Für einen Dichter hielt ich mich nicht. Was ich gelegentlich schrieb, war Feuilleton, nicht Dichtung. Im stillen trug ich aber die geheimgehaltene Hoffnung, es werde mir eines Tages gegeben werden, eine Dichtung zu schaffen, ein großes, kühnes Lied der Sehnsucht und des Lebens.
Der fröhlich klare Spiegel meiner Seele wurde zuweilen von einer Art von Schwermut verschattet, doch einstweilen nicht ernstlich gestört. Sie kam zuweilen für einen Tag oder eine Nacht, als eine träumende, einsiedlerische Trauer, verschwand wieder spurlos und kehrte nach Wochen oder Monaten zurück. Ich ward an sie allmählich wie an eine vertraute Freundin gewöhnt und empfand sie nicht quälend, sondern nur als ein unruhiges Müdesein, das seine eigene Süßigkeit hatte. Wenn sie mich nachts befiel, lag ich statt zu schlafen stundenlang im Fenster, sah den schwarzen See, die auf den bleichen Himmel gezeichneten Silhouetten der Berge und darüber die schönen Sterne. Dann ergriff mich oft ein ängstlich süßes, starkes Gefühl, als sähe all diese nächtige Schönheit mich mit einem gerechten Vorwurf an. Als sehnten sich Sterne, Berge und Seen nach einem, der ihre Schönheit und das Leiden ihres stummen Daseins verstünde und ausspräche, und als wäre ich dieser eine und als wäre dies mein wahrer Beruf, der stummen Natur in Dichtungen Ausdruck zu gewähren. Auf welche Weise das möglich wäre, darüber dachte ich niemals nach, sondern fühlte nur die schöne, ernste Nacht ungeduldig in stummem Verlangen auf mich warten. Auch schrieb ich nie etwas in solcher Stimmung. Doch spürte ich gegen diese dunkeln Stimmen ein Gefühl der Verantwortung und trat gewöhnlich nach solchen Nächten mehrtägige einsame Fußwanderungen an. Es schien mir, ich könnte damit der Erde, die sich in stummem Flehen mir anbot, ein wenig Liebe erweisen, über welche Vorstellung ich dann selbst wieder lachte. Diese Wanderungen wurden eine Grundlage meines späteren Lebens; einen großen Teil der seitherigen Jahre habe ich als Wanderer verbracht, auf wochen- und monatelangen Touren durch mehrere Länder. Ich gewöhnte mich daran, mit wenig Geld und einem Stück Brot in der Tasche weit zu marschieren, tagelang einsam unterwegs zu sein und häufig im Freien zu nächtigen.
Die Malerin hatte ich über der Schriftstellerei ganz vergessen. Da kam ein Zettel von ihr: »Ein paar Freunde und Freundinnen werden am Donnerstag zum Tee bei mir sein. Bitte kommen Sie auch und bringen Sie Ihren Freund mit.«
Wir gingen hin und fanden eine kleine Künstlerkolonie beisammen. Es waren fast lauter Unberühmte, Vergessene, Erfolglose, was für mich etwas Rührendes hatte, obwohl alle ganz zufrieden und fidel schienen. Man bekam Tee, Butterbrot, Schinken und Salat. Da ich keine Bekannten dort fand und ohnehin nicht gesprächig war, gab ich meinem Hunger nach und aß etwa eine halbe Stunde lang still und ausdauernd, während die andern nur erst Tee nippten und schwatzten. Als diese nun, einer um den andern, auch ein wenig zugreifen wollten, zeigte es sich, daß ich fast den ganzen Schinkenvorrat allein verzehrt hatte. Ich war des trüglichen Glaubens gewesen, es stehe mindestens noch eine zweite Platte in Reserve. Da man nun leise lachte und ich einige ironische Blicke einheimste, wurde ich wütend und verwünschte die Italienerin samt ihrem Schinken. Ich stand auf und entschuldigte mich kurz bei ihr, erklärte, ein andermal mein Abendessen selber mitbringen zu wollen, und griff nach meinem Hütlein.
