Mein vegetatives Nervensystem verträgt bestimmte Erscheinungsformen von Unnatur nicht. Daß das Seiende sei und das Schwebende schwebe — mir wird angst, wenn ich solche Ausdrücke höre. Da ist es mir schon lieber, wenn ein hilfloser dicklicher Pastor von der Kanzel die unfaßbaren Wahrheiten dieser Religion herunterstammelt und sich nicht einbildet, »druckreif« zu sprechen. Marie war traurig, weil mir gar nichts an Sommerwilds Predigten imponiert hatte. Besonders quälend war, daß wir nach der Predigt in einem Café in der Nähe der Korbiniankirche hockten, das ganze Café sich mit künstlerischen Menschen füllte, die aus Sommerwilds Predigt kamen. Dann kam er selbst, es bildete sich eine Art Kreis um ihn, und wir wurden in den Kreis einbezogen, und dieses halbseidene Zeug, das er von der Kanzel heruntergesagt hatte, wurde noch zwei-, drei-, bis zu viermal wiedergekäut. Eine bildhübsche junge Schauspielerin mit goldenem langen Haar und einem Engelsgesicht, von der Marie mir zuflüsterte, daß sie schon zu »drei Vierteln« konvertiert sei, war drauf und dran, Sommerwild die Füße zu küssen. Ich glaube, er hätte sie nicht daran gehindert.
Ich drehte das Badewasser ab, zog den Rock aus, Hemd und Unterhemd über den Kopf, und warf sie in die Ecke und wollte gerade ins Bad steigen, als das Telefon klingelte. Ich kenne nur einen Menschen, der das Telefon so vital und männlich ans Klingeln bringen kann: Zohnerer, mein Agent. Er spricht so nah und aufdringlich ins Telefon, daß ich jedesmal Angst habe, seine Spucke mitzubekommen. Wenn er mir Freundliches sagen will, fängt er das Gespräch mit: »Sie waren gestern großartig« an; das sagt er einfach, ohne zu wissen, ob ich wirklich großartig war oder nicht; wenn er mir Unfreundliches sagen will, fängt er an mit: »Hören Sie, Schnier, Sie sind kein Chaplin«; er meinte damit gar nicht, ich wäre kein so guter Clown wie Chaplin, sondern nur, ich wäre nicht berühmt genug, um mir irgend etwas zu erlauben, über das sich Zohnerer geärgert hat. Heute würde er nicht einmal Unfreundliches sagen, er würde auch nicht, wie er es immer tat, wenn ich eine Vorstellung abgesagt hatte, den bevorstehenden Weltuntergang verkünden. Er würde mich nicht einmal der »Absagehysterie« bezichtigen. Wahrscheinlich hatten auch Offenbach, Bamberg und Nürnberg abgesagt, und er würde mir am Telefon vorrechnen, wieviel Unkosten inzwischen auf meinem Konto stünden. Der Apparat klingelte weiter, kräftig, männlich, vital, ich war drauf und dran, ein Sofakissen drüberzuwerfen —, zog aber meinen Bademantel über, ging ins Wohnzimmer und blieb vor dem klingelnden Telefon stehen. Manager haben Nerven, Standvermögen, Worte wie »Sensibilität der Künstlerseele« sind für sie Worte wie »Dortmunder Aktienbier«, und jeder Versuch, mit ihnen ernsthaft über Kunst und Künstler zu reden, wäre reine Atemverschwendung. Sie wissen auch genau, daß selbst ein gewissenloser Künstler tausendmal mehr Gewissen hat als ein gewissenhafter Manager, und sie besitzen eine Waffe, gegen die keiner ankommt: die nackte Einsicht in die Tatsache, daß ein Künstler gar nicht anders kann, als machen, was er macht: Bilder malen, als Clown durch die Lande ziehen, Lieder singen, aus Stein oder Granit »Bleibendes« herauszuhauen. Ein Künstler ist wie eine Frau, die gar nicht anders kann als lieben, und die auf jeden hergelaufenen männlichen Esel hereinfällt. Zur Ausbeutung eignen sich am besten Künstler und Frauen, und jeder Manager hat zwischen eins und neunundneunzig Prozent von einem Zuhälter. Das Klingeln war reines Zuhälterklingeln. Er hatte natürlich von Kostert erfahren, wann ich von Bochum abgefahren war, und wußte genau, daß ich zu Hause war. Ich band den Bademantel zu und nahm den Hörer auf. Sofort schlug mir sein Bieratem ins Gesicht. »Verflucht, Schnier«, sagte er, »was soll das, mich so lange warten zu lassen.«
»Ich unternahm gerade den bescheidenen Versuch, ein Bad zu nehmen«, sagte ich, »sollte das vertragswidrig sein?«
»Ihr Humor kann nur Galgenhumor sein«, sagte er.
