Mit Hyperion an der Spitze, die Admiralsflagge im Vortopp, die anderen Linienschiffe im Kielwasser und alle zusammen in einem steifen Nordwest heftig arbeitend, liefen sie aus und weckten wahrscheinlich ebenso viele Spekulationen wie bei ihrer Ankunft. Bolitho hatte die berühmte Silhouette des Felsens betrachtet, bis sie sich im Dunst verlor. Die in den klaren Himmel aufsteigende, eigenartige Dunstwolke war eine gewohnte Erscheinung, wenn der Wind die erhitzten Steine abkühlte, so daß der Felsen aus der Entfernung wie ein schwelender Vulkan wirkte.
Der größte Teil der Hyperion — Besatzung kannte sich schon seit der neuerlichen Indienststellung des Schiffes. Keen war fast der einzige Fremde unter ihnen. Doch als ein Tag dem anderen folgte und jedes Schiff Segelmanöver und Geschützexerzieren übte, war Bolitho dem Schicksal dankbar, daß es ihm Keen zurückgebracht hatte.
Im Gegensatz zu Haven kannte er Bolithos Eigenarten und Maßstäbe. Er hatte als Fähnrich und als Leutnant unter ihm gedient, ehe er schließlich sein Flaggkapitän wurde. Die
Mannschaft spürte das Band zwischen dem Kommandanten und dem Admiral. Die älteren Leute nickten und erkannten es an, daß Keen nicht zu stolz war, sie zu fragen, wenn er etwas über das Schiff nicht wußte. Es kam Bolitho nicht in den Sinn, daß Keen damit vielleicht seinem Beispiel folgte.
Oft dachte er an Catherine und an ihren Abschied. Sie hatte darauf bestanden, ihn die ganze Strecke nach Portsmouth zu begleiten, als er sich wieder auf der kleinen Firefly einschiffte. Keen hatte sich schon früher verabschiedet und war mit Adam in einer anderen Kutsche vorausgefahren. Neben den in der Sonne dampfenden Pferden hatte sich Catherine an ihn geklammert und sein Gesicht gesucht, es mit Zärtlichkeit und Trauer gestreichelt, als Allday meldete, daß das Boot warte. Er hatte sie gebeten, in der Kutsche zu bleiben, doch sie war ihm zu der hölzernen Treppe gefolgt, wo so viele Seeoffiziere das Land verließen.
Wie immer hatte sich dort eine kleine Gruppe Schaulustiger eingefunden, sehr wenige unter ihnen im dienstpflichtigem Alter, denn nur ein Narr hätte die Begegnung mit einer Preßgang riskiert. Die Leute hatten ihnen Beifall gespendet und Bolitho erkannt. Einer hatte gerufen:»Viel Glück, Dick, und der Lady ebenfalls!»
Zum erstenmal hatte er Tränen in Catherines Augen gesehen.»Sie beziehen mich mit ein.»
Als das Boot von den Stufen ablegte, hatte Bolitho sich umgedreht, aber da war sie schon verschwunden. Und doch, als sie über das unruhige Wasser des Solent schaukelten, spürte er, daß sie ihn bis zur letzten Sekunde beobachtete.
Es fiel ihm ein, wie Belinda sie in ihrem Zorn beschimpft hatte. Allday dagegen hatte Catherine eine Seemannsbraut genannt — und das stimmte. Bei ihm war es das größte Kompliment von allen.
Während die Fregatte Tybalt und die Korvette Phaedra nun jeden Küstenfahrer und Händler jagten und durchsuchten, der dumm genug war, sich in Reichweite ihrer Kanonen zu begeben, studierten Bolitho und Keen die knappen Berichte. Tag für Tag drangen sie weiter ins Mittelmeer vor.
Man sagte, daß Nelson sich im Atlantik mit seinem Freund und Zweiten Befehlshaber, Vizeadmiral Collingwood, vereinigt hätte. Nelson war wahrscheinlich zu der Überzeugung gelangt, daß der Feind die britischen Geschwader durch List und schnelle Vorstöße zu zersplittern suche. Erst wenn ihm das gelang, würde Napoleon zur Invasion über den Kanal ansetzen. Yovell hatte gemeint:»Wenn das stimmt, Sir Richard, sind Sie jetzt der ranghöchste Offizier im Mittelmeer.»
Bolitho hatte das noch kaum in Betracht gezogen. Doch falls es zutraf, bedeutete es für ihn eins: Wenn ihm der Feind über den Weg lief, brauchte er keinen erst lange zu fragen. Das machte die Last der Befehlsgewalt erträglicher.
Eines Vormittags sah er beim Spaziergang auf dem Achterdeck Leutnant Parris, der sich unsicher am Schanzkleid Bewegung verschaffte. Sein Arm war an der Seite festgeschnallt. Parris hatte sich seit Havens mörderischer Attacke mehr in sich zurückgezogen. Keen meinte, er wäre wohl zufrieden, ihn als Ersten zu haben, könne sich aber noch kein Urteil erlauben.
