Zufrieden grinste Herrick und stampfte mit seinen kalten Füßen auf den nassen Deckplanken. In dem Monat seit seiner Anmusterung hatte es eine Menge Arbeit gegeben. Andere mochten über das schlechte Wetter, die Unsicherheit der langen Reise, über die Strapazen in See und Wind fluchen — er nicht. Im vergangenen Jahr hatte er erheblich mehr Plage und Mühe gehabt; und er war froh, wieder an Bord eines Kriegsschiffes zu sein. Schon mit knapp zwölf Jahren war er in die Marine eingetreten; und in diesen letzten langen Monaten nach der Unterzeichnung des Friedens mit Frankreich und der Anerkennung der Unabhängigkeit Amerikas hatte er zum erstenmal erfahren, was es heißt, der einzigen Lebensform, die er verstand und mit der er vertraut war, nicht mehr anzugehören.
Anders als viele seiner Kameraden mußte Herrick von dem leben, was er verdiente. Er kam aus einer armen Familie; sein
Vater war Schreiber in Rochester, seiner Heimatstadt. Als er von der Phalarope abmusterte, sich von Bolitho verabschiedete und wieder nach Rochester kam, war es noch schlimmer gewesen, als er erwartet hatte. Die Gesundheit seines Vaters war ruiniert, er schien sich zu Tode zu husten. Herricks einzige Schwester war gelähmt und konnte ihrer Mutter kaum im Haus helfen; und somit sah die Familie seine Rückkehr mit anderen Augen als er, der sich wie ein Ausgestoßener vorkam. Über den Prinzipal seines Vaters hatte er eine Heuer als Maat auf einer kleinen Brigg bekommen, die ihr Geld mit Stückgutfracht längs der Ostküste und gelegentlich auch einmal über den Kanal nach Holland verdiente. Der Schiffseigner war ein Geizhals, der mit einer so kleinen Mannschaft fuhr, daß das Schiff kaum bedient werden konnte, vom Be- und Entladen und von Reparaturen ganz zu schweigen. Als er Bolithos Brief bekam, dem der Befehl der Admiralität beilag, sich an Bord der Undine zu melden, war er so erschüttert gewesen, daß er sein Glück kaum fassen konnte. Seit dem letzten Besuch in Falmouth hatte er Bolitho nicht mehr gesehen; vielleicht hatte er sogar im tiefsten Innern gefürchtet, daß ihre Freundschaft, die in Kanonendonner und Sturm geboren und gewachsen war, die Friedenszeit nicht überleben würde. Schließlich lagen ihre beiden Welten zu weit auseinander. Das große steinerne Haus war ihm wie ein Palast vorgekommen. In Bolithos Familie waren fast alle Männer Seeoffiziere gewesen; und das stellte ihn auf eine ganze andere Ebene als Herrick, der in seiner Familie als erster zur See ging — aber es gab noch bedeutendere Unterschiede zwischen ihnen.
Bolitho hatte sich nicht verändert. Das hatte Herrick auf den ersten Blick gemerkt, als sie sich vor einem Monat auf eben diesem Achterdeck wiedergesehen hatten. Sie war noch da, die leise Melancholie, die jedoch blitzschnell in jugendliche Erregung umschlagen konnte. Und vor allem war Bolitho selbst froh, wieder an Bord zu sein; er freute sich darauf, sein neues Schiff und auch sich auf die Probe zu stellen, sobald sich Gelegenheit dazu bieten würde.
Ein Midshipman[3] kam über das Deck gerannt, faßte vorschriftsmäßig an seinen Hut und meldete:»Kutter kommt zurück, Sir.»
Er war ein kleiner Kerl und erst seit etwa drei Wochen an Bord; er bibberte vor Kälte.
«Danke, Mr. Penn. Hoffentlich mit ein paar neue Matrosen.»
Er sah den Jungen mißbilligend an.
«Bringen Sie Ihre Uniform in Ordnung. Der Captain kommt vielleicht heute zurück. «Dann ging er wieder auf und ab. Fünf Tage lang war Bolitho nun schon in London. Herrick freute sich auf die Neuigkeiten, die er mitbringen würde, besonders auf die Segelorder, damit sie endlich aus dem scheußlichen Solent herauskamen. Er beobachtete den Kutter, der sich schwer stampfend durch die weißen Wellenkämme arbeitete. Trotz der Bemühungen des Bootsführers handhabten die Bootsgasten die Riemen ziemlich ungeschickt. Er konnte den Dreispitz des Dritten Leutnants John Soames in der Achterplicht erkennen — ob der wohl Glück gehabt hatte und Rekruten mitbrachte?
