Commander Ludovic Imrie war ein schlanker, schmalschultriger Mann, weshalb seine einzelne Goldepaulette so aussah, als wolle sie jeden Augenblick abfallen. Aber er war über sechs Fuß groß. Wenn man die Stehhöhe in einigen Abteilungen seines Schiffes bedachte, nämlich vier Fuß und sechs Zoll, mußte er sich hier wie in einem Käfig vorkommen.
«Herzlich willkommen, Sir Richard. «Seine Stimme war auffallend tief, mit einem schottischen Zungenschlag, der Bolitho an seine Mutter denken ließ. Es wurden ihm zwei Leutnants und einige junge Offiziersanwärter vorgestellt. Eine kleine Besatzung. Er hatte sich schon ihre Namen gemerkt und ahnte, daß ihre Zurückhaltung jetzt von Neugier verdrängt wurde.
Imrie ließ die Ehrenwache wegtreten und geleitete Bolitho nach kurzem Zögern in seine kleine Heckkajüte. Als sie sich unter den massiven Decksbalken ducken mußten, entsann sich der Admiral seines ersten selbständigen Kommandos, einer Korvette, deren Erster Leutnant sich für den Raummangel entschuldigt hatte. Bolitho aber war fast außer sich vor Freude gewesen. Nach der engen Leutnantsunterkunft auf seinem bisherigen Linienschiff war ihm die Kajüte wie ein Palast vorgekommen.
Thor war sogar noch kleiner. Sie saßen einander gegenüber, während ein wettergegerbter Seemann Flasche und Gläser brachte. Welch ein Kontrast zu Somervells Tafel, dachte Bolitho.
Imrie sprach ungezwungen über sein Kommando, das er seit zwei Jahren innehatte. Er war sehr stolz auf Thor, und Bolitho spürte sofort seinen Protest, als er erwähnte, Bombarden hätten auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen bisher wenig erreicht.
«Wenn man ihnen die Chance gibt. «Er brach ab und zuckte mit den Achseln.»Ich bitte um Entschuldigung, Sir Richard, ich hätte es wissen müssen.»
Bolitho nippte an dem Wein.»Was wissen?»
«Wie ich hörte, prüfen Sie Ihre Kommandanten mit ein oder zwei Fangfragen«, erwiderte Imrie.
Bolitho lächelte.»Es klappt meistens.»
Er dachte an einige der anderen Kommandanten in Antigua, bei denen er so etwas wie Abneigung, wenn nicht sogar Feindschaft zu spüren bekommen hatte. Vielleic ht wegen Price? Schließlich waren sie ihm verbunden gewesen, hatten eng mit ihm zusammengearbeitet. Vermutlich nahmen sie an, daß er sich umgebracht hatte, weil Bolitho es abgelehnt hatte, sich für ihn einzusetzen. Es gab ähnliche Fälle.
Imrie starrte durch das Oberlicht in den wolkenlosen Himmel.»Wenn ich dicht vor dem Ziel liege, Sir, kann ich ein solches Bombardement loslassen, daß der Feind glaubt, die Hölle wäre ausgebrochen. Die Spanier haben noch nie Mörser zu Gesicht bekommen…«Er stockte und fügte entschuldigend hinzu:»Ich meine, wenn wir wirklich gegen die Dons losschlagen würden.»
Imrie hatte seine eigenen Schlüsse gezogen. Warum sollte sich auch sonst ein Vizeadmiral die Mühe machen, ihn aufzusuchen? Prices kühner Vorstoß und katastrophales Ende, die Vorteile der flachgehenden Thor in den seichten Gewässern, wo die Fregatte Consort auf Grund gelaufen war — die Erklärung bot sich von alleine an.
«Das ist schon richtig, Commander Imrie«, sagte Bolitho.»Aber ich vertraue darauf, daß Sie Ihre Meinung für sich behalten. «Eigenartig, daß sich keiner der anderen, nicht einmal Haven, bisher gefragt hatte, warum sie eigentlich in Antigua waren.
Bolitho rieb sich wieder das linke Auge, zog seine Hand aber schnell zurück.»Ich habe alle Berichte gelesen und auch die Notizen, die mein Adjutant machte, als ich mit Commander Price sprach.»
Imrie hatte ein langes Gesicht mit spitzem Kinn und sah aus, als könne er ein energischer Gegner sein. Aber seine Züge lockerten sich, als er Bolitho zuhörte, vielleicht weil dieser das Andenken des Toten respektierte. Es gab dem einsamen Grab unterhalb der Ostbatterie ein wenig Würde.
«Die Zufahrten sind zu gut geschützt für das, was ich im Sinn habe«, fuhr Bolitho fort.»Geschickt plazierte Artillerie könnte ein langsames Schiff mit Leichtigkeit aufhalten, und mit glühenden Kugeln wäre die Wirkung noch katastrophaler.»
