Bolitho gab auf. Anscheinend konnte nichts das ungeheure Vertrauen brechen, das Stockdale selbst zwischen den Zähnen eines Hurrikans in die Wundertätigkeit seines Kapitäns setzte.
Von oben erklangen Stimmen. Dann hörte er Füße die Niedergangsleiter herunterspringen.
Es war Fähnrich Heyward, untadelig wie immer, obwohl er lange Nachtstunden an Deck zugebracht hatte.
«Herr Kapitän!«Er sah, daß Stockdale mit dem Rasiermesser in der Luft verhielt.
«Mit aller Hochachtung von Mr. Graves. Soeben hat die Fawn signalisiert: Segel im Nordosten.»
Bolitho griff nach dem Handtuch.»Schön, ich komme gleich rauf.»
Stockdale stellte das Rasierbecken weg.»Dasselbe Schiff, Sir?»
«Ich glaube kaum. «Bolitho schüttelte den Kopf.»Selbst wenn es wie ein Bluthund hinter uns her wäre, es hätte uns in der Nacht nicht überholen können. «Er rieb sich kräftig das Gesicht ab.»Aber auf dieser öden See ist jedes gesichtete Schiff eine willkommene Abwechslung.»
Als er auf das Achterdeck hinaustrat, hatten sich Tyrell und fast alle Offiziere dort schon versammelt. Beim Großmast waren Seeleute mit Bimssteinen und Schwabbern zum» Rein-Schiff-Machen «angetreten. Andere warteten an den Pumpen oder starrten verschlafen zu den kaum voll stehenden Segeln hinauf.
Graves tippte an seinen Hut.»Der Ausguck im Großtopp hat noch nichts gesehen, Sir.»
Bolitho nickte und schritt zum Kompaß. Er zeigte Nordwest zu Nord, als ob er seit ewigen Zeiten in dieser Richtung festgenietet wäre. Es war kaum überraschend, daß die Fawn das Segel zuerst gesehen hatte. An der Spitze des Geleitzugs und etwas steuerbord vor den Transportern fahrend, lag sie auf günstigerer Position. Bolitho hätte es gern anders gesehen. Immer schien die Fawn schneller zu signalisieren und Colquhouns Befehle rascher auszuführen als die Sparrow. Durch das Kreuz und Quer von Stangen und Wanten hindurch und etwas steuerbords von dem letzten Transportschiff konnte er die andere Korvette sehen. Sie kreuzte unbeholfen in der schwachen westlichen Brise. Obwohl sie an den hart angebraßten Rahen jeden Fetzen Segel gesetzt hatte, machte sie kaum Fahrt.
Plötzlich erscholl ein Schrei aus dem Topp.
«Wahrschau an Deck! Segel steuerbord querab!»
Tyrell überquerte das Deck und wandte sich an Bolitho:»Was meinen Sie, Sir? Eins der unsrigen?»
«Oder so ein verdammter Yankee«, warf Graves bösartig dazwischen.
Bolitho sah den Blickabtausch und fühlte die plötzliche Feindschaft zwischen den beiden.
«Meine Herren«, sagte er ruhig,»wir werden es bald wissen.»
«Signal von der Fawn, Sir«, rief Fähnrich Bethune.»Bleiben Sie auf Position.»
Behaglich meinte Graves:»Die Fawn haut ab. Sie geht über Stag und klemmt sich einen Soldatenfurz unter den Schwanz.»
«Entern Sie auf, Mr. Graves«, sagte Bolitho.»Ich möchte alles wissen, was Sie an diesem Segel entdecken können.»
Graves starrte ihn an.»Ich habe einen guten Mann im Ausguck oben.»
«Und jetzt möchte ich einen guten Offizier oben haben, Mr. Graves«, sagte Bolitho mit Entschiedenheit.»Ein erfahrenes Auge, nicht nur einen scharfen Blick.»
Graves stakte steif zu den Luvwanten und begann nach kurzem Zaudern aufzuentern.
«Das mag ihm jetzt guttun«, meinte Tyrell sehr ruhig.
Bolitho blickte über die Männer auf dem Achterdeck hin.
«Vielleicht, Mr. Tyrell. Wenn Sie aber glauben, daß ich meine Autorität benütze, um kleinlichen Haß unter Ihnen zu nähren, dann muß ich Sie eines anderen versichern. «Er dämpfte seine Stimme.»Wir kämpfen gegen einen Feind, nicht untereinander.»
Dann nahm er ein Fernrohr aus der Halterung und schritt zum Besanmast. Er glich mit den Beinen die unangenehmen Schiffsbewegungen aus, richtete das Teleskop auf die Fawn und führte es dann sehr langsam die Kimm entlang. Minuten vergingen, und dann plötzlich, als das fremde Schiff über eine große Woge glitt, sah er seine Bramsegel wie rosafarbene Muscheln in den ersten Sonnenstrahlen schimmern. Es lag auf einem konvergierenden Kurs sehr hoch am Wind. Seine Rahen waren so hart angebraßt, daß sie fast parallel zum Rumpf standen.
