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L A U E R T

(DAS MAKING OF RILEY PAIGE—BUCH 5)

B L A K E P I E R C E

Blake Pierce

Blake Pierce ist der USA Today Bestsellerautor der RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher sechzehn Bücher umfasst. Er ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Mystery-Reihe, die bisher aus dreizehn Büchern besteht, der AVERY BLACK Mystery-Reihe, die aus sechs Büchern besteht, der KERI LOCKE Mystery-Reihe, die in fünf Büchern erhältlich ist, der DAS MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher fünf Bücher umfasst, der KATE WISE Mystery-Reihe, von der bisher sechs Bücher erhältlich sind, der spannenden CHLOE FINE psychologischen Suspense-Mystery-Reihe, die bisher aus fünf Büchern besteht, der JESSIE HUNT psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, von der es bisher fünf Bücher gibt, der AU-PAIR psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, die bisher aus zwei Büchern besteht, und der ZOE PRIME Mystery-Reihe, von der bisher zwei Bücher erwerblich sind.

Blake ist selbst ein passionierter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres, weshalb er sich freuen würde, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie doch seine Webseite www.blakepierceauthor.com, um mehr über ihn herauszufinden und in Kontakt zu bleiben!

Copyright © 2019 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E–Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagsbild Runis, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com.

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORÜBER (BAND #1)

SO GUT WIE VERLOREN (BAND #2)

SO GUT WIE TOT (BAND #3)

JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (BAND #1)

DER PERFEKTE BLOCK (BAND #2)

DAS PERFEKTE HAUS (BAND #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (BAND #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (BAND #5)

CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (BAND #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (BAND #2)

SACKGASSE (BAND #3)

STUMMER NACHBAR (BAND #4)

KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (BAND #1)

WENN SIE SÄHE (BAND #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (BAND #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (BAND #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (BAND #5)

WENN SIE SICH FÜRCHTEN WÜRDE (BAND #6)

DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (BAND #1)

WARTET (BAND #2)

LOCKT (BAND #3)

NIMMT (BAND #4)

LAUERT (BAND #5)

TÖTET (BAND #6)

RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (BAND #1)

GEFESSELT (BAND #2)

ERSEHNT (BAND #3)

GEKÖDERT (BAND #4)

GEJAGT (BAND #5)

VERZEHRT (BAND #6)

VERLASSEN (BAND #7)

ERKALTET (BAND #8)

VERFOLGT (BAND #9)

VERLOREN (BAND #10)

BEGRABEN (BAND #11)

ÜBERFAHREN (BAND #12)

GEFANGEN (BAND #13)

RUHEND (BAND #14)

GEMIEDEN (BAND #15)

VERMISST (BAND #16)

EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE

EINST GELÖST

MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (BAND #1)

BEVOR ER SIEHT (BAND #2)

BEVOR ER BEGEHRT (BAND #3)

BEVOR ER NIMMT (BAND #4)

BEVOR ER BRAUCHT (BAND #5)

EHE ER FÜHLT (BAND #6)

EHE ER SÜNDIGT (BAND #7)

BEVOR ER JAGT (BAND #8)

VORHER PLÜNDERT ER (BAND #9)

VORHER SEHNT ER SICH (BAND #10)

VORHER VERFÄLLT ER (BAND #11)

VORHER NEIDET ER (BAND #12)

AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (BAND #1)

LAUF (BAND #2)

VERBORGEN (BAND #3)

GRÜNDE DER ANGST (BAND #4)

RETTE MICH (BAND #5)

ANGST (BAND #6)

KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (BAND #1)

EINE SPUR VON MORD (BAND #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (BAND #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (BAND #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (BAND #5)

INHALT

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

вернуться

PROLOG

Kimberly Dent stellte ihren Kragen gegen die Kälte hoch. Sie war später als sonst unterwegs, aber es war nur ein kurzer, sicherer Weg zu ihr nach Hause vom Haus ihrer Freundin Goldie Dowling. Die Nacht war nicht unangenehm kalt und Kimberly gefiel es, wie die kühle Luft auf ihren Wangen brannte und dass sie ihren eisigen Atem sehen konnte. Es war eigentlich sogar sehr schön und die Straßenlaternen beleuchteten die Überbleibsel des Schneefalls von letzter Woche.

