Mittagsbreite zugesehen, wie er ein Auge auf die versammelten Fähnriche warf, deren Navigation und maritime Ausbildung ihm oblag. Immer war er bereit zu einem offenen Kommentar, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten. Doch war er niemals sarkastisch zu den jungen Herren, und sie hatten sichtlich Achtung vor ihm.
Penhaligon hatte seine Karten und Notizen mit den Beobachtungen von Price verglichen und nur bemerkt:»Der wußte, wie man navigiert. «Das war ein großes Lob aus seinem Mund.
Ein Decksoffizier näherte sich Leutnant Quayle mit gesenkter Stirn. Bolitho war froh, allein zu sein, als Quayle hinwegeilte. Er hatte das Gesicht des Seemanns gesehen; es zeigte nicht nur Respekt vor dem Offizier, sondern schon Furcht.
Seine Hand strich über die abgenutzte, von der Sonne heiße Reling. Er dachte an das letzte Treffen mit Catherine im Bootsschuppen, an ihre Stimme und Leidenschaftlichkeit. Er mußte sie wiedersehen, wenn auch nur, um ihr alles zu erklären. Aber was erklären? Es nützte nichts, würde sie nur quälen — und ihnen beiden schaden. Sie schien unzugänglich, nur bestrebt, ihm zu sagen, was er ihr angetan hatte. Und doch.
Er erinnerte sich noch lebhaft an ihr erstes Treffen, als sie ihn für den Tod ihres Ehemannes verflucht hatte. Das war schon ihr zweiter gewesen. Es hatte auch einen ersten gegeben, den sie kaum erwähnte, einen haltlosen Glücksritter, der in Spanien bei einem trunkenen Streit umgekommen war. Wer war sie damals, und woher kam sie überhaupt? Bezaubernd und beeindruckend, wie sie heute war, konnte man sie nur schwer in jener Gosse sehen, von der sie in einem Augenblick der Intimität einmal gesprochen hatte.
Und Somervell. War er wirklich so kühl und distanziert, wie er sich gab? Amüsierte ihn das Erwachen ihrer alten Erinnerungen, das er je nach Belieben ignorieren oder ausnutzen konnte? Würde er jemals erfahren, daß sie Bolitho aus der Ferne beobachtet hatte, um zu hören, was er tat oder ob er im Gefecht gefallen war?
Quayle war zum Ruder gegangen und maßregelte den Fähnrich der Wache. Dieser war wie alle anderen vorschriftsmäßig gekleidet, mußte aber bei der Hitze Blut und Wasser schwitzen. Wäre Keen Flaggkapitän gewesen, hätte er. Entschlossen rief Bolitho:»Lassen Sie meinen Diener holen!»
Ozzard entstieg dem Dunkel unter Deck und stand blinzelnd in der Helle, mehr denn je einem Maulwurf ähnelnd: klein, treu und immer bereit zu dienen, wenn er gebraucht wurde. Er hatte Bolitho sogar vorgelesen, als dieser teilweise erblindet war, denn er war gebildet und früher Gehilfe in einer Anwaltskanzlei gewesen. Dann war er zur See gegangen, um einer Anklage zu entfliehen; manche sagten, dem Strick des Henkers.
Bolitho winkte ihn heran.»Hier, mein Rock.»
Ozzard zuckte nicht mit der Wimper, als der Vizeadmiral ihm das Kleidungsstück über den Arm warf und den Hut reichte. Andere sahen zu. Ab morgen konnte auch Haven seinen Offizieren erlauben, sich an Deck in Hemdsärmeln zu bewegen. Wenn es erst einer Uniform bedurfte, um aus einem Mann einen Offizier zu machen, dann gab es für sie alle keine Hoffnung mehr.
Ozzard deutete ein Lächeln an und hastete dankbar wieder in den Schatten. Er kannte Bolithos freudige und trübe Stimmungen. Zuviel der letzteren, dachte er. Er eilte am Wachposten vorbei und betrat die große Tageskajüte, jenes Reich, das er mit Bolitho teilte. Dort untersuchte er den Rock nach Spuren von Teer oder Talg. Dann erblickte er sein Spiegelbild und hielt sich den Rock vor. Er reichte ihm fast bis zu den Fußknöcheln. Ozzard lächelte schmerzlich.
Unwillkürlich packte er den Uniformstoff fester, als er sich jenes furchtbaren Tages erinnerte, an dem der Anwalt ihn früher nach Hause geschickt hatte. Deshalb überraschte er seine junge Frau nackt in den Armen eines Mannes, den er seit Jahren kannte und respektierte. Sie hatten versucht, ihn zu täuschen, aber etwas war in ihm gestorben, als er sie so daliegen sah. Später, als er das kleine Haus an der Themse in Wapping Wall verließ, war ihm das Schild des Ladeninhabers gegenüber ins Auge gefallen: Tom
Ozzard, Schreiber. Auf der Stelle hatte er sich entschlossen, daß dies seine neue Identität sein solle.
