Er sagte »Hans«, machte einen ungeschickten Versuch, mich zu umarmen. Ich ging vor ihm her in die Wohnung, nahm ihm Hut und Mantel ab, öffnete die Wohnzimmertür und zeigte auf die Couch. Er setzte sich umständlich.
Wir waren beide sehr verlegen. Verlegenheit scheint zwischen Eltern und Kindern die einzige Möglichkeit der Verständigung zu sein. Wahrscheinlich hatte meine Begrüßung »Vater« sehr pathetisch geklungen, und das steigerte die Verlegenheit, die ohnehin unvermeidlich war. Mein Vater setzte sich in einen der rostfarbenen Sessel und sah mich kopfschüttelnd an: mit meinen klatschnassen Pantoffeln, nassen Socken, in dem viel zu langen Bademantel, der überflüssigerweise auch noch feuerrot war. Mein Vater ist nicht groß, zart und auf eine so gekonnt nachlässige Weise gepflegt, daß sich die Fernsehleute um ihn reißen, wenn irgendwelche Wirtschaftsfragen diskutiert werden. Er strahlt auch Güte aus, Vernunft, und ist inzwischen als Fernsehstar berühmter als er als Braunkohlenschnier je hätte werden können. Er haßt jede Nuance der Brutalität. Man würde, wenn man ihn so sieht, erwarten, daß er Zigarren raucht, keine dicken, sondern leichte, schlanke Zigarren, aber daß er Zigaretten raucht, wirkt bei einem fast siebzigjährigen Kapitalisten überraschend flott und fortschrittlich. Ich verstehe schon, daß sie ihn in alle Diskussionen schicken, bei denen es um Geld geht. Man sieht ihm an, daß er nicht nur Güte ausstrahlt, sondern auch gütig ist. Ich hielt ihm die Zigaretten hin, gab ihm Feuer, und als ich mich dabei zu ihm hinbeugte, sagte er: »Ich weiß ja nicht viel über Clowns, aber doch einiges. Daß sie in Kaffee baden, ist mir neu.« Er kann sehr witzig sein. »Ich bade nicht in Kaffee, Vater«, sagte ich, »ich wollte nur Kaffee aufgießen, das ist mir mißglückt.« Spätestens bei diesem Satz hätte ich wieder Papa sagen sollen, aber es war zu spät. »Möchtest du was trinken?« Er lächelte, sah mich mißtrauisch an und fragte: »Was hast du denn im Haus?« Ich ging in die Küche: im Eisschrank war der Kognak, es standen auch ein paar Flaschen Mineralwasser da, Zitronenlimonade und eine Flasche Rotwein. Ich nahm von jeder Sorte eine Flasche, trug sie ins Wohnzimmer und reihte sie vor meinem Vater auf dem Tisch auf. Er nahm die Brille aus der Tasche und studierte die Etiketts. Kopfschüttelnd schob er als erstes den Kognak beiseite. Ich wußte, daß er gern Kognak trank, und sagte gekränkt: »Aber es scheint eine gute Marke zu sein.« — »Die Marke ist vorzüglich«, sagte er, »aber der beste Kognak ist keiner mehr, wenn er eisgekühlt ist.«
»Mein Gott«, sagte ich, »gehört Kognak denn nicht in den Eisschrank?« Er blickte mich über seine Brille hinweg an, als wäre ich soeben der Sodomie überführt worden. Er ist auf seine Weise auch ein Ästhet, er bringt es fertig, den Toast morgens dreimal, viermal in die Küche zurückzuschicken, bis Anna genau die richtige Bräunungsstufe herausbringt, ein stiller Kampf, der jeden Morgen neu beginnt, denn Anna hält Toast sowieso für »angelsächsischen Blödsinn«. — »Kognak im Eisschrank«, sagte mein Vater verächtlich, »wußtest du wirklich nicht — oder tust du nur so? Man weiß ja nie, wo man mit dir dran ist!«
»Ich wußte es nicht«, sagte ich. Er sah mich prüfend an, lächelte und schien überzeugt.
»Dabei habe ich soviel Geld für deine Erziehung ausgegeben«, sagte er. Das sollte ironisch klingen, so wie eben ein fast siebzigjähriger Vater mit seinem voll erwachsenen Sohn spricht, aber die Ironie gelang ihm nicht, sie fror an dem Wort Geld fest. Er verwarf kopfschüttelnd auch die Zitronenlimonade und den Rotwein und sagte: »Unter diesen Umständen erscheint mir Mineralwasser als das sicherste Getränk.« Ich holte zwei Gläser aus der Anrichte, öffnete eine Mineralwasserflasche. Wenigstens das schien ich richtig zu machen. Er nickte wohlwollend, während er mir dabei zusah.
