«Wer ist das?«fragte Herrick bestürzt und starrte Bolitho an.»Die Argus!»
Der nickte grimmig.»Ich befürchte es, Mr. Herrick.»
Er versuchte, gleichmütig zu sprechen, obwohl alles in ihm danach schrie, etwas zu unternehmen, das Unmögliche zu wagen. Wie leicht er es ihnen gemacht hatte! Er hatte sich von den beiden Schonern ablenken lassen wie ein Fuchs, der zwei Hasen auf einmal jagen will. Le Chaumareys mußte ihnen längs der Küste gefolgt sein — er hatte Bolithos Gedankengänge erraten, ohne ihn auch nur zu sehen.
«Dann, bei Gott«, rief Herrick aus,»werden wir diesen Franzosen zum Teufel jagen! Der hat hier gar nichts zu suchen!»
«Sie kommt schnell auf, Sir!«rief Keen.
Bolitho spähte hinüber. Die Argus war an Bäckbord schon fast in Höhe ihres Achterdecks, nahm ihnen den Wind weg, genau wie er selbst es mit den Schonern hatte machen wollen. Jetzt saß die Undine in der Falle. Sollte er auflaufen oder versuchen, sich nach Luv durchzukämpfen? Die Sonne blitzte auf der ihnen zugekehrten Rumpfseite der mächtigen Fregatte, und über ihrem milchigen Fahrwasser wurden kleine Schattenstriche sichtbar — sie rannte ihre Breitseite aus. Bolitho dachte an den Mann, der diese Kanonen befehligte. Wie mochte ihm in diesem Augenblick zumute sein?
Leise fragte Herrick:»Achtzehnpfünder, nicht wahr, Sir?«Gespannt blickte er Bolitho ins Gesicht, als hoffe er, sein Kapitän würde die Stärke des Gegners bestreiten.
«Ja«, sagte Bolitho und holte Atem, denn an der Gaffel des Franzosen stieg eine Flagge hoch: schwarz und rot wie die auf den beiden Schonern. Also fuhr er mit Kaperbrief. Als Mietling einer fremden Macht, und die Flagge sollte den Anschein der Legalität wahren.
Keen setzte sein Teleskop ab und sagte hastig:»Sie ist jetzt fast in Höhe des entmasteten Schoners, Sir. «Es gelang ihm, in ruhigem Ton zu sprechen, aber seine Hände zitterten heftig.»Es sind ein paar Männer im Wasser. Vermutlich über Bord gegangen, als die Masten runterkamen.»
Bolitho nahm das Glas. Ihm wurde kalt, als er sah, wie die Fregatte mitten durch die Schiffbrüchigen segelte und einige sogar überrannte. Wahrscheinlich sah der Kapitän nur die Undine und hatte die Unglücklichen überhaupt nicht bemerkt.
Er sprach lauter als sonst und hoffte nur, die anderen würden nicht gänzlich den Mut verlieren, weil seine Stimme so seltsam klang.»Wir ändern gleich den Kurs. «Den unausgesprochenen Protest in Mudges finsterem Gesicht ließ er unbeachtet.»Aber jetzt — Bramsegel weg, Mr. Herrick. Das erwartet der Franzose von uns, als Vorbereitung zum Kampf. «Und mit einem Blick auf Mudge:»Mit etwas weniger Tuch bleibt uns etwas mehr Platz, um ihm die Stirn zu bieten.»
«Das heißt also, wir segeln vor ihrem Bug vorbei, Sir«, erwiderte Mudge heiser.»Aber selbst wenn wir durch den Wind kommen, ohne daß es uns die Rahen abreißt — was dann? Dann überholt uns die Argus achtern und verpaßt uns dabei eine Breitseite ins Heck!»
Bolitho blickte ihm kühl ins Gesicht.»Ich rechne darauf, daß er unbedingt den Windvorteil behalten will, denn sonst werden die Rollen vertauscht. «Aber in Mudges winzigen Augen las er kein Begreifen.»Oder wollen Sie lieber, daß ich die Flagge streiche, he?»
Mudge wurde rot vor Wut.»Das war nicht fair, Sir!»
Bolitho nickte.»Ein Seegefecht ist es auch nicht.»
Mudge wandte den Blick ab.»Ich werde mein Bestes tun, Sir. Ich bringe sie so hart an den Wind wie noch nie. «Er tippte auf die Kompaßbussole.»Wenn der Wind hält, sollten wir fast genau West steuern können. «Er trat zum Ruder.»Mit Gottes
Hilfe!»
