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»Na also«, sagte der Baron und wischte sich mit der flachen Hand den Bart ab. »Jetzt bin ich bereit, Ihnen zu folgen. Macht es etwas, daß ich nackt bin?«

Rumata blickte sich um, ging zu dem Folterknecht und schüttelte ihn aus seinem Schurz. »Nehmen Sie einstweilen das da«, sagte er.

»Sie haben recht«, sagte der Baron und band sich den Schurz um die Lenden. »Es wäre wirklich unschicklich, vor der Baronin nackt zu erscheinen …«

Sie verließen die Folterkammer. Kein Mensch konnte sich entschließen, ihnen den Weg zu versperren, und der Gang war mit einem Mal zwanzig Schritte weit leer.

»Ich schlage sie alle tot!« brüllte der Baron. »Sie haben mein Schloß besetzt! Und haben dort irgendeinen Vater Arima hinbeordert! Ich weiß zwar nicht, wessen Vater er dort ist, aber seine Kinder, das schwöre ich Ihnen, werden bald verwaisen! Hol’s der Teufel, mein Freund, finden Sie nicht auch, daß hier der Plafond verdammt niedrig ist? Ich habe mir schon den ganzen Schädel zerkratzt …« Sie verließen endlich den schaurigen Turm. Einen Augenblick lang tauchte vor ihren Augen der Spion und Leibwächter auf, um gleich wieder in der Menge zu verschwinden. Rumata gab Budach ein Zeichen, ihm zu folgen. Die Menge vor dem Tor wich vor ihnen auseinander, als wären sie mit dem Schwert hineingefahren. Man hörte, wie die einen schrien, ein wichtiger Staatsverbrecher sei entflohen, andere deuteten mit Fingern auf sie und murrten: »Da, schaut den nackten Teufel an, den berühmten estorischen Henker!« Der Baron ging zur Mitte des Platzes, blieb stehen und kniff vor dem hellen Sonnenlicht die Augen zusammen. Sie mußten sich beeilen. Rumata blickte rasch um sich. »Irgendwo hier war doch mein Pferd«, sagte der Baron. »He, du dort! Mein Pferd!« Bei der Koppel, wo die Pferde der Kavallerie des Ordens tänzelten, entstand ein wildes Durcheinander.

»Nicht das!« krähte der Baron. »Das dort, den gescheckten Grauen!«

»Im Namen des Herrn!« schrie Rumata ein wenig verspätet und zog sich seinen Stirnreif über den Kopf.

Ein verängstigter kleiner Mönch in einer fleckigen Kutte brachte dem Baron sein Pferd.

»Geben Sie ihm irgendwas, Don Rumata«, sagte der Baron und erhob sich schwerfällig in den Sattel. »Halt, halt!« schrien sie beim Turm.

Mit ihren Schlagstöcken fuchtelnd, kamen Mönche über den Platz gerannt. Rumata gab dem Baron eines seiner beiden Schwerter. »Beeilen Sie sich, Baron. Rasch!« sagte er.

»Ja«, sagte Pampa. »Hier tut Eile not. Dieser Arima räumt mir meinen ganzen Keller aus. Ich erwarte Sie bei mir zu Hause, morgen oder übermorgen, mein Freund. Was soll ich der Baronin ausrichten?«

»Küssen Sie ihr die Hand von mir«, sagte Rumata. Die Mönche waren schon ganz nahe. »Schneller, schneller, Baron …!«

»Sind Sie aber ganz sicher außer Gefahr?« wollte der Baron wissen. Man merkte an seiner Stimme, daß er sich noch immer um Rumata sorgte.

»Ja, zum Teufel, ja! Vorwärts!«

Der Baron sprengt im Galopp davon, geradewegs in die Menge der Mönche hinein. Einer kam zu Fall und überschlug sich, irgend jemand winselte laut, eine große Staubwolke erhob sich, man hörte das harte Schlagen der Hufe auf dem Pflaster – und der Baron war verschwunden. Rumata blickte eben in eine kleine Gasse, die vom Platz wegführte, wo ein paar zur Seite geschleuderte Menschen ganz benommen dasaßen, als eine eindringlich verstohlene Stimme über seinem Ohr ertönte:

»Aber mein edler Don, glauben Sie nicht, daß Sie sich da etwas zu viel herausnehmen?«

Rumata drehte sich um. Und sah in das gekünstelt lächelnde Gesicht Don Rebas.