Kimberly war sich sicher, dass ihre Eltern nichts dagegen haben würden, dass sie so spät noch unterwegs war. Ihre Schulnoten waren gut und Mom und Dad vertrauten darauf, dass sie sich nicht in Geschichten verstricken würde –– nicht, dass es besonders viele Geschichten zum verstricken gab, in einer kleinen, langweiligen Stadt wie Dalhart. Außerdem schliefen beide ihrer Eltern bestimmt mittlerweile. Wie die meisten Menschen in dieser Nachbarschaft gingen sie immer früh zu Bett.

Sie summte eine Pop Melodie, merkte aber, dass sie nicht wusste, um welches Lied es sich handelte.

Wahrscheinlich irgendetwas Neues, was ich im Radio gehört habe.

Es war komisch, dass sie einen Ohrwurm von einem Lied hatte, das sie nicht einmal kannte. Aber das schien ihr in letzter Zeit oft zu passieren. Natürlich würde auch dieses Lied eines Tages genauso vertraut sein, weil ein altes Paar Schuhe. Und doch würde sie niemals in der Lage sein, sich daran zu erinnern, wann und so sie es genau zum ersten Mal gehört hatte.

Dieser Gedanke machte sie irgendwie traurig.

Dann wiederum war dieser ganze Abend irgendwie traurig gewesen.

Goldie und sie hatten all die üblichen Dinge getan, die sie über die Jahre verbunden hatten –– die Fingernägel der anderen lackiert, sich gegenseitig frisiert, zu einigen ihrer Lieblingslieder getanzt, Karten gespielt, etwas ferngesehen.

Doch dann hatten sie sich gestritten –– oder zumindest war Goldie sauer auf Kimberly geworden.

Und das wegen einer Nichtigkeit, dachte Kimberly.

Kimberly hatte nichts getan, außer Goldie zu fragen, ob diese sich sicher war, dass sie nach ihrem Schulabschluss im Frühjahr hier in Dalhart bleiben wolle. Goldie hatte sie deswegen angefaucht.

„Willst du sagen, ich soll Clint nicht sofort heiraten?“, wollte Goldie wissen.

Kimbely war entrüstet. Sie wusste, dass Goldie und Clint es ernst miteinander meinten. Sie waren schon seit der Mittelstufe zusammen. Aber Goldie hatte nie irgendetwas von Heirat gesagt. Und falls Clint Goldie einen Antrag gemacht haben sollte, so hatte Goldie das sicherlich nicht erwähnt.

Natürlich wusste Kimberly, dass Goldies Eltern begeistert sein würden, wenn sie Clint heiraten und hier in Dalhart ansässig werden würde, wenn sie direkt Kinder haben würde. Doch das schien nie Goldies eigenen Vorstellungen entsprochen zu haben.

Jedenfalls nicht bis zum heutigen Abend.

Dann hatte Kimberly den Fehler begangen, Goldie an ihren langjährigen Traum zu erinnern, nach New York oder L.A. zu ziehen und eine Schauspielerin zu werden.

„Ach, werd‘ erwachsen“, hatte Goldie gesagt. „Wir sind schon zu alt für diese kindischen Träumereien.“

Diese Worte hatten Kimberly wirklich getroffen, aber nicht so hart wie das, was Goldie als Nächstes sagte.

„Oder glaubst du immer noch, dass du eine Olympiagymnastin wirst?“

Kimberly war entsetzt gewesen. Nein, sie hatte nicht mehr davon geträumt, seit sie zwölf oder dreizehn gewesen war. Es erschien ihr gemein von Goldie, dass sie das aus dem nichts wieder hervorgeholt hatte.

Trotzdem hoffte Kimberly auf viel mehr, als Dalhart zu bieten hatte. Sie konnte es kaum erwarten hier raus zu kommen. Sie dachte sich, dass sie direkt nach Memphis ziehen und den ersten Job annehmen würde, den man ihr anbot, um zur Abwechslung mal das Großstadtleben zu genießen.

