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Am Ende jedes Winters kam der Föhn mit seinem tieftönigen Gebrause, das der Älpler mit Zittern und Entsetzen hört und nach welchem er in der Fremde mit verzehrendem Heimweh dürstet.

Wenn der Föhn nahe ist, spüren ihn viele Stunden voraus Männer und Weiber, Berge, Wild und Vieh. Sein Kommen, welchem fast immer kühle Gegenwinde vorausgehen, verkündigt ein warmes, tiefes Sausen. Der blaugrüne See wird in ein paar Augenblicken tinteschwarz und setzt plötzlich hastige, weiße Schaumkronen auf. Und bald darauf donnert er, der noch vor Minuten unhörbar friedlich lag, mit erbitterter Brandung wie ein Meer ans Ufer. Zugleich rückt die ganze Landschaft ängstlich nah zusammen. Auf Gipfeln, die sonst in entrückter Ferne brüteten, kann man jetzt die Felsen zählen, und von Dörfern, die sonst nur als braune Flecken im Weiten lagen, unterscheidet man jetzt Dächer, Giebel und Fenster. Alles rückt zusammen, Berge, Matten und Häuser, wie eine furchtsame Herde. Und dann beginnt das grollende Sausen, das Zittern im Boden. Aufgepeitschte Seewellen werden streckenweit wie Rauch durch die Luft dahingetrieben, und fortwährend, zumal in den Nächten, hört man den verzweifelten Kampf des Sturmes mit den Bergen. Eine kleine Zeit später redet sich dann die Nachricht von verschütteten Bächen, zerschlagenen Häusern, zerbrochenen Kähnen und vermißten Vätern und Brüdern durch die Dörfer.

In Kinderzeiten fürchtete ich den Föhn und haßte ihn sogar. Mit dem Erwachen der Knabenwildheit aber bekam ich ihn lieb, den Empörer, den Ewigjungen, den frechen Streiter und Bringer des Frühlings. Es war so herrlich, wie er voll Leben, Überschwang und Hoffnung seinen wilden Kampf begann, stürmend, lachend und stöhnend, wie er heulend durch die Schluchten hetzte, den Schnee von den Bergen fraß und die zähen alten Föhren mit rauhen Händen bog und zum Seufzen brachte. Später vertiefte ich meine Liebe und begrüßte nun im Föhn den süßen, schönen, allzureichen Süden, welchem immer wieder Ströme von Lust, Wärme und Schönheit entquellen, um sich an den Bergen zu zersprengen und endlich im flachen, kühlen Norden ermüdet zu verbluten. Es gibt nichts Seltsameres und Köstlicheres als das süße Föhnfieber, das in der Föhnzeit die Menschen der Bergländer und namentlich die Frauen überfällt, den Schlaf raubt und alle Sinne streichelnd reizt. Das ist der Süden, der sich dem spröden, ärmeren Norden immer wieder stürmisch und lodernd an die Brust wirft und den verschneiten Alpendörfern verkündigt, daß jetzt an den nahen purpurnen Seen Welschlands schon wieder Primeln, Narzissen und Mandelzweige blühen.

Alsdann, wenn der Föhn verblasen hat und die letzten schmutzigen Lawinen zerlaufen sind, dann kommt das Schönste. Dann recken sich berghinan auf allen Seiten die beblümten gelblichen Matten, rein und selig stehen die Schneegipfel und Gletscher in ihren Höhen, und der See wird blau und warm und spiegelt Sonne und Wolkenzüge wider.

Alles dieses kann schon eine Kindheit und zur Not auch ein Leben erfüllen. Denn alles dieses redet laut und ungebrochen die Sprache Gottes, wie sie nie über eines Menschen Lippen kam. Wer sie so in seiner Kindheit vernommen hat, dem tönt sie sein Leben lang nach, süß und stark und furchtbar, und ihrem Bann entflieht er nie. Wenn einer in den Bergen heimisch ist, der kann jahrelang Philosophie oder historia naturalis studieren und mit dem alten Herrgott aufräumen – wenn er den Föhn wieder einmal spürt oder hört eine Laue durchs Holz brechen, so zittert ihm das Herz in der Brust, und er denkt an Gott und ans Sterben.

