Vor meiner Schriftstellerei hatte ich nach wie vor selber keinen Respekt. Ich konnte von meiner Arbeit leben, kleine Ersparnisse zurücklegen und gelegentlich auch meinem Vater etwas Geld senden. Er trug es freudig ins Wirtshaus, sang dort mein Lob in allen Tonarten und dachte sogar daran, mir einen Gegendienst zu leisten. Ich hatte ihm nämlich einmal gesagt, daß ich mein Brot zumeist durch Zeitungsartikel verdiene. Er hielt mich für einen Redakteur oder Berichterstatter, wie die ländlichen Bezirksblätter sie haben, und nun diktierte er dreimal väterliche Briefe an mich, in welchen er mir Ereignisse mitteilte, die ihm wichtig schienen und von denen er glaubte, sie würden mir Stoff geben und Geld einbringen. Einmal war es ein Scheunenbrand, dann der Absturz zweier Bergtouristen und das drittemal das Ergebnis einer Schulzenwahl. Diese Mitteilungen waren schon in einen grotesk tönenden Zeitungsstil gebracht und machten mir wirkliche Freude, denn es waren doch Zeichen einer freundlichen Verbindung zwischen ihm und mir und seit Jahren die ersten Briefe, die ich aus der Heimat erhielt. Sie erquickten mich auch als ungewollte Verhöhnung meiner Schreiberei; denn ich besprach Monat für Monat manches Buch, dessen Erscheinen hinter jenen ländlichen Ereignissen an Wichtigkeit und Folgen weit zurückstand.
Es erschienen damals gerade zwei Bücher von Verfassern, die ich als extravagante lyrische Jünglinge seinerzeit in Zürich gekannt hatte. Der eine lebte nun in Berlin und wußte viel Schmutziges aus Cafés und Bordellen der Großstadt zu schildern. Der zweite hatte sich in der Umgebung von München eine luxuriöse Einsiedelei erbaut und taumelte zwischen neurasthenischen Selbstbetrachtungen und spiritistischen Anregungen verächtlich und hoffnungslos hin und her. Ich mußte die Bücher besprechen und machte mich natürlich über beide harmlos lustig. Vom Neurastheniker kam nur ein verachtungsvoller Brief in wahrhaft fürstlichem Stil. Der Berliner aber machte in einer Zeitschrift Skandal, fand sich in seinem ernsten Wollen verkannt, stützte sich auf Zola und machte aus meiner verständnislosen Kritik nicht nur mir, sondern dem eingebildeten und prosaischen Geist der Schweizer überhaupt einen Vorwurf. Der Mann hatte damals in Zürich vielleicht die einzige einigermaßen gesunde und würdige Zeit seines Literatenlebens gehabt.
Nun war ich nie ein sonderlicher Patriot gewesen, aber das war mir doch etwas zu stark berlinert, und ich erwiderte dem Unzufriedenen mit einer langen Epistel, in der ich mit meiner Geringschätzung der aufgeblasenen Großstadtmoderne nicht gerade hinterm Berge hielt.
Diese Zänkerei tat mir wohl und nötigte mich, wieder einmal über meine Auffassung des modernen Kulturlebens nachzudenken. Die Arbeit war mühsam und langwierig und förderte wenig erquickliche Resultate zu Tag. Mein Büchlein verliert nichts, wenn ich darüber schweige.
Zugleich aber zwangen mich diese Betrachtungen, über mich selbst und mein lang geplantes Lebenswerk eindringlicher nachzudenken.
Ich hatte, wie man weiß, den Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige, stumme Leben der Natur nahezubringen und liebzumachen. Ich wollte sie lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind. Ich wollte daran erinnern, daß gleich den Liedern der Dichter und gleich den Träumen unsrer Nächte auch Ströme, Meere, ziehende Wolken und Stürme Symbole und Träger der Sehnsucht sind, welche zwischen Himmel und Erde ihre Flügel ausspannt und deren Ziel die zweifellose Gewißheit vom Bürgerrecht und von der Unsterblichkeit alles Lebenden ist. Der innerste Kern jedes Wesens ist dieser Rechte sicher, ist Gottes Kind und ruht ohne Angst im Schoß der Ewigkeit. Alles Schlechte, Kranke, Verdorbene aber, das wir in uns tragen, widerspricht und glaubt an den Tod.