Sie hatte das bisher noch zu niemandem erwähnt –– nicht einmal zu Goldie. Und der heutige Abend hatte sich ganz bestimmt nicht wie der richtige Zeitpunkt angefühlt, um es ihr zu sagen. Kimberly war sich sicher, dass ihre Eltern gegen jedwede derartige Idee sein würden. Sie hoffte bloß, dass sie stark genug sein würde, um auf dem zu beharren, was sie wollte, wenn die Zeit zum Abschied kommen würde.

Sie hatte nun die Hälfte ihres Weges hinter sich und summte immer noch dieselbe Melodie, wobei sie sich immerzu fragte, welches Lied es war. Dann hörte sie ein komisches, schrilles Geräusch. Zuerst dachte sie, dass es der Wind war. Doch eigentlich gab es grade mal eine leichte Brise in der Luft.

Sie blieb abrupt stehen und horchte.

Irgendjemand pfeift! begriff sie.

Nicht nur das. Irgendjemand pfiff dieselbe Melodie, die sie soeben gesummt hatte.

Plötzlich hörte das Pfeifen auf.

Sie rief leise, aber bestimmt: „Bist du das, Jay? Wenn ja, ist das nicht gerade witzig.“

Ihr Freund Jay hatte vor etwa einer Woche mit ihr Schluss gemacht, und seither benahm er sich wie ein Stalker. Sie hatte mitbekommen, dass er sie vor seinen männlichen Freunden schlecht redete und sich beschwerte, dass sie nicht für ihn „die Beine breitmachen“ wollte. Natürlich war das genau der Grund, aus dem er ihre Beziehung beendet hatte, aber Kimberly fand nicht, dass das sonst irgendjemanden etwas anging.

Und nun musste Kimberly sich fragen –– stellte Jay ihr nach?

Sie seufzte und dachte: Ich wäre nicht überrascht.

Sie schüttelte den Kopf und ging weiter.

Dann begann das Pfeifen erneut.

Kimberly ging schneller und schaute sich andauernd um, während sie versuchte festzustellen, wo das Pfeifen herkam. Sie konnte es einfach nicht bestimmen. Aber sie begann zu hoffen, dass es doch Jay war. Der Gedanke, dass es einer von Jays Freak-Freunden sein könnte gefiel ihr überhaupt nicht. Und sie wagte es nicht, sich vorzustellen, dass es jemand sein könnte, den sie nicht einmal kannte.

Während sie weiterlief, schaute sie sich auf all die Häuser um, in denen die Menschen lebten, die sie ihr gesamtes Leben lang gekannt hatte. Sollte sie an einer dieser Türen klopfen, damit sie irgendjemand rein ließ?

Nein, es ist spät, dachte sie.

Sie konnte in den Fenstern keine Lichter sehen. Diese Menschen schliefen mittlerweile wahrscheinlich schon alle. Selbst wenn nicht, so würden sie sicherlich nicht erfreut sein, zu so später Stunde noch gestört zu werden. Und ihre Eltern würden ausrasten, wenn sie erfuhren, dass sie die Nachbarn so spät noch belästigte.

Das Pfeifen verstummte erneut, doch das beruhigte Kimberly kein Bisschen. Die Nacht erschien ihr nun kälter und dunkler und gruseliger, als vor nur wenigen Minuten.

Als sie um eine Ecke bog, sah sie, dass in der Nähe ein Kleintransporter geparkt war. Seine Scheinwerfer brannten und der Motor lief.

Sie atmete erleichtert aus. Sie erkannte das Fahrzeug zwar nicht wieder, aber wenigstens war es irgendjemand. Wer auch immer hinter dem Steuer saß, würde sie sicherlich die restliche kurze Strecke zu ihrem Haus fahren.

Sie lief zum Wagen rüber und merkte, dass die Seitentür offenstand. Sie schaute hinein und sah, dass der leere, offene Innenraum von den Vordersitzen durch eine Art Gitter abgetrennt war. Sie konnte niemandem im Inneren des Wagens erkennen.

