Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Hof der irukanischen Könige einer von jenen, die besonders auf Bildung achteten. Man hielt sich bei Hof Gelehrte, in der Mehrzahl natürlich Scharlatane, aber auch Männer wie Bagir Kissenski, den Entdecker der Krümmung des Planeten; oder den Leibquacksalber Tata, der die geniale Behauptung aufstellte, daß die Epidemien durch kleine, dem Auge unsichtbare Würmer zustande kämen, die von Wind und Wasser verbreitet würden; oder den Alchimisten Synda, der wie alle Alchimisten ein Mittel suchte, um aus Dreck Gold zu machen, und der dabei ganz zufällig das Gesetz der Erhaltung der Materie fand. Auch Dichter gab es am arkanarischen Hof. In der Mehrzahl waren es freilich bloße Lobhudler und Parasiten, aber es gab auch Pepin den Großen, den Autor der historischen Tragödie Der Feldzug gegen den Norden; dann war da Zuren der Gerechte, der über fünfhundert Balladen und Sonette verfaßte, die das Volk dann vertonte; und schließlich der Dichter Gur, der den ersten weltlichen Roman in der Geschichte des Reichs schrieb, eine traurige Romanze von einem Prinzen, der sich in eine schöne Barbarin verliebte. Es gab am Hof auch großartige Artisten, Tänzer und Sänger. Bemerkenswerte Maler bedeckten die Wände mit unvergänglichen Fresken, berühmte Bildhauer schmückten mit ihren Schöpfungen die Parkanlagen des Schlosses. Und trotzdem kann man nicht sagen, die arkanarischen Könige seien Förderer der Gelehrsamkeit oder Kunstkenner gewesen. Das alles war bloße Zierde, wie die Zeremonie des morgendlichen Levers oder die prunkvollen Gardeoffiziere am Schloßportal.
Die Duldsamkeit der Monarchen ging manchmal so weit, daß einige Gelehrte und Dichter zu beachtlichen Rädchen im Gefüge des Staatsapparates wurden. So nahm zum Beispiel noch vor fünfzig Jahren der hochgelehrte Alchimist Botsa den nunmehr wegen Entbehrlichkeit aufgehobenen Posten eines Ministers für Bergbau ein, gründete einige neue Gruben und machte Arkanar berühmt für hochwertige Legierungen, deren Produktionsgeheimnis allerdings nach seinem Tod verlorenging. Der Dichter Pepin leitete bis vor kurzem das staatliche Bildungsprogramm, bis dann das Ministerium für Geschichte und Sprachkunde, das unter seiner Führung stand, als schädlich und den Verstand zersetzend erkannt wurde.
Es kam immerhin auch früher vor, daß man einen Wissenschaftler oder Künstler, der der Favoritin des Königs, einer stumpfen und süßlichen Person, nicht zu Gesicht stand, ins Ausland verkaufte oder mit Arsen vergiftete, aber erst Don Reba nahm sich der Sache voll und ganz an. Während seiner Zeit als allmächtiger Sicherheitsminister zum Schutze der Krone veranstaltete er in der Kulturwelt Arkanars derartige Pogrome, daß er damit sogar schon die Unzufriedenheit einiger edler Magnaten hervorrief, die erklärten, am Hof würde es immer langweiliger, und auf den Bällen höre man nichts mehr außer dummem Klatsch.
Bagir Kissenski, des an Staatsverbrechen grenzenden Wahnsinns angeklagt, wurde ins Verlies geworfen, und nur den äußersten Anstrengungen Rumatas gelang es, ihn herauszuholen und in die Hauptstadt zu überstellen. Sein Observatorium wurde niedergebrannt, und die seiner Schüler, die unbehelligt geblieben waren, flohen in alle Windrichtungen. Der Leibarzt Tata erwies sich plötzlich zusammen mit fünf anderen Quacksalbern als Giftmischer, der den irukanischen Herzog gegen die Person des Königs aufwiegle; er gestand in der Folterkammer alles und wurde auf dem Königlichen Platz öffentlich erhängt. Bei dem Versuch, ihn zu retten, verteilte Rumata dreißig Pud Gold, verlor vier seiner Agenten (edle Dons, die nicht wußten, was sie taten) und hätte um ein Haar selber draufgezahlt, als er während seines Versuchs, den Verurteilten zu entführen, verwundet wurde.
