Aus der nüchternen und drückenden Luft der Heimat herausgekommen, tat ich große Flügelschläge der Wonne und Freiheit. Wenn ich sonst im Leben je und je zu kurz gekommen bin, so habe ich doch die absonderliche, schwärmerische Lust der Jugendzeit reich und rein genossen. Gleich einem jungen Krieger, der am blühenden Waldrand rastet, lebte ich in seliger Unruhe zwischen Kampf und Getändel; und wie ein ahnungsvoller Seher stand ich an dunkeln Abgründen, dem Brausen großer Ströme und Stürme lauschend und die Seele gerüstet, den Zusammenklang der Dinge und die Harmonie alles Lebens zu vernehmen. Tief und beglückt trank ich aus den vollen Bechern der Jugend, litt in der Stille süße Leiden um schöne, scheu verehrte Frauen und kostete das edelste Jugendglück einer männlich frohen, reinen Freundschaft bis zum Grunde.
In einem neuen Buckskinanzug und mit einer kleinen Kiste voll Bücher und sonstiger Habe kam ich angefahren, bereit mir ein Stück Welt zu erobern und so bald als möglich den Rauhbeinen daheim zu beweisen, daß ich aus einem anderen Holze als die übrigen Camenzinde geschnitten sei. Drei wundervolle Jahre wohnte ich in derselben weithinblickenden, windigen Mansarde, lernte, dichtete, sehnte mich und fühlte alle Schönheit der Erde mich mit warmer Nähe umgeben. Nicht jeden Tag hatte ich etwas Warmes zu essen, aber jeden Tag und jede Nacht und jede Stunde sang und lachte und weinte mir das Herz, einer starken Freude voll, und hielt das liebe Leben heiß und sehnlich an sich gedrückt.
Zürich war die erste große Stadt, die ich grüner Peter zu sehen bekam, und ein paar Wochen lang machte ich beständig große Augen. Das städtische Leben aufrichtig zu bewundern oder zu beneiden, fiel mir zwar nicht ein – darin war ich eben ein Bauer, – aber ich hatte Freude an dem Vielerlei der Straßen, Häuser und Menschen. Ich beschaute die von Wagen belebten Gassen, die Schifflände, Plätze, Gärten, Prunkbauten und Kirchen; ich sah fleißige Leute in Scharen zur Arbeit laufen, sah Studenten bummeln, Vornehme ausfahren, Gecken sich brüsten, Fremde umherschlendern. Die modisch eleganten, hoffärtigen Weiber der Reichen kamen mir wie Pfauen im Hühnerhofe vor, hübsch, stolz und ein wenig lächerlich. Schüchtern war ich eigentlich nicht, nur steif und trotzig, und ich zweifelte nicht, daß ich ganz der Kerl dazu sei, dies rege Leben der Städte gründlich kennenzulernen und später selber einmal meinen sicheren Platz darin zu finden.
Die Jugend trat mich an in der Gestalt eines schönen, jungen Menschen, der in derselben Stadt studierte und im ersten Stockwerk meines Hauses zwei hübsche Zimmer gemietet hatte. Jeden Tag hörte ich ihn unten Klavier spielen und spürte dabei zum erstenmal etwas vom Zauber der Musik, der weiblichsten und süßesten Kunst. Dann sah ich den hübschen Jungen das Haus verlassen, ein Buch oder Notenheft in der Linken, in der Rechten die Zigarette, deren Rauch hinter seinem biegsam schlanken Gang verwirbelte. Mich zog eine scheue Liebe zu ihm hin, doch blieb ich abgesondert und fürchtete mich, mit einem Menschen Umgang zu haben, neben dessen leichtem, freiem und wohlhabendem Wesen meine Armut und mein Mangel an Lebensart mich nur demütigen würde. Da kam er selber zu mir. Eines Abends klopfte es an meiner Tür, und ich erschrak ein wenig; denn ich hatte noch nie Besuch bei mir gesehen. Der schöne Student trat ein, gab mir die Hand, nannte seinen Namen und tat so frei und fröhlich, als wären wir alte Bekannte.