An meines Vaters Häuschen grenzte ein umzäunter, winziger Garten. Es gedieh dort ein herber Salat, Rüben und Kohl, außerdem hatte die Mutter eine rührend schmale, dürftige Rabatte für Blumen angelegt, in welcher zwei Monatsrosenstöcke, ein Georginenbusch und eine Handvoll Reseden hoffnungslos und kümmerlich verschmachteten. An den Garten stieß ein noch kleinerer, kiesiger Platz, welcher bis zum See reichte. Dort standen zwei beschädigte Fässer, einige Bretter und Pfähle, und unten im Wasser lag unser Weidling angebunden, welcher damals noch alle paar Jahre neu geflickt und geteert wurde. Die Tage, an denen dies geschah, sind mir fest im Gedächtnis geblieben. Es waren warme Nachmittage im Vorsommer, über dem Gärtchen taumelten die schwefelgelben Zitronenfalter in der Sonne, der See war ölglatt, blau und still und leise schillernd, die Berggipfel dünn umdünstet, und auf dem kleinen Kiesplatz roch es gewaltig nach Pech und Ölfarbe. Auch nachher duftete der Nachen noch den ganzen Sommer hindurch nach Teer. Sooft ich, viele Jahre später, irgendwo am Meere den eigentümlich aus Wassergeruch und Teerbrodem gemischten Duft in die Nase bekam, trat mir sogleich unser Seeplätzlein vors Auge, und ich sah wieder den Vater in Hemdärmeln mit dem Pinsel hantieren, sah die bläulichen Wölkchen aus seiner Pfeife in die stillen Sommerlüfte steigen und die blitzgelben Falter ihre unsicheren, scheuen Flüge tun. An solchen Tagen zeigte mein Vater eine ungewöhnlich behagliche Laune, pfiff Triller, was er vortrefflich konnte, und gab vielleicht sogar einen einzelnen, kurzen Jodler von sich, diesen jedoch nur halblaut. Die Mutter kochte alsdann etwas Gutes auf den Abend, und ich denke mir jetzt, sie tat es in der stillen Hoffnung, Camenzind möchte diesen Abend nicht ins Wirtshaus gehen. Er ging aber doch.

Daß die Eltern die Entwicklung meines jungen Gemütes sonderlich gefördert oder gestört hätten, kann ich nicht sagen. Die Mutter hatte immer beide Hände voll Arbeit, und mein Vater hatte sich gewiß mit nichts auf der Welt so wenig beschäftigt als mit Erziehungsfragen. Er hatte genug zu tun, seine paar Obstbäume kümmerlich im Stand zu halten, das Kartoffeläckerlein zu bestellen und nach dem Heu zu sehen. Ungefähr alle paar Wochen aber nahm er mich abends, ehe er ausging, bei der Hand und verschwand stillschweigend mit mir auf dem über dem Stall gelegenen Heuboden. Dort vollzog sich alsdann ein seltsamer Straf- und Sühneakt: ich bekam eine Tracht Prügel, ohne daß der Vater oder ich selbst genauer gewußt hätte, wofür. Es waren stille Opfer am Altar der Nemesis, und sie wurden ohne Schelten seinerseits oder Geschrei meinerseits dargebracht als schuldiger Tribut an eine geheimnisvolle Macht. Immer, wenn ich in späteren Jahren einmal vom »blinden« Schicksal reden hörte, fielen diese mysteriösen Szenen mir wieder ein und schienen mir eine überaus plastische Darstellung jenes Begriffs zu sein. Ohne es zu wissen, befolgte mein guter Vater dabei die schlichte Pädagogik, die das Leben selbst an uns zu üben pflegt, indem es uns hie und da aus heiteren Lüften ein Donnerwetter sendet, wobei es uns überlassen bleibt, nachzusinnen, durch was für Missetaten wir eigentlich die oberen Mächte herausgefordert haben. Leider stellte dies Nachsinnen bei mir sich nie oder nur selten ein, vielmehr nahm ich jene ratenweise Züchtigung ohne die wünschenswerte Selbstprüfung gelassen oder auch trotzig hin und freute mich an solchen Abenden stets, nun wieder meinen Zoll entrichtet und ein paar Wochen Strafpause vor mir zu haben. Viel selbständiger trat ich den Versuchen meines Alten, mich zur Arbeit anzuleiten, entgegen. Die unbegreifliche und verschwenderische Natur hatte in mir zwei widerstrebende Gaben vereinigt: eine ungewöhnliche Körperkraft und eine leider nicht geringere Arbeitsscheu. Der Vater gab sich alle Mühe, einen brauchbaren Sohn und Mithelfer aus mir zu machen, ich aber drückte mich mit allen Schikanen um die mir auferlegten Arbeiten, und noch als Gymnasiast hatte ich für keinen der antiken Heroen so viel Mitgefühl wie für Herakles, da er zu jenen berühmten, lästigen Arbeiten gezwungen ward. Einstweilen kannte ich nichts Schöneres, als mich auf Felsen und Matten oder am Wasser müßiggängerisch herumzutreiben.