Herrick hatte an Bord der Phalarope als Dritter angefangen und war zu Bolithos Stellvertreter aufgestiegen, nachdem der Erste und der Zweite Leutnant im Gefecht den Tod gefunden hatten. Die Frage ging ihm durch den Sinn, ob Soames sich schon über seine eigene Beförderung in den kommenden Monaten Gedanken machte. Soames war ein Riesenkerl und stand im dreißigsten Lebensjahr, war drei Jahre älter als Herrick. Er war erst sehr spät Leutnant geworden, und zwar auf allerlei Umwegen über den Dienst in der Handelsflotte und später als Steuermannsmaat in der Kriegsmarine. Was er wußte, hatte er sich selbst beigebracht: ein Mensch, der nicht kleinzukriegen war, aus dem man aber auch nicht klug wurde. Herrick traute ihm nicht recht.
Ganz anders war der Zweite, Villiers Davy. Wie schon der Name vermuten ließ, war er von Familie; Geld und stolze Haltung gaben seinem quecksilbrigen Witz den nötigen Rückhalt. Auch ihm traute Herrick nicht so ganz; aber er hielt sich immer wieder vor Augen, daß seine Abneigung auf Davys Ähnlichkeit mit einem arroganten Midshipman der Phalarope beruhen mochte.
Herrick drehte sich um, weil er Schritte hinter sich hörte: ein mächtiges Kassenbuch unter dem Mantel, kam Zahlmeister Triphook durch den strömenden Regen geschlurft.
«Ein schlimmer Tag, Mr. Herrick«, brummte er mißmutig. Er deutete auf die Boote und fuhr fort:»Hol der Teufel diese Gauner. Die würden noch einen Blinden bestehlen, das würden sie.»
Herrick grinste.»Ihr Zahlmeister tut so was nicht, wie?«Triphook blickte ihn ernsthaft an. Er war sehr dünn, hielt sich krumm und hatte lange gelbe Pferdezähne.
«Ich hoffe, Sie haben das nicht ernst gemeint, Sir.»
Herrick beugte sich über die triefenden Finknetze,[4] um einen Blick in den Kutter zu werfen, der eben längsseits festmachte. Du lieber Gott, was für saumäßiges Rudern! Bolitho würde etwas Besseres sehen wollen, und das bald.
«Regen Sie sich nicht auf, Mr. Triphook«, erwiderte er kurz.»Ich wollte Ihnen bloß einen Tip geben. An Bord meines vorigen Schiffes hatten wir einen Zahlmeister — Evans hieß er — , der verschob den Proviant. Ließ verdorbenes Fleisch liefern und steckte die Preisdifferenz ein — es ging damals ziemlich drunter und drüber. Aber es kam rechtzeitig raus.»
Triphook sah ihn unsicher an.»Und?»
«Captain Bolitho ließ ihn auf eigene Kosten frisches Fleisch kaufen. Faß für Faß — ein frisches Faß für jedes schlechte. «Er grinste wieder.»Also lassen Sie sich warnen, mein Freund!»
«Bei mir wird der Captain nichts zu beanstanden haben, Mr. Herrick. «Im Weggehen sagte er noch:
«Darauf können Sie sich verlassen!«Aber es klang nicht sehr überzeugend.
Leutnant Soames kam aufs Achterdeck, faßte an den Hut und meldete mit einem angewiderten Blick auf die nassen Planken:»Fünf Mann, Sir. Ich war den ganzen Tag unterwegs und bin total heiser vom Vorlesen dieser Flugblätter.»
Herrick nickte mitfühlend. Er hatte das oft genug selbst machen müssen. Fünf Mann. Sie brauchten immer noch dreißig. Und selbst dann hatten sie keine Reserve für Todesfälle und Verwundungen, mit denen man schließlich bei jeder langen Reise rechnen mußte.
Mürrisch fragte Soames:»Was Neues?»
«Nein. Nur, daß wir nach Madras segeln. Aber ich denke, es geht bald los.»
«Je eher wir von Land weg sind, um so besser. Die Straßen sind voller Besoffener, prima Seeleute, die wir gut gebrauchen könnten. «Zögernd fuhr er fort:»Wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich heute nacht mit einem Boot losfahren und ein paar davon schnappen, wenn sie aus ihren verdammten Bierkneipen getorkelt kommen.»
Sie fuhren herum. Kreischendes Gelächter erklang vom Geschützdeck, und eine Frau, die bloßen Brüste dem Regen preisgegeben, kam backbords unter dem Decksgang hervorgerannt. Zwei Matrosen waren hinter ihr her, beide offensichtlich angetrunken; man brauchte nicht lange darüber nachzudenken, was sie von ihr wollten.