»Ich wollte fragen, ob Sie nicht Lust hätten, ein wenig mit mir zu musizieren«, sagte er freundlich. Aber ich hatte in meinem Leben nie ein Instrument berührt. Ich sagte ihm das und fügte hinzu, daß ich außer Jodeln keinerlei Künste verstehe, doch habe mir sein Klavierspiel oft schön und verlockend heraufgeklungen.
»Wie man sich täuschen kann!« rief er lustig. »Ihrem Äußeren nach hätte ich geschworen, Sie seien Musiker. Merkwürdig! Aber Sie können jodeln? O bitte, jodeln Sie doch einmal! Ich höre es ums Leben gern.«
Ich war ganz bestürzt und erklärte ihm, daß ich so auf Verlangen und in der Stube drin durchaus nicht jodeln könne. Das müsse auf einem Berge oder mindestens im Freien und ganz aus eigener Lust geschehen.
»Dann jodeln Sie also auf einem Berge! Vielleicht morgen? Ich bitte Sie sehr darum. Wir könnten etwa gegen Abend miteinander ausfliegen. Wir bummeln und plaudern ein wenig, droben jodeln Sie dann, und nachher essen wir in irgendeinem Dorf zu Nacht. Sie haben doch Zeit?«
O ja, Zeit genug. Ich sagte eilig zu. Und dann bat ich ihn, mir etwas vorzuspielen, und stieg mit ihm in seine schöne, große Wohnung hinunter. Ein paar modern eingerahmte Bilder, das Klavier, eine gewisse zierliche Unordnung und ein feiner Zigarettenduft erzeugten in dem hübschen Raum eine Art von freier und behaglicher Eleganz und wohnlicher Stimmung, die mir ganz neu war. Richard setzte sich ans Klavier und spielte ein paar Takte.
»Sie kennen das, nicht wahr?« nickte er herüber und sah prachtvoll aus, wie er so vom Spielen weg den hübschen Kopf herüberbog und mich glänzend ansah.
»Nein«, sagte ich, »ich kenne nichts.«
»Es ist Wagner«, rief er zurück, »aus den Meistersingern«, und spielte weiter. Es klang leicht und kräftig, sehnsüchtig und heiter, und umfloß mich wie ein laues, erregendes Bad. Zugleich betrachtete ich mit heimlicher Lust den schlanken Nacken und Rücken des Spielers und seine weißen Musikerhände, und dabei überlief mich dasselbe scheue und bewundernde Gefühl von Zärtlichkeit und Achtung, mit dem ich früher jenen dunkelhaarigen Schüler betrachtet hatte, zusammen mit der schüchternen Ahnung, dieser schöne, vornehme Mensch würde vielleicht wirklich mein Freund werden und meine alten, nicht vergessenen Wünsche nach einer solchen Freundschaft wahr machen.
Tags darauf holte ich ihn ab. Langsam und plaudernd erstiegen wir einen mäßigen Hügel, überschauten Stadt, See und Gärten und genossen die satte Schönheit des Vorabends.
»Und nun jodeln Sie!« rief Richard. »Wenn Sie sich immer noch genieren, so drehen Sie mir den Rücken zu. Aber bitte, laut!«
Er konnte zufrieden sein. Ich jodelte wütend und frohlockend in die rosige Abendweite hinein, in allen Tonarten und Brechungen. Als ich aufhörte, wollte er etwas sagen, hielt aber sogleich wieder inne und deutete horchend gegen die Berge. Von einer fernen Höhe her kam Antwort, leise, langgezogen und schwellend, der Gruß eines Hirten oder Wanderers, und wir hörten still und freudig zu. Während dieses gemeinsamen Stehens und Lauschens überrann mich mit köstlichem Schauer die Empfindung, zum erstenmal neben einem Freunde zu stehen und so zu zweien in schöne, rosig verwölkte Lebensweiten zu blicken. Der abendliche See begann sein weiches Farbenspiel, und kurz vor Sonnenuntergang sah ich aus zerfließendem Gedünste ein paar trotzige, frech gezackte Alpengipfel hervortreten.
»Dort ist meine Heimat«, sagte ich. »Die mittlere Schroffe ist die rote Fluh, rechts das Geißhorn, links und weiter entfernt der runde Sennalpstock. Ich war zehn Jahr und drei Wochen alt, als ich zum erstenmal auf dieser breiten Kuppe stand.«
Ich strengte die Augen an, um etwa noch einen der südlicheren Gipfel zu erspähen. Nach einer Weile sagte Richard etwas, das ich nicht verstand.