Ich wollte aber auch die Menschen lehren, in der brüderlichen Liebe zur Natur Quellen der Freude und Ströme des Lebens zu finden; ich wollte die Kunst des Schauens, des Wanderns und Genießens, die Lust am Gegenwärtigen predigen. Gebirge, Meere und grüne Inseln wollte ich in einer verlockend mächtigen Sprache zu euch reden lassen und wollte euch zwingen, zu sehen, was für ein maßlos vielfältiges, treibendes Leben außerhalb eurer Häuser und Städte täglich blüht und überquillt. Ich wollte erreichen, daß ihr euch schämet, von ausländischen Kriegen, von Mode, Klatsch, Literatur und Künsten mehr zu wissen als vom Frühling, der vor euren Städten sein unbändiges Treiben entfaltet, und als vom Strom, der unter euren Brücken hinfließt, und von den Wäldern und herrlichen Wiesen, durch welche eure Eisenbahn rennt. Ich wollte euch erzählen, welche goldene Kette unvergeßlicher Genüsse ich Einsamer und Schwerlebiger in dieser Welt gefunden hatte, und wollte, daß ihr, die ihr vielleicht glücklicher und froher seid als ich, mit noch größeren Freuden diese Welt entdecket.
Und ich wollte vor allem das schöne Geheimnis der Liebe in eure Herzen legen. Ich hoffte, euch zu lehren, allem Lebendigen rechte Brüder zu sein und so voll Liebe zu werden, daß ihr auch das Leid und auch den Tod nicht mehr fürchten, sondern als ernste Geschwister ernst und geschwisterlich empfangen würdet, wenn sie zu euch kämen.
Das alles hoffte ich nicht in Hymnen und hohen Liedern, sondern schlicht, wahrhaftig und gegenständlich darzustellen, ernsthaft und scherzhaft, wie ein heimgekehrter Reisender seinen Kameraden von draußen erzählt.
Ich wollte – ich wünschte – ich hoffte – , das klingt nun freilich komisch. Auf den Tag, an welchem dies viele Wollen einen Plan und Umriß bekäme, wartete ich noch immer. Aber ich hatte wenigstens viel gesammelt. Nicht nur im Kopf, sondern auch in einer Menge von schmalen Büchlein, die ich auf Reisen und Märschen in der Tasche trug und von denen alle paar Wochen eines voll wurde. Da hatte ich knapp und kurz Notizen über alles Sichtbare in der Welt aufgeschrieben, ohne Reflexionen und ohne Verbindungen. Es waren Skizzenhefte wie die eines Zeichners, und sie enthielten in kurzen Worten lauter reale Dinge: Bilder aus Gassen und Landstraßen, Silhouetten von Gebirgen und Städten, erlauschte Gespräche von Bauern, Handwerksburschen, Marktweibern, ferner Wetterregeln, Notizen über Beleuchtungen, Winde, Regen, Gestein, Pflanzen, Tiere, Vogelflug, Wellenbildungen, Meerfarbenspiel und Wolkenformen. Gelegentlich hatte ich auch kurze Geschichten daraus bearbeitet und veröffentlicht, als Natur- und Wanderstudien, doch alles ohne Beziehungen zum Menschlichen. Mir war die Geschichte eines Baumes, ein Tierleben oder die Reise einer Wolke auch ohne menschliche Staffage interessant genug gewesen.
Daß eine größere Dichtung, in welcher überhaupt keine Menschengestalten auftreten, ein Unding sei, war mir schon öfters durch den Kopf gegangen, doch hing ich jahrelang an diesem Ideal und hegte die dunkle Hoffnung, es möchte vielleicht einmal eine große Inspiration dies Unmögliche überwinden. Nun sah ich endgültig ein, daß ich meine schönen Landschaften mit Menschen bevölkern müsse und daß diese gar nicht natürlich und treu genug dargestellt werden könnten. Da war unendlich viel nachzuholen, und ich hole heute noch daran nach. Bis dahin waren die Menschen insgesamt ein Ganzes und im Grunde Fremdes für mich gewesen. Neuerdings lernte ich, wie lohnend es ist, statt einer abstrakten Menschheit Einzelne zu kennen und zu studieren, und meine Notizbüchlein und mein Gedächtnis füllten sich mit ganz neuen Bildern.