Das war seine erste große Niederlage gewesen. Und da hatte er schließlich verstanden, daß Don Reba kein reiner Zufall war. Als er eine Woche später erfuhr, daß man den Alchimisten Synda vor Gericht stellen wollte, weil er angeblich den Stein der Weisen dem Staatsschatz vorenthalte, nahm Rumata, dem die Wut wegen seiner letzten Niederlage noch im Bauch kochte, die Sache selbst in die Hand. Er legte um das Haus des Alchimisten einen Hinterhalt, entwaffnete mit einem schwarzen Tuch vor dem Gesicht selber die Sturmowiki, die den Alchimisten abführen wollten, warf sie gefesselt in den Keller und führte noch in derselben Nacht den völlig verständnislosen Synda über die Grenze nach Soan, wo er nach leichtem Schulterzucken seine Suche nach dem Stein der Weisen unter der Aufsicht Don Kondors fortsetzte. Der Dichter Pepin nahm plötzlich die Kutte und zog sich in ein entlegenes Kloster zurück. Zuren der Gerechte wurde erst kürzlich entlarvt: Man überführte ihn der verbrecherischen Zweideutigkeit seiner Äußerungen. Außerdem warf man ihm vor, daß er dem Geschmack der untersten Volksschichten entgegengekommen sei. Er wurde seiner Ehre und seines Vermögens für verlustig erklärt, versuchte um sein Recht zu streiten, rezitierte in verrufenen Kneipen nun schon ganz offenkundig subversive Balladen und wurde dabei zweimal von patriotisch gesinnten Personen fast zu Tode geprügelt. Erst dann ließ er sich von seinem Freund und Gönner Don Rumata überreden, in die Hauptstadt des Reiches zu flüchten. Rumata würde den Anblick des Abreisenden nie vergessen können, wie er, zugleich blaß und blau vor Trunkenheit, sich mit seinen dünnen Armen an den Planken des abfahrenden Schiffes festklammerte und mit klingender, erstaunlich junger Stimme sein Abschiedssonett hinausbrüllte: Wie Blattgewelk drückt es die Seele …
Was den Dichter Gur betrifft, sonahm dieser anläßlich einer Audienz bei Don Reba unter vier Augen zur Kenntnis, daß der Prinz von Arkanar sich nicht mit der ihm feindlich gesinnten Sippschaft befreunden könne. Er warf auf dem Königlichen Platz seine Bücher eigenhändig ins Feuer. Seither stand er nun immer, wenn der König auszufahren geruhte, gebückt und mit ausdruckstotem Gesicht in der Menge der Höflinge, um auf einen unmerklichen Wink Don Rebas hin mit Gedichten ultrapatriotischen Inhalts hervorzutreten, die allerdings allgemein nur Langeweile und Gähnen bewirkten. In den Theatern wurde jetzt immer dasselbe Stück aufgeführt:Der Untergang der Barbaren, oder Marschall Totz, König Pitz von Arkanar. Die Sänger brachten jetzt allgemein nur noch Konzerte für Gesang und Orchester. Die am Leben gebliebenen bildenden Künstler malten Aushängeschilder. Zwei oder drei ganz Schlauen gelang es übrigens, sich am Hof zu halten, und sie malten jetzt Porträts des Königs mit Don Reba, wobei Don Reba den König immer ehrerbietig stützte (die Charakterisierung war nicht gerade ermutigend: Der König wurde stets als zwanzigjähriger strahlender Jüngling im Harnisch dargestellt, Don Reba als reifer Mann mit vielsagendem Gesichtsausdruck). Ja, am arkanarischen Hof wurde es langweilig. Nichtsdestoweniger füllten die Magnaten, die edlen Dons ohne Beschäftigung, die Gardeoffiziere und die leichtsinnigen Schönen der Dons – die einen aus Eitelkeit, die andern aus Gewohnheit, andere wieder aus Furcht – so wie früher jeden Morgen die Empfangssalons im Palast. Ehrlich gesagt, viele bemerkten überhaupt keine Veränderungen. An den Konzerten und Dichterlesungen früherer Zeiten hatten sie am meisten die Pausen geschätzt, wo sich die edlen Dons über die Vorzüge gewisser Jagdhundrassen unterhielten oder sich Witze erzählten. Sie waren noch fähig zu