Da nahm die Aglietti mir den Hut aus der Hand, sah mich erstaunt und ruhig an und bat mich ernstlich dazubleiben. Auf ihr Gesicht fiel das Licht einer Stehlampe, durch den Florschirm gemäßigt, und da sah ich mitten im Ärger mit plötzlich begreifendem Auge die wunderbare, reife Schönheit dieser Frau. Ich erschien mir auf einmal sehr unartig und dumm und nahm wie ein gemaßregelter Schuljunge in einer abseitigen Ecke Platz. Dort blieb ich sitzen und blätterte in einem Album vom Corner See. Die andern tranken Tee, gingen hin und her, lachten und redeten durcheinander, und irgendwo im Hintergrund hörte man Geigen und ein Cello stimmen. Ein Vorhang wurde zurückgeschlagen, und man sah vier junge Leute vor improvisierten Pulten sitzen, bereit, ein Streichquartett aufzuführen. In diesem Augenblicke trat die Malerin zu mir, stellte eine Tasse Tee vor mir aufs Tischchen, nickte mir gütig zu und nahm neben mir Platz. Das Quartett begann und dauerte lang, aber ich hörte nichts davon, sondern staunte mit runden Augen die schlanke, feine, schöngekleidete Dame an, an deren Schönheit ich gezweifelt und deren Vorräte ich aufgegessen hatte. Mit Freude und Angst erinnerte ich mich daran, daß sie mich hatte zeichnen wollen. Dann dachte ich an Rösi Girtanner, an die Besteigung der Alpenrosenwand, an die Geschichte der Schneekönigin, die mir jetzt alle nur wie eine Vorbereitung auf diesen heutigen Augenblick erschienen.
Als die Musik zu Ende war, ging die Malerin nicht, wie ich gefürchtet hatte, wieder weg, sondern blieb ruhig sitzen und fing mit mir zu plaudern an. Sie gratulierte mir zu einer Novelle, die sie in der Zeitung gesehen hatte. Sie scherzte über Richard, um den sich ein paar junge Mädchen drängten und dessen sorgloses Gelächter zuweilen alle anderen Stimmen überklang. Dann bat sie wieder, mich zeichnen zu dürfen. Da hatte ich einen Einfall. Unvermittelt führte ich das Gespräch italienisch fort und erntete dafür nicht nur einen fröhlich überraschten Blick ihrer lebhaften Südländeraugen, sondern hatte den köstlichen Genuß, sie ihre Sprache reden zu hören, die Sprache, die ihrem Mund und ihren Augen und ihrer Gestalt entsprach, die Wohllaute, elegante, raschfließende lingua Toscana mit einem entzückenden, leichten Anflug von Tessinerwelsch. Ich selbst sprach weder schön noch fließend, doch störte es mich nicht. Anderntags sollte ich kommen, um von ihr gezeichnet zu werden.
»A rivederla«, sagte ich beim Abschied und verbeugte mich, so tief ich konnte.
»A rivederci domani«, lächelte sie und nickte.
Von ihrem Hause weg schritt ich immerzu weiter, bis die Straße einen Hügelkamm erreichte und plötzlich das dunkle Land schön und mächtig vor mir ruhte. Ein einzelnes Boot mit roter Laterne strich über den See und warf ein paar flackernde Scharlachstreifen auf das schwarze Wasser, aus welchem sonst nur da und dort ein vereinzelter schmaler Wellenkamm mit dünnem, silberfahlem Umriß hervortrat. In einem nahen Garten war Mandolinenspiel und Gelächter. Der Himmel war fast zur Hälfte verhangen, und über die Hügel lief ein starker, warmer Wind.
Und wie der Wind die Äste der Obstbäume und die schwarzen Kronen der Kastanien liebkoste, bestürmte und beugte, daß sie stöhnten und lachten und zitterten, so spielte mit mir die Leidenschaft. Auf dem Kamm des Hügels kniete ich, legte mich auf die Erde, sprang auf und stöhnte, stampfte den Boden, warf den Hut von mir, wühlte mit dem Gesicht im Gras, rüttelte an den Baumstämmen, weinte, lachte, schluchzte, tobte, schämte mich, war selig und todbeklommen. Nach einer Stunde war alles in mir abgespannt und in einer trüben Schwüle erstickt. Ich dachte nichts, beschloß nichts, fühlte nichts; traumwandelnd stieg ich den Hügel hinab, schweifte durch die halbe Stadt, sah in einer abgelegenen Straße noch eine späte kleine Schenke offen, trat willenlos ein, trank zwei Liter Waadtländer und kam gegen Morgen schauderhaft betrunken nach Hause.
Am folgenden Nachmittag war Fräulein Aglietti ganz erschrocken, als ich zu ihr kam.
»Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank? Sie sehen ja ganz zerstört aus.«
»Nichts von Belang«, sagte ich. »Mir scheint, ich war heute nacht sehr betrunken, das ist alles. Bitte beginnen Sie nur!«
Ich ward auf einen Stuhl gesetzt und gebeten, mich ruhig zu halten. Das tat ich auch, denn ich schlummerte in Bälde ein und habe jenen ganzen Nachmittag im Atelier verschlafen. Es kam vermutlich vom Terpentingeruch der Malerwerkstätte, daß ich träumte, unser Nachen zu Haus werde frisch gestrichen. Ich lag im Kies daneben und sah meinen Vater mit Topf und Pinsel hantieren; auch die Mutter war da, und als ich sie fragte, ob sie denn nicht gestorben sei, sagte sie leise: »Nein, denn wenn ich nicht da wäre, würdest du am Ende der gleiche Lump werden wie dein Papa.«
Als ich erwachte, fiel ich vom Stuhl und fand mich mit Erstaunen in die Werkstatt der Erminia Aglietti versetzt. Sie selbst sah ich nicht, hörte sie aber im Nebenstüblein mit Tassen und Besteck klappern und schloß daraus, daß es Abendessenszeit sein müsse.
»Sind Sie wach?« rief sie herüber.
»Jawohl. Hab ich lang geschlafen?«
»Vier Stunden. Schämen Sie sich nicht?«
»O doch. Aber ich hatte einen so schönen Traum.«
»Erzählen Sie!«
»Ja, wenn Sie herauskommen und mir verzeihen.«
Sie kam heraus, doch wollte sie mit der Verzeihung noch warten, bis ich meinen Traum erzählt hätte. Also erzählte ich, und über dem Traumerzählen geriet ich tief in die vergessene Kinderzeit hinein, und als ich schwieg und es schon völlig dunkel geworden war, hatte ich ihr und mir selber meine ganze Kindheitsgeschichte erzählt. Sie gab mir die Hand, strich mir den zerknitterten Rock zurecht, lud mich ein, morgen wieder zum Zeichnen zu kommen, und ich fühlte, daß sie auch meine heutige Unart begriffen und verziehen habe.
In den nächsten Tagen saß ich ihr Stunde um Stunde. Es wurde dabei fast gar nichts gesprochen, ich saß oder stand ruhig und wie verzaubert da, hörte den weichen Strich der Zeichenkohle, sog den leichten Ölfarbegeruch ein und hatte keine andere Empfindung, als daß ich in der Nähe der von mir geliebten Frau war und ihren Blick beständig auf mir ruhen wußte. Das weiße Atelierlicht floß an den Wänden hin, ein paar schläfrige Fliegen sumsten an den Scheiben, und nebenan im Stäbchen sang die Spiritusflamme, denn ich bekam nach jeder Sitzung eine Tasse Kaffee serviert.
Zu Hause dachte ich oft über Erminia nach. Es berührte oder verminderte meine Leidenschaft gar nicht, daß ich ihre Kunst nidit verehren konnte. Sie selbst war so schön, gütig, klar und sicher; was gingen mich ihre Bilder an? Ich fand vielmehr in ihrer fleißigen Arbeit etwas Heroisches. Die Frau im Kampf ums Leben, eine stille, duldende und tapfere Heldin, übrigens gibt es nichts Erfolgloseres als das Nachdenken über jemand, den man liebt. Solche Gedankengänge sind wie gewisse Volks- und Soldatenlieder, worin tausenderlei Dinge vorkommen, der Refrain aber hartnäckig wiederkehrt, auch wo er durchaus nicht paßt.
So ist denn auch das Bild der schönen Italienerin, das ich im Gedächtnis trage, zwar nicht unklar, aber doch ohne die vielen, kleinen Linien und Züge, die man an Fremden oft viel besser sieht als an Nahestehenden. Ich weiß nicht mehr, welche Frisur sie trug, wie sie sich kleidete und so weiter, nicht einmal, ob sie eigentlich groß oder klein von Gestalt war. Wenn ich an sie denke, sehe ich einen dunkelhaarigen, edelgeformten Frauenkopf, ein Paar scharfblickende, nicht sehr große Augen in einem bleichen, lebendigen Gesicht und einen vollendet schöngeschwungenen, schmalen Mund von herber Reife. Wenn ich an sie denke und an jene ganze verliebte Zeit, dann erinnere ich mich stets nur jenes Abends auf dem Hügel, wo der warme Wind seeüber wogte und wo ich weinte, jubelte und berserkerte. Und eines anderen Abends, von dem ich nun erzählen will.