Der Anfang dieser Studien war ganz erfreulich. Ich trat aus meiner naiven Gleichgültigkeit heraus und gewann Interesse an mancherlei Leuten. Ich sah, wie viel Selbstverständliches mir fremd geblieben war, aber ich sah auch, wie das viele Wandern und Schauen mir die Augen geöffnet und geschärft habe. Und da von jeher eine Vorliebe mich zu ihnen gezogen hatte, gab ich mich besonders gerne und häufig mit Kindern ab.
Immerhin war das Beobachten der Wolken und Wellen erfreulicher gewesen als das Menschenstudieren. Mit Erstaunen nahm ich wahr, daß der Mensch von der übrigen Natur sich vor allem durch eine schlüpfrige Gallert von Lüge unterscheidet, die ihn umgibt und schützt. In Kürze beobachtete ich an allen meinen Bekannten dieselbe Erscheinung – das Ergebnis des Umstandes, daß jeder eine Person, eine klare Figur vorzustellen genötigt wird, während doch keiner sein eigenstes Wesen kennt. Mit sonderbaren Gefühlen stellte ich an mir selber dasselbe fest und gab es nun auf, den Personen auf den Kern dringen zu wollen. Bei den meisten war die Gallert viel wichtiger. Ich fand sie überall auch schon an den Kindern, welche stets, bewußt oder unbewußt, lieber eine Rolle mimen, als sich ganz unverhüllt und instinktiv kundgeben.
Nach einiger Zeit kam es mir vor, ich mache keine Fortschritte mehr und verliere mich an spielerische Einzelheiten. Zunächst suchte ich den Fehler bei mir selbst, doch konnte ich mir bald nicht mehr verhehlen, daß ich enttäuscht war und daß meine Umgebung mir die Menschen nicht gab, die ich suchte. Ich brauchte nicht Interessantheiten, sondern Typen. Das bot mir weder das Volk der Akademiker noch der Kreis der Gesellschaftsmenschen. Mit Sehnsucht dachte ich an Italien, und mit Sehnsucht an die einzigen Freunde und Begleiter meiner vielen Fußreisen, die Handwerksburschen. Mit solchen war ich viel gewandert und hatte unter ihnen viele prachtvolle Burschen gefunden.
Es war vergeblich, die Herberge zur Heimat und einige wilde Pennen aufzusuchen. Die Menge der unständigen Durchwanderer diente mir nicht. So stand ich denn wieder eine Weile ratlos, hielt mich an die Kinder und studierte viel in Kneipen herum, wo natürlich auch nichts zu holen war. Es kamen ein paar traurige Wochen, da ich mir mißtraute, meine Hoffnungen und Wünsdie lächerlich übertrieben fand, mich viel im Freien umhertrieb und wieder halbe Nächte beim Wein verbrütete.
Auf meinen Tischen hatten sich damals wieder ein paar Stöße von Büchern angesammelt, die ich gern behalten hätte, statt sie dem Antiquar zu geben; doch war kein Raum in meinen Schränken mehr. Um endlich abzuhelfen, suchte ich eine kleine Schreinerei auf und bat den Meister, zum Ausmessen eines Bücherschafts in meine Wohnung zu kommen.
Er kam, ein kleiner, langsamer Mann mit bedächtigen Manieren, er maß den Raum aus, kniete am Boden, streckte den Meterstab zur Decke, stank ein wenig nach Leim und notierte eine Zahl um die andere behutsam mit zollgroßen Ziffern in sein Notizbuch. Zufällig geschah es, daß er bei seinem Hantieren an einen mit Büchern beladenen Sessel stieß. Ein paar Bände fielen herunter, und er bückte sich, sie aufzuheben. Unter den Büchern war ein kleines Handlexikon der Handwerksburschensprache. Man findet den kleinen Kartonband fast in allen deutschen Handwerksburschenherbergen, ein gut gemachtes und ergötzliches Büchlein.