Nicht einmal hatte er sich umgesehen nach jenem Zimmer, wo er ihre Lügen mit einer Axt beendet, wo er sie zerhackt und zerschnitten hatte, bis sie unkenntlich waren. Am Tower Hill war er dann auf eine Preßgang gestoßen. Sie waren nie weit entfernt, immer auf Freiwillige hoffend oder auf einen Betrunkenen, der Handgeld nahm und sich dann auf einem Kriegsschiff wiederfand, bis er abmustern konnte oder getötet wurde.
Der Leutnant hatte ihn zweifelnd angesehen. Erstklassige Seeleute, starke junge Männer, die brauchte der König damals! Jetzt sahen sie das anders. Jetzt hätten sie auch einen Krüppel auf zwei Krücken genommen.
Tom Ozzard, Steward des Vizeadmirals, hängte den Rock sorgfältig fort. Er war ein Mann ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, furchtsam, ja zu Tode erschrocken in der Schlacht, wenn das Schiff um ihn herum erbebte.
Tief in seinem Herzen ahnte Ozzard, daß er eines Tages in das kleine Haus in Wapping Wall zurückkehren würde. Dann, aber erst dann, würde er seine Tat gestehen.
Alle Gedanken an Bord waren auf morgen gerichtet. Vom Ausguck hoch oben im Masttopp bis zu Allday, der in seiner Hängematte unter Deck einen gewaltigen Kater ausschlief, von Ozzard bis zu dem Mann in der Achterkajüte, dem er diente, dachten alle an morgen.
Hyperion hatte in all den Jahren und Weltgegenden, in die sie gesegelt war, schon viele Männer kommen und gehen gesehen. Weit vor dem Dreizack ihrer Galionsfigur lag der Horizont. Und jenseits davon konnte nur das Schicksal erkennen, was auf sie zukam.
V Dem Feind entgegen
Bolitho schritt über die nassen Planken des Achterdecks und suchte an den Finknetzen der Luvseite Halt. Es war noch dunkel, nur vereinzelt durchbrachen überkommende Spritzer die Schwärze der See.
Wie Schemen eilten Leute an ihm vorbei und zu einer kleinen Gruppe an der Reling, wo Haven und zwei seiner Leutnants Meldungen empfingen und neue Befehle erteilten.
Aus dem Batteriedeck drangen Stimmen. Dort arbeiteten die Matrosen an den Achtzehnpfündern, während im Deck darunter die schwere Batterie der Zweiunddreißigpfünder, obwohl ebenso geschäftig, noch still blieb. Dort unten waren es die Geschützbedienungen gewohnt, in ständiger Düsternis zu hantieren.
Daß man die Leute zu einem vorverlegten Frühstück gepfiffen hatte, war vermutlich unnötige Vorsicht, denn bei Tagesanbruch würden sie noch immer außerhalb der Sichtweite des Landes sein — bis auf die Ausgucksleute im Mast, wenn sie Glück hatten. In der ersten Stunde hatte Hyperion Kurs geändert und steuerte nun genau West. Ihre Rahen waren hart angebraßt, die Leinwand war auf Vor- und Marssegel verringert. Das erklärte die unruhigen Schiffsbewegungen. Aber Bolitho hatte schon den Wetterumschwung gespürt, als seine Füße den feuchten Läufer vor seiner Schwingkoje berührten. Der Wind wehte stetig, hatte aber zugenommen. Nach der Windstille und glasigen Dünung kam er ihm ungewohnt stark vor.
Jeder in der Nähe hatte den Admiral an Deck bemerkt und war stillschweigend zur Leeseite ausgewichen, um ihm Platz zu machen. Er sah nach oben zu den Marssegeln. Sie flatterten so geräuschvoll, als wollten sie ihre Unzufriedenheit ausdrücken.
Den größten Teil der Nacht hatte er wachgelegen. Dann, als die Leute gerufen wurden, um das Schiff vorzubereiten, hätte er endlich schlafen können. Doch Allday war in die Kajüte getappt, und während Ozzard herumhantierte, hatte ihn der große Bootssteurer beim Licht einer schwankenden Laterne rasiert.
Allday hatte sich noch nicht wieder über seinen Sohn ausgelassen. Bolitho erinnerte sich an Alldays gehobene Stimmung, als er entdeckte, daß er einen zwanzigjährigen Sohn hatte. Einer, von dem er nichts wußte und der zu ihm gekommen war, als seine Mutter, eine alte Liebe Alldays, starb. Auf dem Kutter Supreme, als Bolitho niedergemacht wurde und fast erblindet wäre, hatten Allday allerdings Zorn und Verzweiflung gepackt, weil sein Sohn, nach ihm John genannt, sich als Feigling entpuppte. Just in jenem Augenblick, als Bolitho seiner am meisten bedurfte, war er unter Deck geflohen. Inzwischen dachte Allday anders darüber. Wohl hatte sich John vor dem Feuer der Schlacht gefürchtet, aber war er deshalb schon ein Feigling? Es erforderte ein tapferes Herz, um die Angst zu verbergen, wenn des Feindes Eisen die Decks beharkte.