Imrie rieb sich das Kinn, seine Augen waren weit weg. Sie stimmten übrigens in der Farbe nicht überein. Das eine war dunkel-, das andere blaßblau. Er entgegnete:»Wir denken beide an denselben Küstenstrich, Sir Richard, aber natürlich können wir nicht ganz sicher sein, daß.»
Jenour hörte gebannt zu. Zwei Offiziere, jeder ein Veteran auf seinem Gebiet, diskutierten und lachten wie zwei Verschwörer über etwas, das er nicht begriff. Es war unglaublich.
Bolitho nickte.»Aber wenn…»
«Auch Thor käme nicht nahe genug heran, um ihre Mörser einzusetzen. «Imrie prüfte das Gesicht seines Gegenübers, als erwarte er Einwände oder ein Zeichen der Enttäuschung.»Zudem ist unser Tiefgang nicht sehr viel geringer als der von Consort.»
Ein Boot stieß dumpf an die Bordwand, und man hörte Allday jemanden anschnauzen. Kurz darauf erschien sein Kopf im Oberlicht.»Pardon, Sir Richard, eine Meldung von der Hyperion: Der Generalinspekteur kommt an Bord.»
Bolitho verbarg seine Aufregung. Hatte Somervell aus Neugier schließlich nachgegeben? Begriff er, daß es zwischen ihnen so etwas wie einen Wettbewerb gab?
Er stand auf und verzog das Gesicht, als sein Kopf an einen Decksbalken stieß. Imrie meinte:»Au verdammt, Sir Richard, ich hätte Sie warnen sollen.»
Er griff nach seinem Hut.»Das war nur eine Mahnung und weniger schmerzhaft als die Erinnerung.»
Oben hatte sich die Fallreepswache versammelt. Allday kletterte wütend in die wartende Barkasse hinunter und fauchte die Ruderer an:»Klar bei Riemen, verdammt noch mal!»
Bolitho faßte einen Entschluß.»Commander Imrie, sagen Sie Ihrem Ersten, er soll Sie vertreten. Ich möchte, daß Sie mich begleiten.»
Imrie blieb der Mund offen stehen.»Aber, Sir Richard.»
Bolithos Blick fiel auf den Ersten Leutnant der Thor. »Er brennt schon darauf, das Kommando zu übernehmen, wenn auch nur für einen Tag.»
Seine gute Laune erstaunte ihn selbst. Sie war wie ein Damm, der alle Sorgen zurückhielt.
Er beugte sich vor, als wolle er eine der kurzläufigen Karronaden näher betrachten. Das ließ ihm Zeit, sein Auge wieder zu massieren und jene Unscharfe zu vertreiben, die ihm das grelle Sonnenlicht verursachte.
Imrie flüsterte Jenour zu:»Das is t ein Mann, was? Ich würde mit ihm durch dick und dünn gehen.»
«Aye, Sir.»
Bis auf Allday und das Kajütpersonal sah Jenour mehr von Bolitho als jeder andere, und ihm war etwas aufgefallen. Jenours Onkel war Arzt in Southampton und hatte schon von dergleichen gesprochen. Jenour hatte beobachtet, daß Bolitho manchmal das Gleichgewicht verlor wie in jenem Augenblick, als die schöne Viscountess zulangte, um ihn zu stützen. Auch zuvor war das mehrmals passiert, doch wurde nie darüber gesprochen. Vielleicht irrte er sich auch.
Unterwegs grübelte Bolitho über seine Mission. Wenn er Fregatten gehabt hätte, wenigstens eine, hätte er das eine gewaltige Hindernis ausräumen können. Doch La Guaira, der Hafen auf dem spanischen Festland und das Tor zu Venezuelas Hauptstadt Caracas, galt als uneinnehmbar. Aber nur, weil es niemand bisher versucht hatte. Er merkte Imries Interesse und freute sich, die Thor besucht zu haben, ehe er das Wagnis mit Haven und den anderen erörterte.
Imrie würde zuversichtlich, aber nicht sorglos sein. Price hatte gedacht, daß er es schaffen könne, wenn auch aus anderen Gründen. Doch wäre sein Unternehmen erfolgreich verlaufen, hätte hinterher nicht einmal mehr ein Fischerkahn durch die Abwehr der Dons schlüpfen können.
Allday rief:»Wir müssen zur anderen Seite, Sir Richard. «Er schien gereizt, und Bolitho wußte, daß er über seinen kürzlich entdeckten und ebenso schnell wieder verlorenen Sohn nachdachte. Jenour erhob sich schwankend.»Die Wasserleichter gehen längsseit. Soll ich sie wegscheuchen?»
Bolitho rückte seinen Rock zurecht.»Setzen Sie sich wieder hin, junger Heißsporn. Wir haben Frischwasser nötig, und Hyperion hat schließlich zwei Seiten.»