trotz allem telegrafisch um einen Anruf gebeten, würde ihn aber nicht anpumpen. Er hatte inzwischen vier Kinder und kam nur sehr schlecht mit dem Geld hin.