»Etwas zu viel?« sagte Rumata. »Ich kenne das Wort zu viel nicht.« Plötzlich fiel ihm Don Sera ein. »Und überhaupt sehe ich nicht ein, warum ein edler Don einem andern nicht im Unglück helfen sollte.« Schweratmend hetzte eine Gruppe berittener Mönche mit gezückten Hellebarden an ihnen vorbei – sie nahmen die Verfolgung des Barons auf. Im Gesicht Don Rebas veränderte sich etwas. »Nun gut«, sagte er. »Lassen wir das … Oh, ich sehe hier den hochgelehrten Doktor Budach … Sie sehen prächtig aus, Doktor. Ich muß einmal mein Gefängnis inspizieren. Staatsverbrecher und auch Freigelassene dürfen das Gefängnis nicht zuFuß verlassen, sie müssen hinausgetragen werden.«

Doktor Budach stürzte sich mit den Bewegungen eines Blinden auf ihn. Rumata trat rasch zwischen die beiden.

»Übrigens, Don Reba«, sagte er, »was halten Sie von Vater Arima?«

»Vater Arima?« Don Reba zog die Brauen hoch. »Ein ausgezeichneter Krieger. Nimmt eine hohe Stelle in meinem Episkopat ein. Aber was soll die Frage?«

»Als treuer Diener Eurer Herrlichkeit«, sagte Rumata und verneigte sich mit sichtlicher Schadenfreude, »beeile ich mich, Ihnen zu melden, daß Sie diese hohe Stelle als vakant betrachten können.«

»Aber wieso denn?«

Rumata warf einen Blick in die Gasse, wo sich der aufgewirbelte gelbe Staub noch nicht gesetzt hatte. Auch Don Reba schaute dort hin. Auf seinem Gesicht erschien ein besorgter Ausdruck.

Es war schon spät am Nachmittag, als Kyra den edlen Herrn und seinen hochgelehrten Freund zu Tisch bat. Nachdem sich Doktor Budach gewaschen, sorgfältig rasiert und umgezogen hatte, machte er einen angenehmen, achtunggebietenden Eindruck. Seine Bewegungen waren langsam und voll Würde, seine klugen grauen Augen blickten wohlwollend und etwas herablassend drein. Zuallererst entschuldigte er sich bei Rumata für sein Aufbrausen auf dem Platz.

»Aber Sie müssen mich verstehen«, sagte er. »Er ist ein grauenvoller Mensch. Er ist ein Untier, das nur durch ein göttliches Versehen auf diese Welt kam. Ich bin Arzt, aber ich schäme mich nicht, zuzugeben, daß ich ihn, wenn ich nur Gelegenheit hätte, umbringen würde. Ich hörte, daß der König vergiftet ist. Und jetzt verstehe ich, wie er umkam.« Rumata spitzte die Ohren. »Dieser Reba kam zu mir in die Zelle und forderte von mir, ich solle ihm ein Gift mischen, das in wenigen Stunden wirkt. Ich habe es natürlich abgelehnt. Er drohte mir mit Folterungen – ich lachte ihm ins Gesicht. Da rief dieses Scheusal die Henkersknechte herbei, und sie brachten ihm auf seinen Befehl ein Dutzend Knaben und Mädchen, nicht älter als zehn Jahre. Er stellte sie in einer Reihe vor mir auf, öffnete meine Arzneitasche und erklärte, er werde alle Medikamente der Reihe nach an diesen Kindern ausprobieren, bis er das richtige gefunden habe. – So ist der König vergiftet worden, Don Rumata …«