Kimberly fragte sich, ob der Fahrer womöglich Motorprobleme gehabt hatte und sich vielleicht gerade nach Hilfe umsah. Wenn es ein Fremder war, der nicht von hier kam, würde er nicht wissen, an wen er sich wenden sollte.

Vielleicht kann ich helfen, dachte sie.

Sie suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy, denn sie dachte, sie könnte ihren Dad anrufen. Doch dann zögerte sie einen Moment lang, unsicher, ob sie Dad wirklich aufwecken wollte, selbst wenn es darum ging einem verirrten Fremden zu helfen.

Sie hörte Schritte, die sich näherten und als sie sich umdrehte, erblickte sie ein bekanntes Gesicht.

„Ach, du bist es...“, sagte sie und verspürte eine momentane Erleichterung.

Doch sein Gesichtsausdruck ließ sie alle Worte verschlucken, die hätten folgen können. Sie hatte seinen Blick noch nie so kalt und hart erlebt.

Ohne ein Wort zu sagen, griff er nach ihr und riss ihr die Handtasche und das Handy aus der Hand.

Nun stieg Angst in Kimberly hoch. Die Dinge, die sie tun könnte, rasten durch ihren Kopf.

Um Hilfe schreien, sagte sie sich. Jemanden aufwecken.

Doch plötzlich wurde sie hochgehoben und gewaltsam in den Kleintransporter geworfen.

Die Tür knallte zu und die Innenbeleuchtung erlosch.

Sie fummelte nach dem Türgriff, doch stellte fest, dass die Tür verschlossen war.

Endlich kam Kimberlys Stimme wieder.

„Lass mich hier raus!“, schrie sie und hämmerte gegen die Tür.

Dann ging die Fahrertür auf und der Mann kletterte hinein.

Der Kleintransporter fuhr los.

Kimberly klammerte sich am Gitter fest, das sie vom Fahrer trennte, und forderte: „Was machst du? Lass mich hier raus!“

Doch das Fahrzeug fuhr immer weiter durch die Straße und Kimberly wusste, dass niemand in dieser verschlafenen Nachbarschaft sie hören konnte.

вернуться

KAPITEL EINS

Als der erste Schuss fiel, reagierte Riley Sweeney schnell. Genau wie sie an der Academy gelernt hatte, ging sie direkt hinter der nächsten Abschirmung in Deckung –– einem Honda, der vor dem Motel parkte, in dem sich zwei Mörder versteckten. Sie hatte allerdings nicht das Gefühl, dass der kompakte Wagen ihr besonders viel Schutz bieten konnte.

Es war kalt zu dieser Jahreszeit im Norden des Bundesstaats New York, es fiel Schnee. Die Sichtverhältnisse waren überhaupt nicht gut. Das hier war Rileys erster bewaffneter Konflikt und sie war sich nicht sicher, dass sie ihn überhaupt überleben würde.

Sie sah durch das Wirbeln der Schneeflocken, dass Spezialagent Jake Crivaro viel sicherer hinter einem massiven SUV Zuflucht genommen hatte. Crivaro, ihr Partner und Mentor, schaute besorgt aus, als er sich nach ihr umsah. Riley wünschte, dass sie ihm signalisieren könnte, dass alles ok sein würde. Wie auch die sechs Polizisten vor Ort, die soeben mit ihnen angerückt waren, trugen Riley und Crivaro Schutzwesten. Doch Riley wusste, dass sie nicht zu viel von ihrer schusssicheren Weste erwarten durfte. Ein gezielter Schuss in den Kopf –– selbst ein versehentlicher Schuss –– könnte tödlich sein. Crivaro hielt einen Lautsprecher an seinen Mund und rief hinein: „Hier spricht Spezialagent Jake Crivaro vom FBI. Ich bin hier mit meiner Partnerin und den lokalen Justizvollstreckungsbeamten. Wir haben euch umzingelt. Es gibt kein Entkommen. Kommt mit erhobenen Händen raus.“

Es folgte keine Antwort aus dem Motelzimmer, in dem die beiden Mörder sich verschanzt hatten. Stattdessen hörte man nur das gespenstische Pfeifen des Windes.