»Stört es dich«, sagte ich, »wenn ich im Bademantel bleibe?«
»Ja«, sagte er, »es stört mich. Zieh dich bitte ordentlich an. Dein Aufzug und dein — dein Kaffeegeruch verleihen der Situation eine Komik, die ihr nicht entspricht. Ich habe ernsthaft mit dir zu reden. Und außerdem — entschuldige, daß ich so offen spreche — hasse ich, wie du wohl noch weißt, jede Erscheinungsform der Schlamperei.«
»Es ist keine Schlamperei«, sagte ich, »nur eine Erscheinungsform der Entspannung.«
»Ich weiß nicht«, sagte er, »wie oft du in deinem Leben mir wirklich gehorsam gewesen bist, jetzt bist du mir nicht mehr zum Gehorsam verpflichtet. Ich bitte dich nur um einen Gefallen.«
Ich war erstaunt. Mein Vater war früher eher schüchtern gewesen, fast schweigsam. Er hat beim Fernsehen zu diskutieren und argumentieren gelernt, mit einem »zwingenden Charme«. Ich war zu müde, mich diesem Charme zu entziehen.
Ich ging ins Badezimmer, zog mir die kaffeenassen Socken aus, trocknete die Füße ab, zog Hemd, Hose, Rock an, lief barfuß in die Küche, häufte mir die gewärmten weißen Bohnen auf einen Teller und schlug die weichgekochten Eier einfach über den Bohnen aus, kratzte die Eireste mit dem Löffel aus den Schalen, nahm eine Schnitte Brot, einen Löffel und ging ins Wohnzimmer. Mein Vater blickte auf meinen Teller mit einer Miene, die eine sehr gut gekonnte Mischung aus Erstaunen und Ekel darstellte.
»Entschuldige«, sagte ich, »ich habe seit heute morgen neun Uhr nichts mehr gegessen, und ich denke, es liegt dir nichts daran, wenn ich ohnmächtig zu deinen Füßen niederfalle.« Er brachte ein gequältes Lachen zustande, schüttelte den Kopf, seufzte und sagte: »Na gut — aber weißt du, nur Eiweiß ist einfach nicht gesund.«
»Ich werde anschließend einen Apfel essen«, sagte ich.
Ich rührte die Bohnen und die Eier zusammen, biß in das Brot und nahm einen Löffel von meinem Brei, der mir sehr gut schmeckte.
»Du solltest wenigstens etwas von diesem Tomatenzeug drauftun«, sagte er.
»Ich hab keins im Hause«, sagte ich. Ich aß viel zu hastig, und die notwendigen Geräusche, die ich beim Essen machte, schienen meinem Vater zu mißfallen. Er unterdrückte seinen Ekel, aber nicht überzeugend, und ich stand schließlich auf, ging in die Küche, aß stehend am Eisschrank meinen Teller leer und sah mir selbst während des Essens in dem Spiegel zu, der über dem Eisschrank hängt. Ich hatte nicht einmal das wichtigste Training in den letzten Wochen absolviert: das Gesichtstraining. Ein Clown, dessen Haupteffekt sein unbewegliches Gesicht ist, muß sein Gesicht sehr beweglich halten. Früher steckte ich mir immer, bevor ich mit dem Training begann, die Zunge heraus, um mir mich erst einmal ganz nahe zu bringen, bevor ich mich mir wieder entfremden konnte. Später ließ ich das und blickte mir, ohne irgendwelche Tricks anzuwenden, selbst ins Gesicht, täglich eine halbe Stunde lang, bis ich zuletzt gar nicht mehr da war: da ich zum Narzißmus nicht neige, war ich oft nahe daran, verrückt zu werden. Ich vergaß einfach, daß ich es war, dessen Gesicht ich da im Spiegel sah, drehte den Spiegel um, wenn ich mit dem Training fertig war, und wenn ich später im Laufe des Tages zufällig im Vorübergehen in einen Spiegel blickte, erschrak ich: das war ein fremder Kerl in meinem Badezimmer, auf der Toilette, ein Kerl, von dem ich nicht wußte, ob er ernst oder komisch war, ein langnasiges, blasses Gespenst — und ich rannte, so schnell ich konnte, zu Marie, um mich in ihrem Gesicht zu sehen. Seitdem sie weg ist, kann ich mein Gesichtstraining nicht mehr absolvieren: ich habe Angst, verrückt zu werden. Ich ging immer, wenn ich vom Training kam, ganz nah an Marie heran, bis ich mich in ihren Augen sah: winzig, ein bißchen verzerrt, doch erkennbar: das war ich, und war doch derselbe, vor dem ich im Spiegel Angst hatte. Wie sollte ich Zohnerer erklären, daß ich ohne Marie gar nicht mehr vor dem Spiegel trainieren konnte? Mich selbst beim Essen zu beobachten war nur traurig, nicht erschreckend. Ich konnte mich an dem Löffel festhalten, konnte die Bohnen erkennen, Spuren von Eiweiß und Eidotter darin, die Scheibe Brot, die immer kleiner wurde. Der Spiegel bestätigte mir so etwas rührend Reales wie einen leergegessenen Teller, eine Scheibe Brot, die kleiner wurde, einen leicht beschmierten Mund, den ich mit dem Rockärmel abwischte. Ich trainierte nicht. Es war niemand da, der mich aus dem Spiegel zurückgeholt hätte. Ich ging langsam ins Wohnzimmer zurück.