»Wo ist der Strick«, sagte ich, »baumelt er schon?«
»Lassen wir die Symbolik«, sagte er, »reden wir über die Sache.«
»Ich habe nicht mit Symbolen angefangen«, sagte ich.
»Egal, wer von was angefangen hat«, sagte er, »Sie scheinen also fest entschlossen, künstlerisch Selbstmord zu begehen. «
»Lieber Herr Zohnerer«, sagte ich leise, »würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie Ihr Gesicht etwas vom Hörer abwendeten — ich krieg Ihren Bieratem so unmittelbar ins Gesicht.«
Er fluchte in Rotwelsch vor sich hin: »Knordenpuppe, Faikenegon«, lachte dann: »Ihre Frechheit scheint ungebrochen. Wovon sprachen wir noch?«
»Von Kunst«, sagte ich, »aber wenn ich bitten dürfte: reden wir lieber übers Geschäft.«
»Dann hätten wir kaum noch miteinander zu reden«, sagte er, »hören Sie, ich gebe Sie nicht auf. Verstehen Sie mich?«
Ich konnte vor Erstaunen nicht antworten. »Wir ziehen Sie für ein halbes Jahr aus dem Verkehr, und dann baue ich Sie wieder auf. Ich hoffe, dieser Schleimscheißer in Bochum hat Sie nicht ernsthaft getroffen?«
»Doch«, sagte ich, »er hat mich betrogen — um eine Flasche Schnaps und das, was eine Fahrt erster Klasse nach Bonn mehr kostet als zweiter.«
»Es war Schwachsinn von Ihnen, sich das Honorar herunterhandeln zu lassen. Vertrag ist Vertrag — und durch den Unfall ist Ihr Versagen erklärt.«
»Zohnerer«, sagte ich leise, »sind Sie wirklich so menschlich oder...«
»Quatsch«, sagte er, »ich habe Sie gern. Falls Sie das noch nicht bemerkt haben, sind Sie blöder, als ich dachte, und außerdem, in Ihnen steckt geschäftlich noch was drin. Lassen Sie doch diese kindische Sauferei.«
Er hatte recht. Kindisch war der richtige Ausdruck dafür.
Ich sagte: »Es hat mir aber geholfen.«
»Wobei?« fragte er. »Seelisch«, sagte ich.
»Quatsch«, sagte er, »lassen Sie doch die Seele aus dem Spiel. Wir könnten natürlich Mainz wegen Vertragsbruchs verklagen und würden wahrscheinlich gewinnen — aber ich rate ab. Ein halbes Jahr Pause — und ich baue Sie wieder auf.«
»Und wovon soll ich leben?« fragte ich. »Na«, sagte er, »ein bißchen wird Ihr Vater doch rausrücken.«
»Und wenn ers nicht tut?«
»Dann suchen Sie sich eine nette Freundin, die Sie so lange aushält.«
»Ich würde lieber tingeln gehen«, sagte ich, »über Dörfer und Städtchen, mit dem Fahrrad.«
»Sie täuschen sich«, sagte er, »auch in Dörfern und Städtchen werden Zeitungen gelesen, und im Augenblick werde ich Sie nicht für zwanzig Mark den Abend an Jünglingsvereine los.«
»Haben Sie's versucht?« fragte ich.
»Ja«, sagte er, »ich habe den ganzen Tag Ihretwegen telefoniert. Nichts zu machen. Es gibt nichts Deprimierenderes für die Leute als einen Clown, der Mitleid erregt. Das ist wie ein Kellner, der im Rollstuhl kommt und Ihnen Bier bringt. Sie machen sich Illusionen.« »Sie nicht?« fragte ich. Er schwieg, und ich sagte: »Ich meine, wenn Sie annehmen, nach einem halben Jahr könnte ichs wieder probieren.«
»Vielleicht«, sagte er, »aber es ist die einzige Chance. Besser wäre, ein ganzes Jahr warten.«
»Ein Jahr«, sagte ich, »wissen Sie, wie lange ein Jahr dauert?«
»Dreihundertfünfundsechzig Tage«, sagte er, und er wendete mir wieder rücksichtslos sein Gesicht zu. Der Bieratem ekelte mich an.
»Wenn ichs unter einem anderen Namen versuchte«, sagte ich, »mit einer neuen Nase und anderen Nummern. Lieder zur Guitarre und ein bißchen Jonglieren.«
»Quatsch«, sagte er, »Ihre Singerei ist zum Heulen und Ihr Jonglieren ist purer Dilettantismus. Alles Quatsch. Sie haben das Zeug zu einem ganz guten Clown, vielleicht sogar zu einem guten, und melden Sie sich nicht wieder bei mir, ehe Sie nicht mindestens ein Vierteljahr lang täglich acht Stunden trainiert haben. Ich komme dann und schau mir Ihre neuen Nummern an — oder alte, aber trainieren Sie, lassen Sie die blöde Sauferei.« Ich schwieg. Ich hörte ihn keuchen, an seiner Zigarette ziehen.