Als die Bootsmannschaft begann, die Segel einzuholen, wandte er sich um und sah dicht vor dem Bug die Fregatte liegen. Aus der Nähe und auf so engem Raum wirkte sie noch viel größer. Viel größer als die Undine. Selbst für die Phalarope, die er zuletzt kommandiert hatte, wäre es ein kühnes Unterfangen gewesen, sich mit den tödlichen Breitseiten dieses Achtzehnpfünders einzulassen.
«Ein feines Schiff«, bemerkte er.
Maurin nickte.»Das beste. Wir sind so lange zusammen, daß wir sogar dasselbe denken.»
Bolitho sah die Geschäftigkeit an Bord, das Blinken der aufgepflanzten Bajonette der Wache an der Fallreepspforte. Sorgfältige Regie, dachte er. An den Decksgängen sah er zusammengerollte Enternetze, die in kürzester Zeit aufgeriggt werden konnten. Hatten sie Angst vor einem Überfall? Wahrscheinlicher war, daß Le Chaumareys seinem neuen Bundesgenossen nicht recht traute. Das war das einzig Positive, was Bolitho bisher gesehen hatte.
Ein kleines Fischerdory trieb vorüber; ein paar Eingeborene standen darin, die ihm mit den Fäusten drohten und wie wilde Tiere die Zähne bleckten. Maurin sagte:»Wahrscheinlich halten sie Sie für einen Gefangenen, hein?«Es schien ihn irgendwie zu deprimieren.
Bolitho hatte an anderes zu denken, denn nun umfuhr das Boot den Bug der Fregatte. Oben erwartete ihn capitaine Paul Le Chaumareys, über den viele Geschichten in Umlauf waren: über gewonnene Seeschlachten, Jagden auf Geleitzüge, zerstörte Stützpunkte. Sein Kriegsruhm war, wie Conway es zutreffend beschrieben hatte, beträchtlich. Aber als Individuum war er ein Geheimnis, hauptsächlich deswegen, weil er einen erheblichen Teil seines Lebens außerhalb Frankreichs zugebracht hatte.
Bolitho ließ seine Blicke über die ganze Länge des Schiffes schweifen: Argus, der hundertäugige Bote der Göttermutter Hera. Sehr passend für einen so schwer faßbaren Mann wie Le Chaumareys, dachte er. Die Argus war ein stark gebautes Schiff und wies die Narben und Male eines harten Dienstes auf — ein Schiff, das zu befehligen er stolz gewesen wäre. Ihr fehlte zwar die Eleganz der Undine, doch war sie zäher und kraftvoller.
Das Boot hatte unter dem Bugspriet festgemacht, und Bolitho kletterte zum Schanzkleid empor, wo die Mannschaft sich um den Mast gruppiert hatte. Keiner machte Miene, ihm zu helfen. Schließlich sprang doch ein junger Matrose herzu und hielt ihm die Hand hin. »M'sieur«, grinste er breit, »a votre Service!«Bolitho ergriff die Hand und schwang sich an Deck. Dieser Franzose hätte auch ein Mann von der Undine sein können.
Er lüftete grüßend den Hut zu dem breiten Achterdeck hinüber und wartete ab, bis die Pfeifen schrillten und eine Abteilung Soldaten die Musketen präsentierte. Nicht so zackig wie Bellairs' Marineinfanteristen, aber mit routiniertem Schmiß, der von langer Übung zeugte. So wie diese Abteilung war auch das ganze Oberdeck; nicht direkt schmutzig, aber auch nicht glattgeleckt, und nicht eben in musterhafter Ordnung. Etwas abgewetzt, aber jederzeit für alles bereit.
«Ah, capitaine!«Le Chaumareys trat zur Begrüßung vor und blickte ihm fest in die Augen. Er sah ganz anders aus, als Bolitho ihn sich vorgestellt hatte: älter. Viel älter sogar. Vielleicht Mitte Vierzig. Einer der größten Männer, mit denen er jemals zu tun gehabt hatte. Über sechs Fuß hoch, und in den Schultern so breit, daß sein unbedeckter Kopf beinahe klein wirkte, besonders da er sein Haar so kurz trug wie ein Sträfling.
«Ich heiße Sie auf meinem Schiff willkommen!«Er machte eine Handbewegung über das Deck hin.»In meiner Welt, die es schon seit langem ist. «Eine Sekunde lang erhellte ein Lächeln sein Gesicht.»Kommen Sie also hinunter in meine Kajüte. «Er nickte Maurin zu:»Ich rufe Sie, wenn es soweit ist.»
Bolitho schritt hinter ihm her zum Kajütniedergang; er merkte, daß die Männer jeder seiner Bewegungen aufmerksam folgten, als wollten sie etwas entdecken.
«Ich hoffe«, sagte Le Chaumareys beiläufig,»Maurin hat Sie mit der gebotenen Aufmerksamkeit behandelt?»
«Gewiß, danke. Er spricht ausgezeichnet englisch.»