Berge, See, Sturm und Sonne waren meine Freunde, erzählten mir und erzogen mich und waren mir lange Zeit lieber und bekannter als irgend Menschen und Menschenschicksale. Meine Lieblinge aber, die ich dem glänzenden See und den traurigen Föhren und sonnigen Felsen vorzog, waren die Wolken.

Zeigt mir in der weiten Welt den Mann, der die Wolken besser kennt und mehr lieb hat als ich! Oder zeigt mir das Ding in der Welt, das schöner ist, als Wolken sind! Sie sind Spiel und Augentrost, sie sind Segen und Gottesgabe, sie sind Zorn und Todesmacht. Sie sind zart, weich und friedlich wie die Seelen von Neugeborenen, sie sind schön, reich und spendend wie gute Engel, sie sind dunkel, unentrinnbar und schonungslos wie die Sendboten des Todes. Sie schweben silbern in dünner Schicht, sie segeln lachend weiß mit goldenem Rand, sie stehen rastend in gelben, roten und bläulichen Farben. Sie schleichen finster und langsam wie Mörder, sie jagen sausend kopfüber wie rasende Reiter, sie hängen traurig und träumend in bleichen Höhen wie schwermütige Einsiedler. Sie haben die Formen von seligen Inseln und die Formen von segnenden Engeln, sie gleichen drohenden Händen, flatternden Segeln, wandernden Kranichen. Sie schweben zwischen Gottes Himmel und der armen Erde als schöne Gleichnisse aller Menschensehnsucht, beiden angehörig – Träume der Erde, in welchen sie ihre befleckte Seele an den reinen Himmel schmiegt. Sie sind das ewige Sinnbild alles Wanderns, alles Suchens, Verlangens und Heimbegehrens. Und so, wie sie zwischen Erde und Himmel zag und sehnend und trotzig hängen, so hängen zag und sehnend und trotzig die Seelen der Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit.

Oh, die Wolken, die schönen, schwebenden, rastlosen! Ich war ein unwissendes Kind und liebte sie, schaute sie an und wußte nicht, daß auch ich als eine Wolke durchs Leben gehen würde – wandernd, überall fremd, schwebend zwischen Zeit und Ewigkeit. Von Kinderzeiten her sind sie mir liebe Freundinnen und Schwestern gewesen. Ich kann nicht über die Gasse gehen, so nicken wir einander zu, grüßen uns und verweilen einen Augenblick Aug in Auge. Auch vergaß ich nicht, was ich damals von ihnen lernte: ihre Formen, ihre Farben, ihre Züge, ihre Spiele, Reigen, Tänze und Rasten, und ihre seltsam irdisch-himmlischen Geschichten.

Namentlich die Geschichte der Schneeprinzessin. Ihr Schauplatz ist das mittlere Gebirg, im Vorwinter, bei warmem Unterwind. Die Schneeprinzessin erscheint mit kleinem Gefolge, aus gewaltiger Höhe kommend, und sucht sich einen Rastort in weiten Bergmulden oder auf einer breiten Kuppe aus. Neidisch sieht die falsche Bise die Arglose sich lagern, leckt heimlich gierend am Berg empor und überfällt sie plötzlich wütend und tosend. Sie wirft der schönen Prinzessin zerfetzte schwarze Wolkenlappen entgegen, höhnt sie, krakeelt sie an, möchte sie verjagen. Eine Weile ist die Prinzessin unruhig, wartet, duldet, und manchmal steigt sie kopfschüttelnd, leise und höhnisch wieder in ihre Höhe zurück. Manchmal aber sammelt sie plötzlich ihre geängsteten Freundinnen um sich her, enthüllt ihr blendend fürstliches Angesicht und weist den Kobold mit kühler Hand zurück. Er zaudert, heult, flieht. Und sie lagert sich still, hüllt ihren Sitz weitum in blassen Nebel, und wenn der Nebel sich verzogen hat, liegen Mulden und Kuppen klar und glänzend mit reinem, weichem Neuschnee bedeckt.

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