«Fregatte, Sir«, schrie Graves von oben, und dann nach einer Pause, während der alle zu seiner winzigen schwarzen Silhouette vor dem Himmel hinaufschauten,»englische Bauart!»
Bolitho stand schweigend. Englische Bauart, vielleicht. Aber wer stand jetzt hinter ihren Kanonen? Er beobachtete, wie die Fawn langsam herumschwenkte. Ihr Stander im Topp drehte sich und spielte teilnahmslos im schwachen Wind. Wieder flogen Signalflaggen an ihren Rahen hoch.
«Von der Fawn, Sir«, rief Bethune.»Erkennungssignal. «Er suchte in seinem Signalbuch.»Es ist die Miranda, Sir. Zweiunddreißig Kanonen, Kapitän Selby.»
«Sicher kommt sie aus England«, sagte Buckle zu den Männern auf dem Achterdeck.
Schon wurde das Licht stärker, und hellere Farbtöne spielten über die See. Bolitho spürte die ersten warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Aus England! Wahrscheinlich dachte nun jeder Mann auf der Sparrow an diese beiden Worte, alle außer Tyrell und den amerikanischen Siedlern. Aber alle anderen würden sich nun die längstvergangenen Tage in der Heimat ausmalen, eine Farm oder ein Dorf, irgendein Wirtshaus an einem See oder in einem Fischereihafen, vielleicht das Gesicht einer Frau oder das Greifen einer Kinderhand, bevor die Werber zupackten.
Bolitho ertappte sich, wie das große Steinhaus unterhalb von Pendennis Castle daheim in Falmouth vor seinen Augen auftauchte. Dort würde nun sein Vater auf ihn warten. Und er würde sich fragen, was wohl aus ihm und seinem Bruder Hugh geworden sei.
Wie alle Vorfahren der Bolithos war sein Vater Seeoffizier gewesen. Aber nun, da er einen Arm und seine Gesundheit eingebüßt hatte, war er gezwungen, an Land zu leben. Doch immer würden seine Augen über die Schiffe und die See schweifen, die ihn nicht mehr brauchen konnte.
«Von der Fawn, Sir. An alle! Beidrehen!»
Anscheinend war sich Colquhoun über die Herkunft des Schiffes im klaren. Zum ersten Mal mußten die Transportschiffe nicht aufgefordert werden, den Signalen zu gehorchen. Offenbar waren auch sie auf Nachrichten aus der Heimat neugierig.
Bolitho schob das Teleskop zusammen und übergab es einem Bootsmannsmaat.
«Mr. Tyrell, lassen Sie wie befohlen beidrehen und Segel kürzen. «Er wartete, bis der Leutnant den Befehl an die Toppsgasten weitergegeben hatte, die nun in den Wanten aufenterten, dann fügte er hinzu:»Diese Fregatte ist hart gesegelt worden, sie muß wohl mit wichtigem Auftrag unterwegs sein.»
Er hatte das Schiff beobachtet, als es sich hoch am Wind zu dem unordentlichen Haufen der Konvoischiffe heraufgequält hatte. Er hatte die großen Schrammen an seinem Rumpf bemerkt, wo die See wie mit einem riesigen Messer die Farbe abgeschabt hatte. Seine Segel waren an vielen Stellen ausgebessert und mit Flicken besetzt worden. All das deutete auf eine schnelle Reise hin.
«Die Miranda hat wieder ein Signal gesetzt, Sir«, rief Bethune. Er lehnte sich in die Wanten und versuchte, sein großes Fernrohr still zu halten.»An Fawn. Bitten Kapitän an Bord!»
Wie immer erfolgte sofort die rasche Antwort der Fawn. Ihr großes Beiboot war innerhalb weniger Minuten ausgeschwenkt. Bolitho konnte es sich ausmalen, wie Colquhoun zum anderen Schiff eilte und wie dort die Offiziere verblüfft sein würden, wenn sie bemerkten, daß er höher im Dienstrang stand als ihr eigener Kapitän. Was für Folgen das Zusammentreffen auch haben mochte, es mußte sich um eine dringende Angelegenheit handeln und nicht nur um den Austausch von Klatsch, wie es bei solchen Gelegenheiten auf hoher See oft vorkam.
Bolitho rieb sich das Kinn.»Ich gehe nach unten, rufen Sie mich, wenn irgend etwas geschieht.»
In der Kajüte wartete Stockdale schon mit Rock und Degen auf ihn. Mit breitem, schiefem Grinsen murmelte er:»Dachte, Sie würden das jetzt brauchen, Sir.»
Fitch hielt sich am Tisch fest und versuchte mit gespreizten Beinen die Bewegungen der Korvette auszugleichen, die nun ohne die stützende Wirkung der Segel schwer in den Wogen rollte. Mit resigniertem Blick in seinem kränklichen Gesicht starrte er das Frühstück an, das er gerade hereingebracht hatte.