einem nicht allzulange dauernden Disput über die Eigenschaften der Wesen im Jenseits, aber schon die Fragen über die Form des Planeten oder die Ursache von Epidemien wurden als unanständig erachtet. Einige Wehmut rief bei den Gardeoffizieren das Verschwinden der Maler hervor, unter denen einige Meister waren, die die nackte Natur abgebildet hatten … Rumata erschien ein wenig verspätet im Palast. Das Lever hatte schon begonnen. In den Zimmern drängte sich das Volk, man hörte die gereizte Stimme des Königs, und es ertönten die melodischen Kommandos des Zeremonienministers, der über die Bekleidung seiner Majestät wachte. Die Höflinge besprachen im allgemeinen die Ereignisse der letzten Nacht. Ein Verbrecher mit dem Gesicht eines Irukaniers war in der Nacht in den Palast eingedrungen, hatte die Wache erschlagen und sich ins Schlafgemach seiner Königlichen Hoheit geschlichen. Dort wurde er angeblich von Don Reba persönlich entwaffnet und festgenommen, und am Weg zum Turm der Fröhlichkeit durch eine vor lauter Untergebenheit in Raserei geratene Meute von Patrioten in Stücke gerissen. Das war bereits der sechste Attentatsversuch im Lauf eines Monats, und daher rief die Tatsache des Anschlags selbst keinerlei Interesse mehr hervor. Man besprach nur die Details. Rumata erfuhr, daß sich seine Majestät beim Anblick des Mörders auf seiner Liegestatt aufrichtete, mit seinem Körper die allerschönste Dona Midara deckte und die historischen Worte sprach: »Hinweg mit dir, Halunke!« Die meisten glaubten die historischen Worte gern, nahmen aber an, der König habe den Mörder für einen Lakaien gehalten. Und alle stimmten darin überein, daß Don Reba wie immer auf der Hut gewesen und im Nahkampf unüberwindlich sei. Rumata stimmte mit ein paar eleganten Floskeln dieser Meinung zu und erzählte als Antwort eine eben erst ersonnene Geschichte davon, wie Don Reba von zwölf Räubern überfallen worden war: drei davon erledigte er auf der Stelle, und die übrigen schlug er in die Flucht. Die Geschichte wurde mit großem Interesse und reger Zustimmung aufgenommen, worauf Rumata wie beiläufig bemerkte, daß er diese Geschichte von Don Sera gehört habe. Der Ausdruck des Interesses verschwand sogleich von den Gesichtern der Anwesenden, denn es war jedem bekannt, daß Don Sera ein berüchtigter Dummkopf und Lügner war. Über Dona Okana sprach keiner ein Wort. Darüber wußten sie entweder noch nichts, oder sie gaben sich den Anschein, nichts zu wissen. Liebenswürdigkeiten verstreuend und den Damen die Hände drückend, zwängte sich Rumata Schritt für Schritt bis in die vorderen Reihen der aufgetakelten, parfümierten und reichlich schwitzenden Menge durch. Die Edlen des Reiches unterhielten sich halblaut: »Ja, ja, eben diese Stute. Sie wollte sich verbarrikadieren, aber der Teufel soll mich holen, wenn er sie nicht noch am selben Abend an Don Ke verspielt hat …« – »Was ihre Hüften betrifft, mein edler Don, so hatten sie ganz außergewöhnliche Formen. Wie heißt das doch bei Zuren … hm, hm, hm … Berge von kühlem Schaum … hm, hm, hm … nein, Hügel kühlen Schaums … Jedenfalls mächtige Hüften.« – »Da öffne ich leise das Fenster, nehme den Dolch zwischen die Zähne und, stellen Sie sich vor, mein Freund, ich spüre, wie das Gitter über mir nachgibt …« – »Ich fuhr ihm mit dem Schwertgriff über die Zähne, so daß sich dieser graue Hund zweimal um seinen eigenen Kopf drehte. Sie können ihn übrigens bestaunen, dort steht er mit einem solchen Blick, als habe er ein Anrecht darauf …« – » … und Don Tameo spuckte auf den Boden, rutschte aus und plumpste mit dem Kopf voran in den Kamin …« – » … da sagt der Mönch zu ihr: erzähl mir doch deinen Traum … ha ha ha!…«