«Stimmt. Auch deswegen habe ich ihn für mein Schiff ausgesucht. Er ist mit einer Engländerin verheiratet. «Er lachte kurz auf.»Sie sind natürlich nicht verheiratet. Wie wäre es mit einer französischen Braut für Sie?»
Er stieß die Tür auf und wartete gespannt, was Bolitho wohl sagen würde. Die Kajüte war geräumig und gut möbliert und wie das ganze Schiff ein bißchen unordentlich. Eben bewohnt.
Aber Bolithos Aufmerksamkeit wurde sofort von einer üppig gedeckten Tafel in Anspruch genommen.
«Das meiste davon sind einheimische Produkte«, bemerkte Le Chaumareys und tippte mit der Fingerspitze auf eine große Fleischkeule.»Das hier zum Beispiel ist fast dasselbe wie geräucherter Schinken. Man muß sich sattessen, solange man noch kann, eh?«Wieder lachte er kurz auf, und jetzt sah Bolitho auch, daß dieses Lachen aus einem ziemlich großen Bauch kam.
Er begann:»Ich bin hier, um Ihnen… »
Der Franzose drohte ihm tadelnd mit einem Finger.»Sie sind an Bord eines französischen Schiffes, m'sieur. Erst trinken wir.»
Auf einen kurzen Kommandoruf eilte ein Diener aus der Nebenkajüte mit einem hohen Kristallkrug Wein herbei. Der Wein war ausgezeichnet und kühl wie Quellwasser. Bolitho blickte vom Krug zum Tisch. Echt? Oder noch ein Trick, um zu demonstrieren, wie überlegen sie waren, selbst was Verpflegung und Getränke betraf?
Man brachte einen Stuhl für ihn, und als sie Platz genommen hatten, schien Le Chaumareys etwas aufzutauen.»Ich habe von Ihnen gehört, Bolitho«, sagte er.»Für einen so jungen Offizier haben Sie schon allerhand geleistet. «Ohne jede Verlegenheit fügte er hinzu:»Es war immerhin schwierig für Sie, diese unglückselige Affäre mit Ihrem Bruder… »
Bolitho beobachtete ihn gelassen. Le Chaumareys war ein Mann, den er verstand wie einen Duellgegner: scheinbar lässig, entspannt — aber im nächsten Moment unvermutet zustoßend.»Vielen Dank für Ihr Mitgefühl«, erwiderte er.
Le Chaumareys' kleiner Kopf nickte heftig.»Sie hätten während des Krieges in diesen Gewässern sein sollen. Unabhängig und für keinen Admiral erreichbar — das wäre etwas für Sie gewesen.»
Bolitho merkte, daß ihm der Diener wieder einschenkte.»Ich bin gekommen, um mit Muljadi zu reden.»
Er faßte sein Glas fester. Das hatte er so einfach ausgesprochen, als hätten ihm diese Worte seit Monaten im Sinn gelegen und wären ihm nicht eben erst eingefallen.
Verdutzt starrte Le Chaumareys ihn an.»Sind Sie verrückt? Wissen Sie, was er mit Ihnen machen würde? In einer Minute würden Sie um den Tod betteln, und ich könnte Ihnen nicht helfen. Nein, m'sieur, es ist blanker Irrsinn, daran auch nur zu denken.»
Gelassen erwiderte Bolitho:»Dann gehe ich wieder an Bord meines Schiffes.»
«Aber was ist mit Admiral Conway und seinen Depeschen? Hat er Ihnen nichts für mich mitgegeben?»
«Das ist jetzt überholt. «Bolitho achtete genau auf Le Chaumareys' Miene.»Außerdem sind Sie nicht als französischer Kapitän hier, sondern als Muljadis Untergebener.»
Le Chaumareys nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas und kniff die Augen vor dem einfallenden Sonnenlicht zusammen.
«Hören Sie mich an«, sagte er bestimmt.»Zügeln Sie Ihre Ungeduld. Ich mußte es auch, als ich so alt war wie Sie. «Er blickte sich in der Kajüte um.»Ich habe meine Befehle, denen ich gehorchen muß, so wie Sie den Ihren. Aber ich habe Frankreich gut gedient, und hier in Indien ist meine Zeit fast um. Vielleicht waren meine Dienste zu wertvoll, als daß man mich früher nach Hause gelassen hätte; aber das sei, wie es wolle. Ich kenne diese Gewässer wie meine Hosentasche. Den ganzen Krieg hindurch habe ich von diesen Inseln leben müssen — Verpflegung, Wasser, Unterschlupf bei Reparaturen und Informationen über Ihre Patrouillen und Geleitzüge. Als mir befohlen wurde, in eben diesen Gewässern weiterzumachen, hat mir das nicht gepaßt, aber wahrscheinlich fühlte ich mich trotzdem geschmeichelt. Man brauchte mich also noch — im Gegensatz zu manchen Leuten, die auch tapfer kämpften und jetzt nichts zu essen haben. «Er blickte Bolitho scharf an.»Wie das auch in Ihrem Lande zweifellos der Fall ist.»