Budadis Lippen begannen zu zittern, doch er hatte sich gleich wieder in der Gewalt. Rumata wandte sich rücksichtsvoll ab und nickte. Jetzt verstehe ich, dachte er. Alles verstehe ich jetzt. Aus den Händen seines Ministers hätte der König nicht einmal eine Gurke genommen. Und der Gauner unterschob dem König irgendeinen dahergelaufenen Scharlatan, dem man den Titel eines Leibarztes für die Heilung des Königs versprach. Und jetzt ist es auch klar, warum Reba so triumphierte, als ich ihn bloßstellte im Schlafzimmer des Königs: Man hätte sich schwerlich ein besseres Mittel ausdenken können, dem König einen falschen Budach zu unterschieben. Die ganze Verantwortung fiel nun auf Rumata von Estorien, den irukanischen Verschwörer und Spion. Wir sind doch dumme junge Hunde, dachte er. Im Institut muß man einen Spezialkurs für feudale Intrigen einführen. Und einen andern, um die Fähigkeit zu erwerben, die Rebas richtig einzuschätzen. Noch besser natürlich auch die Dezi-Rebas. Übrigens, wohin sollten denn … Doktor Budach war offenbar ganz ausgehungert. Trotzdem lehnte er die Fleischspeisen höflich, aber entschieden ab und beehrte nur die Salate sowie die Mehlspeisen mit seiner Aufmerksamkeit. Er trank auch ein Glas Estorischen, und in seine Augen kam wieder frischer Glanz, und seine Wangen zeigten eine gesunde Röte. Rumata brachte keinen Bissen hinunter. Vor seinen Augen knisterten und qualmten noch immer die scharlachroten Fackeln, er verspürte den Geruch von versengtem Fleisch, und in seiner Kehle steckte ein faustgroßer Klumpen. Und so wartete er, bis Doktor Budach sich gesättigt hatte, lehnte am Fenster und führte ein höfliches Gespräch, langsam und ruhig, um seinen Gast nicht beim Kauen zu stören. In die Stadt kam langsam wieder Leben. Auf der Straße zeigten sich Menschen, die Stimmen wurden lauter, man hörte das Schlagen von Hämmern und Krachen von Holz; von den Mauern und Giebeln schlug man die Götzenbilder herab. Ein glatzköpfiger dicker Krämer schob einen Karren mit einem Faß Bier vor sich her, um es auf dem Platz für zwei Groschen den Krug zu verkaufen. Die Leute hakten sich unter. Im Torbogen gegenüber unterhielt sich mit näselnder Stimme der Spion und Leibwächter mit einer hageren Frau. Unter dem Fenster rollten Fuhren vorbei, die stockhoch beladen waren. Rumata verstand zuerst nicht, was das für Fuhren waren, aber dann sah er blauschwarze Hände und Füße unter den Bastmatten hervorragen und ging rasch wieder vom Fenster weg. »Das Wesen des Menschen«, sagte Budach bedächtig kauend, »besteht in seiner Fähigkeit, sich an alles zu gewöhnen. Es gibt in der Natur nichts, woran sich der Mensch nicht anpassen könnte. Kein Pferd, kein Hund und keine Maus besitzt diese Fähigkeit. Vermutlich hat Gott bei der Erschaffung des Menschen daran gedacht, welchen Qualen er ihn auf der Erde aussetzt, und gab ihm einen großen Vorrat an Geduld. Natürlich ist es schwer zu sagen, ob das gut ist oder nicht. Wäre der Mensch nicht mit solcher Geduld und solch einer Fähigkeit zu leiden ausgestattet – alle guten Menschen wären schon längst umgekommen, und auf der Welt blieben nur die Seelenlosen und Bösen. Andererseits aber verwandelt das Dulden und die Anpassung die Menschen in wortlose Tiere, die sich durch nichts außer ihrem Körperbau von den Tieren unterscheiden und sie sogar an Wehrlosigkeit noch übertreffen. Und jeder Tag gebiert neue Schrecken von Bosheit und Gewalt …«

Rumata blickte zu Kyra. Sie saß Budach gegenüber und hörte ihm angestrengt zu, eine Wange auf ihre kleine Faust gestützt. Ihre Augen waren voll Trauer: Offenbar tat ihr die Menschheit leid. »Wahrscheinlich haben Sie recht, verehrter Budach«, sagte Rumata. »Aber nehmen Sie doch mich. Ich zum Beispiel bin ein einfacher, wohlgeborener Don.« Die hohe Stirn Budachs legte sich in Falten, und seine Augen wurden vor Erstaunen und Belustigung ganz rund. »Ich liebe gelehrte Menschen über alles, diesen Hochadel des Geistes. Und mir ist völlig unverständlich, warum ihr, die Bewohner der Wissenschaft und einzigen Träger der hohen Weisheit, so hoffnungslos passiv seid? Warum gebt ihr euch so widerstandslos der Verachtung preis, warum laßt ihr euch ins Gefängnis werfen und auf dem Scheiterhaufen verbrennen? Warum denn trennt ihr den Sinn eures Lebens – die Erlangung von neuem Wissen – von den praktischen Anforderungen des Lebens – dem Kampf gegen das Böse?«

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