Bolitho faltete das Papier zusammen und schaute den Schwarzen an. Dessen Gesicht zeigte Mitgefühl, als ob er Bescheid wüßte.
«Kommodore Glassport, das Schauspiel bleibt Ihnen erspart, einen tapferen Offizier in Schmach und Schande untergehen zu sehen. «Seine Worte waren klar und hart. Obwohl nur an einen Mann gerichtet, ergriffen sie die ganze Tafel, der es den Atem verschlug.»Commander Price ist tot, er hat sich erhängt. «Bolitho konnte sich nicht versagen hinzuzufügen:»Sind Sie nun zufrieden?»
Mit einem Ruck erhob sich Somervell.»Ich denke, dies ist der richtige Augenblick für die Damen, sich zurückzuziehen. «Es war keine Geste der Höflichkeit, eher schon ein Befehl.
Bolitho sah Catherine an. In ihren Augen las er das Verlangen, sich mit ihm auszusprechen. Statt dessen sagte sie nur:»Wir sehen uns wieder. «Und als er sich aus einer schnellen Verbeugung aufrichtete:»Bald.»
Mit raschelnder Seide tauchte sie in den Schatten.
Bolitho setzte sich wieder. Man hatte ihm ein frisches Glas gebracht. Prices Tod war nicht seine Schuld, nicht einmal die des gedankenlosen Glassport. Was hätte er machen sollen?
Es konnte jedem von ihnen zustoßen. Insgeheim verglich er den jungen Adam mit dem armen Teufel Price, wie er allein vor dem grimmigen Kriegsgericht saß und die Spitze des Degens auf dem grünen Tisch gegen sich gerichtet sah.
Merkwürdig, daß die Nachricht vom Selbstmord Prices aus St. John's unmittelbar zur Hyperion gelangt war. Haven mußte sie gelesen und erwogen haben, bevor er sie ihm nachsandte. Wahrscheinlich durch einen Fähnrich, der sie wiederum einem Lakaien übergab. Es hätte Haven nicht geschadet, wenn er sie persönlich überbracht hätte.
Überrascht merkte Bolitho, daß die anderen bereits aufgestanden waren und ihm ihre Gläser entgegenhielten. Glassport rief heiser:»Auf unseren Vizeadmiral, Sir Richard Bolitho! Möge er uns neue Siege bringen!»
Selbst sein beträchtlicher Rausch vermochte nicht die Beschämung in seiner Stimme zu verbergen.
Bolitho stand ebenfalls auf und verbeugte sich dankend. Er bemerkte, daß die weißgekleidete Gestalt am anderen Ende der Tafel ihr Glas nicht anrührte, und fühlte sein Blut zornig aufwallen. Wie in dem Augenblick, da die Toppsegel des Feindes dessen Angriffsabsicht enthüllten, oder wie bei einem Duell im Morgengrauen. Dann dachte er an ihre Augen und an ihr letztes Wort: bald!
Er griff zum Glas. So sei es denn, dachte er.
Die sechs Tage nach Ankunft der Hyperion in English Harbour waren hektisch und arbeitsreich, zumindest für Bolitho.
Jeden Morgen, nachdem das Wachboot die Depeschen oder Briefe vom Land abgeliefert hatte, kletterte Bolitho in seine Barkasse und widmete sich mit einem verwirrten Leutnant an seiner Seite den Angelegenheiten der ihm unterstehenden Schiffe und Seeleute. Auf den ersten Blick war es keine beeindruckende Streitkraft. Selbst wenn man die drei kleinen Schiffe mit einbezog, die zur Zeit als Aufklärer unterwegs waren, schien die Flottille für die vorliegenden Aufgaben einfach ungeeignet. Bolitho wußte, daß die in seiner Stahlkassette eingeschlossenen und sehr allgemein gehaltenen Befehle Ihrer Lordschaften alle Risiken, alle Verantwortung seinem Urteil überließen.
Das Gros des Antigua-Geschwaders, aus sechs Linienschiffen bestehend, war Berichten zufolge weit im Nordwesten bei den Bahamas verstreut. Wahrscheinlich sondierten sie dort feindliche Streitkräfte oder demonstrierten Macht, um eventuelle Blockadebrecher abzuschrecken. Bolitho kannte ihren Admiral, Sir Peter Folliot, einen ruhigen, würdevollen Offizier, dem seine schlechte Gesundheit zu schaffen machte. Das waren nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen Angriff gegen die Franzosen oder deren spanische Verbündete.