»Was sagten Sie?« fragte ich.
»Ich sage, daß ich nun weiß, welche Kunst Sie treiben.« »Welche denn?« »Sie sind Dichter.«
Da wurde ich rot und ärgerlich und war zugleich erstaunt, wie er das erraten habe.
»Nein«, rief ich, »ein Dichter bin ich nicht. Ich habe zwar auf der Schule Verse gemacht, aber nun schon lang keine mehr.«
»Darf ich die einmal sehen?«
»Sie sind verbrannt. Aber Sie dürften sie doch nicht sehen, auch wenn ich sie noch hätte.«
»Es waren gewiß sehr moderne Sachen, mit viel Nietzsche drin?«
»Was ist das?«
»Nietzsche? Ja, großer Gott, kennen Sie den nicht?« »Nein. Woher soll ich ihn kennen?«
Nun war er entzückt, daß idi Nietzsche nicht kannte. Ich aber wurde ärgerlich und fragte, über wieviel Gletscher er schon gegangen sei. Als er sagte, über keinen, tat ich darüber ebenso spöttisch erstaunt wie er vorher über mich. Da legte er mir die Hand auf den Arm und sagte ganz ernst: »Sie sind empfindlich. Aber Sie wissen ja selber gar nicht, was für ein beneidenswert unverdorbener Mensch Sie sind und wie wenig solche es gibt. Sehen Sie, in einem Jahr oder zwei werden Sie Nietzsche und all den Kram ja auch kennen, viel besser als ich, da Sie gründlicher und gescheiter sind. Aber gerade so, wie Sie jetzt sind, hab ich Sie gern. Sie kennen Nietzsche nicht und Wagner nicht, aber Sie sind viel auf Schneebergen gewesen und haben so ein tüchtiges Oberländergesicht. Und ganz gewiß sind Sie auch ein Dichter. Ich kann das am Blick und an der Stirn sehen.«
Auch das, daß er so freimütig und ungeniert mich betrachtete und seine Meinung herausplauderte, erstaunte mich und kam mir ungewöhnlich vor.
Noch viel erstaunter und glücklicher war ich aber, als er acht Tage später in einem vielbesuchten Biergarten Brüderschaft mit mir schloß, vor allen Leuten aufsprang, mich küßte und umfaßte und mit mir wie verrückt um den Tisch herum tanzte.
»Was werden die Leute denken!« warnte ich ihn schüchtern.
»Sie werden denken: die zwei sind außerordentlich glücklich oder ganz außerordentlich besoffen; die meisten aber werden gar nichts denken.«
Überhaupt schien Richard mir oft, obwohl er älter, klüger, besser erzogen und in allem beschlagener und raffinierter war als ich, doch im Vergleich mit mir das reine Kind zu sein. Auf der Straße machte er halbwüchsigen Schulmädchen feierlich-spöttisch den Hof, die ernsthaftesten Klavierstücke unterbrach er unerwartet mit völlig kindischen Witzen, und als wir einmal spaßeshalber in eine Kirche gegangen waren, sagte er plötzlich mitten während der Predigt nachdenklich und wichtig zu mir: »Du, findest du nicht, der Pfarrer sieht aus wie ein Kaninchengreis?« Der Vergleich traf zu, ich fand aber, er hätte mir das auch nachher mitteilen können, und sagte ihm das.
»Wenn es doch richtig war!« schmollte er. »Bis nachher hätte ich es wahrscheinlich wieder vergessen.«
Daß seine Witze keineswegs immer geistreich waren, häufig sogar nur auf das Zitieren eines Buschverses hinausliefen, störte weder mich noch andere, denn was wir an ihm liebten und bewunderten, war nicht Witz und Geist, sondern die unbezwingliche Heiterkeit seines lichten, kindlichen Wesens, welche jeden Augenblick hervorbrach und ihn mit einer leichten, fröhlichen Atmosphäre umgab. Sie konnte sich in einer Gebärde, in einem leisen Lachen, in einem fidelen Blicke äußern, aber lange sich verbergen konnte sie nicht. Ich bin überzeugt, daß er auch im Schlaf zuweilen lachen oder eine Geste der Heiterkeit machen mußte.