Eben rutschten die Toppmatrosen wieder an Deck, und Bolitho spürte, wie die Undine unter Mars- und Vorsegeln ins Stampfen geriet. Mit einem raschen Blick stellte er fest, daß sein Gegner desgleichen tat. Der brauchte sich keine Sorgen zu machen; die Undine mußte sich zum Kampf stellen, sie hatte gar keinen Seeraum zur Flucht. Langsam schritt er auf und ab, trat, ohne hinzusehen, über die Zugleinen der Sechspfünder, streifte im Vorbeigehen den gebeugten Rücken eines Matrosen am Geschütz. Sicherlich beobachtete der Kapitän der Argus jede seiner Bewegungen. Seine Chance — wenn er überhaupt eine bekam — würde nur Sekunden, bestenfalls wenige Minuten dauern. Er blickte zur Landzunge hinüber. Sie wirkte jetzt sehr nahe, öffnete sich an Backbord wie ein riesiger Schlund, der das Schiff als Ganzes verschlingen wollte.
Dann trat er an die Achterdeckreling und rief:»Mr. Soames! Ich brauche eine Breitseite, sowie wir wenden! Die Chance, daß Sie ihn treffen, ist nur gering, aber die plötzliche Attacke wird ihn vielleicht verwirren. «Langsam glitten seine Blicke über die emporgewandten Gesichter auf dem Geschützdeck.»Das Nachladen und Ausrennen muß schneller gehen als je zuvor. Die Argus ist ein starkes Schiff und wird ihr schweres Kaliber voll einsetzen. Wir müssen nahe heran. «Sein Grinsen fühlte sich wie eingefroren an.»Zeigt ihnen, daß wir besser sind, ganz egal, unter welcher Flagge sie fahren!»
Ein paar Mann schrien hurra, aber es war kein beeindruckender Salut.
Gelassen sagte Herrick:»Klar zur Wende, Sir.»
Stille. Bolitho blickte noch einmal hinauf, der Wimpel stand wie vorhin. Wenn der Wind etwas rückdrehen wollte, wäre das eine kleine Hilfe. Aber ein Ausschießen wäre katastrophal. Eben stapfte Soames nach achtern und verschwand unter Deck. Er wollte die Heckzwölfpfünder inspizieren, die, sobald das Schiff auf dem neuen Bug lag, als erste den Gegner vor die Pforten bekommen würden. Davy stand am Fockmast und schickte einige Leute seiner Geschützbedienungen als Verstärkung der Backbordbatterie nach achtern. Wenn die Achtzehnpfünder der Argus erst Ernst machten, würden sie viele Ersatzleute brauchen, dachte Bolitho grimmig.
Er blickte Herrick an und lächelte.»Na, Thomas?»
Der zuckte die Schultern.»Ich sage Ihnen, was ich davon halte, wenn es vorbei ist, Sir.»
Bolitho nickte. Es war ein enervierendes Gefühl. Selbstverständlich war es das immer, doch leider jedesmal schlimmer als beim letztenmal. In einer Stunde, in Minuten, konnte er tot sein. Und dann würde sein Freund Thomas Herrick eine Schlacht ausfechten müssen, die er nicht gesucht hatte; oder vielleicht tödlich getroffen im Orlopdeck liegen und sich die Seele aus dem Leib brüllen.
Und Mudge — ein großartiger Seemann mit einem reichen Schatz an Erfahrungen. Er hätte bereits den Dienst quittiert; wenn ihm diese Einberufung nicht dazwischengekommen wäre, würde an Land bei seinen Kindern leben.
«Also dann«, befahl Bolitho kurz.»Ruder legen!»
«An die Brassen! Aber lebhaft!»
Die Undine erschauerte und stöhnte protestierend unter dem donnernden Druck des Windes und dem wilden Schlagen der Segel. Bei dem harten Kurswechsel krängte sie so stark, daß Gischt in die offenen Stückpforten sprühte. Aus den Augenwinkeln sah Bolitho, wie die Bramsegel der Argus über seinen Finknetzen emporwuchsen und ihr Umriß sich verkürzte, als die Undine um ihren Bug bog. Ein Geschütz krachte, aber die Kugel fuhr jaulend hoch über ihnen davon. Jemand mußte zu früh abgezogen haben, oder vielleicht hatte der französische Kapitän auch schon gemerkt, was sie vorhatten.
Soames war bereit und wartete auf freies Schußfeld. Und dann erzitterte das ganze Deck unter dem Krachen der ersten Geschütze. Qualm wirbelte auf und stieg als zerflatternde Wolke über die Finknetze. Geschütz nach Geschütz feuerte, den ganzen Rumpf entlang, vom Heck bis zum Bug. Auch die Sechspfünder mischten sich ein, als die Argus an jeder einzelnen der schwarzen Mündungen vorbeiglitt. Bolitho sah, wie ihre Fock unter den Einschlägen bebte. Soames' Geschützbedienungen feuerten, luden, feuerten nochmals, und wie durch Zauber erschienen Löcher in den Segeln der Argus. Nun sah Bolitho auch, daß die Landzunge bereits an Steuerbord achteraus lag. Der Schoner, der sich in die nächste Bucht schlich, war schon ganz winzig.