Am sechsten Morgen, während Bolitho über das kaum gekräuselte Wasser zum letzten der ihm unterstellten Schiffe gerudert wurde, überdachte er die Ergebnisse seiner Besichtigungen. Abgesehen von der Obdurate, einem älteren Vierundsiebziger, wegen Sturmschäden noch in der Werft, verfügte er über insgesamt fünf Briggs, eine Korvette und über Thor, ein Mörserschiff, das er sich bis zuletzt vorbehalten hatte. Er hätte sich jeden Kommandanten zum Flaggschiff bestellen können, wie man das von einem Admiral erwartete, und erst recht von einem mit seinem Ruf. Sie erfuhren aber bald, daß er es vorzog, sich selbst zu informieren, daß er den Kontakt mit den Menschen suchte, die er führen und anspornen sollte.
Er dachte an Somervell und dessen immer noch ausstehenden
Gegenbesuch auf der Hyperion. Ließ er ihn absichtlich warten, um ihn an seinen Rang zu erinnern, oder stand er Bolithos Plänen gleichgültig gegenüber?
Die Riemen tauchten ein und aus. Die Augen der Ruderer mieden seinen Blick, wenn er sie ansah. Über den geschrubbten Duchten lag Alldays Schatten. So glitten sie an den verankerten Schiffen vorbei. Antigua war zwar britischer Besitz, doch gab es viele Händler und Küstenschiffer, die bereit waren, für ihre eigene freie Passage den Feind mit Informationen zu beliefern, ohne wirklich Spione zu sein.
Auf dem nahen Abhang, nur durch eine Brustwehr und eine schlaffe Flagge kenntlich, war eine Batterie schwerer Geschütze stationiert. Zur Verteidigung — gut und schön, aber man gewann Kriege, indem man angriff. Bolitho sah den Staub der Küstenstraße aufsteigen, als dort eine Kutsche fuhr, und dachte wieder an Catherine. Sie war ihm kaum aus dem Sinn gekommen, und er hatte hart arbeiten müssen, um seine Gefühle im Zaum zu halten.
Vielleicht hatte sie Somervell alles erzählt, was zwischen ihnen gewesen war? Oder er hatte es ihr entlockt? Letzteres verwarf er sofort. Dafür war Catherine zu stark. Er entsann sich ihres früheren Ehemannes, der zweimal so alt gewesen war wie sie, aber erstaunlichen Mut bewiesen hatte, als er Bolithos Leuten half, ein Handelsschiff gegen Korsaren zu verteidigen. Damals hatte Catherine ihn gehaßt. Ihre Gefühle füreinander waren aus jenem Haß gewachsen wie Stahl in der Esse einer Schmiede. Er wußte immer noch nicht genau, was ihnen damals zugestoßen war oder wohin ihre Liebe hätte führen können. So aber hatten sie nur einen kurzen Höhepunkt in London erlebt, nach ihrer zufälligen Begegnung vor der Admiralität, als Bolitho gerade zum Kommodore eines eigenen Geschwaders ernannt worden war.
Das war vor sieben Jahren und einem Monat. Catherine hatte es nicht vergessen. Es erregte ihn, daß sie es fertig gebracht hatte, sein Leben und seine Karriere zu verfolgen, ihrer Meinung nach zwei ganz verschiedene Dinge.
Allday flüsterte:»Sie sind am Fallreep angetreten, Sir Richard.»
Bolitho setzte den Hut auf. Vor ihnen lag die Bombarde, Seiner Britannischen Majestät Mörserschiff Thor. Verglichen mit einem Linienschiff oder einer Fregatte war es klein, aber ausgesprochen stabil und stark konstruiert zum Bombardieren von Küstenbefestigungen und dergleichen. Seine Bewaffnung bestand in der Hauptsache aus zwei schweren Dreizehn-Zoll-Mörsern. Das Schiff mußte kräftig gebaut sein, um dem Rückstoß der Mörser zu widerstehen, die fast senkrecht feuerten. Dazu zehn schwere Karronaden — kurzläufige, aber großkalibrige Geschütze — und einige kleinere Sechspfünder obendrein. Thor mußte ein langsamer Segler sein. Immerhin hatte sie drei Masten und eine handliche Takelage, die sich bei launischem Wind bewähren mochte.
Ein Schatten verdunkelte Bolithos Überlegungen. Hatte nicht Francis Inch das Kommando über eine Bombarde erhalten, nachdem er Hyperion verließ? Das war schon fast unheimlich. Allday beobachtete ihn und sagte leise:»Wie die alte Hekla, Sir Richard, erinnern Sie sich?»
Bolitho bejahte. Immer noch konnte er nicht glauben, daß Inch tot war — wie so viele andere.
«Oberdeck — stillgestanden!»
Pfeifen trillerten. Bolitho ergriff mit beiden Händen das Fallreep und schwang sich durch die Pforte.
Auf den von ihm bisher besuchten Schiffen schien man von seinem Anbordkommen überrascht zu sein, aber bis auf einen waren alle Kommandanten vor kurzem noch Leutnants gewesen. Beim Kommandanten der Thor dagegen war keinerlei Nervosität zu spüren, als Bolitho den Hut zog.