Parris ging langsam zur Leeseite des Achterdecks und suchte Halt an einem Want, um dem Flug einiger Seevögel zuzusehen. Bolitho trat zu ihm.»Wie fühlen Sie sich?»
Parris versuchte, sich aufzurichten, zuckte aber schmerzlich zusammen und bat um Entschuldigung.»Es geht nur langsam aufwärts, Sir Richard. «Sein Blick wanderte zu den geblähten Segeln und den winzigen Gestalten hinauf, die im Rigg arbeiteten.»Ich würde mich weitaus besser fühlen, wenn ich da oben wieder herumklettern könnte.»
Bolitho betrachtete sein ausgeprägtes Zigeunerprofil. War das ein Frauenheld?
Unter dem prüfenden Blick wurde Parris verlegen.»Ich möchte mich dafür bedanken, daß ich an Bord bleiben durfte, Sir Richard, auch wenn ich im Augenblick nutzlos bin.»
«Die letzte Entscheidung hatte Kapitän Keen.»
Parris verstand, seine Augen verloren sich in Erinnerungen.»Er macht dieses alte Schiff wieder lebendig. «Er zögerte, schien zu überlegen, wie weit er gehen konnte.»Ich hörte von Ihren Schwierigkeiten in London. Es tut mir leid.»
Bolitho schaute über das blaue Wasser; sein verletztes Auge fing an, sich in der feuchten Luft leicht zu trüben.»Die kühnsten Maßnahmen sind gewöhnlich die sichersten. Ich glaube, auch das ist eine von Nelsons Redensarten.»
Parris trat zurück, als Keen erschien.»Ich wünsche Ihnen viel Glück, Sir Richard. Ihnen beiden.»
Keen traf Bolitho bei den Hängemattsnetzen.»Wir werden Malta morgen während der Vormittagswache sichten. «Er deutete auf die kräftige Gestalt des Segelmeisters.»Mr. Penhaligon hat mich überzeugt.»
Bolitho lächelte.»Ich unterhielt mich soeben mit dem Ersten Leutnant. Ein merkwürdiger Bursche.»
Keen lachte.»Ich weiß, ich sollte nicht darüber scherzen. Trotzdem, ich habe schon Kommandanten gehabt, die ich liebend gern erschossen hätte. Aber niemals war es umgekehrt.»
Unten auf dem Bootsdeck drehte sich Allday um. Er hörte sie lachen. Keens alter Bootsführer war auf ihrem letzten Schiff, der Argonaute, gefallen. Allday hatte einen neuen Mann für ihn ausgesucht, aber insgeheim gewünscht, es hätte sein Sohn sein können. Keens neuer Mann hieß Tojohns. Vorher war er für den Vortopp verantwortlich gewesen. Jetzt stand er neben ihm und blickte ebenfalls nach achtern.»Die Hyperion ist ein neues Schiff, seit er an Bord gekommen ist. Kennst du ihn schon lange?»
Allday lächelte.»Ein paar Jahre. Er paßt mir und ist gut für Sir Richard. Damit hat sich's.»
Auch Allday gedachte des Abschieds von Portsmouth Point. Das Publikum jubelte und schwenkte die Hüte. Frauen lächelten, bis sie in Tränen ausbrachen. Er runzelte die Stirn, als der andere Bootsführer seine Gedanken unterbrach.»Warum hast du gerade mich ausgesucht?«fragte Tojohns.
Allday überlegte. Tojohns war ein guter Seemann und wußte sich auch bei einer Prügelei zu behaupten. Er ähnelte nicht im geringsten Old Hogg, Keens früherem Bootsführer. Die beiden waren wie Feuer und Wasser, was man auch über ihn und Stockdale gesagt hatte. Allday antwortete:»Weil du soviel redest.»
Tojohns lachte laut heraus, schwieg aber, als ein vorbeigehender Fähnrich ihn scharf ansah. Er konnte sic h nur schwer an seine neue Rolle gewöhnen. Nun brauchte er nicht mehr bei jedem schrillen Pfiff mit seinen Vortoppgasten aufzuentern, um die wildgewordenen Segel zu bändigen. Wie Allday war er vom Wachegehen befreit. Zum erstenmal in seinem Leben stellte er etwas dar.
Allday sah ihn eindringlich an.»Merke dir: Was du auch dort achtern mitbekommst, behalte es für dich. Verstanden?«Tojohns nickte. Dort achtern… Ja, er war jetzt jemand.
Von der Back der Hyperion schlug es sechs Glasen. Kapitän Valentine Keen unterdrückte ein Lächeln, berührte seinen Hut und grüßte Bolitho.»Der Meister hat unsere Ankunft richtig berechnet, Sir Richard.»