Riley lugte vorsichtig hinter dem kleinen Auto hervor und versuchte das Motelzimmer zu identifizieren. In genau diesem Moment hörte man ein lautes Knacken zusammen mit einem schrillen, eindringlichen Geräusch –– etwas zwischen einem Pfeifen und einem Summen.

Eine Kugel war direkt an ihr vorbeigeflogen. Riley zog ihren Kopf zurück aus der Sichtlinie. Sie japste, als sie begriff: Gerade hat jemand zum ersten Mal auf mich geschossen.

Sie hatte viel mit echter Munition trainiert, doch nichts davon war jemals auf sie persönlich abgefeuert worden.

Genau wie Crivaro und die Polizisten es getan hatten, hatte sie bereits ihre Waffe gezogen –– eine .40 Kaliber semiautomatische Glock.

Sie fühlte sich ungeschickt mit der Waffe in ihren Händen.

Sie dachte sich, dass sie froh sein sollte, dass sie vor Kurzem auf eine machtvollere Waffe umgestiegen war, als die .22 Kaliber Pistole, die sie zusammen mit ihrer FBI Dienstmarke bekommen hatte. Doch diese hier war weniger vertraut und sie wusste noch nicht, was sie mit ihr alles würde tun müssen.

Sie wusste, dass sie jetzt nicht zurückschießen durfte –– wie scheinbar alle anderen im Team auch. Sie wollten alles in ihrer Macht tun, um diese Situation ohne unnötigen Waffeneinsatz zu beenden.

Sie vermutete, dass einige der Polizisten, die sich in der Nähe aufhielten, sich genauso wie sie fühlten. Einige von ihnen waren vielleicht genauso frisch dabei, wie sie es war. Seitdem sie letztes Jahr ihre Ausbildung beim FBI abgeschlossen hatte, hatte Riley sich gefragt, wie sie sich fühlen würde, wenn sie zum ersten Mal in einer derartigen Situation sein würde.

Und jetzt, wo sie mitten drin war, wusste sie es immer noch nicht.

Einer Sache war sie sich sicher –– sie hatte kein Gefühl von Panik. Tatsächlich hatte sie überhaupt keine Angst. Es war eher so, als stünde sie neben sich und würde von der Seite betrachten, was gerade passierte, wie eine Art emotionsloser Beobachter. Die Situation erschien ihr absolut surreal, fast traumartig. Doch sie wusste, dass ihr gesamter Körper von Adrenalin durchströmt war, und dass sie bei klarem Verstand bleiben musste.

Die Tatsache, dass zumindest eine Person in diesem Team wusste, was sie tat, machte ihr ein wenig Mut. Dies hier war bei Weitem nicht die erste Erfahrung dieser Art für Agent Crivaro. Der kleine, kräftige Mann war eine FBI Legende mit einer langen Liste schwieriger Fälle, die er gelöst hatte.

Riley lehnte sich gegen das Auto und wartete auf irgendein Zeichen, was zu tun sei. Während dieser stillen Momente dachte sie daran zurück, wie dieses Team sich auf der Polizeiwache vor Ort versammelt hatte. Es war bloß eine kurze Weile her, doch in diesem Moment fühlte es sich so an, als wären bereits Tage oder gar Wochen vergangen. Sie wurden alle genau aufgeklärt über die Mörder, die sie zu stellen versuchen würden.

Als sie die Fotos der beiden gesehen hatte, hatte sie gedacht: Kinder. Sie sind bloß zwei Kinder.

Der siebzehnjährige Orin Rhodes und seine fünfzehnjährige Freundin Heidi Wright hatten ihre Mordserie nur einige Tage zuvor begonnen, in dem nahegelegenen Ort Hinton. Es hatte mit einem einfachen Akt purer Verzweiflung begonnen.

Heidi hatte Orin angerufen und ihm gesagt, dass sie zuhause in Gefahr sei. Orin hatte die Waffe seines Vaters genommen und war zu Heidi nach Hause gefahren und hatte sie dort vorgefunden, als sie von ihrem Vater und ihrem Bruder sexuell missbraucht wurde. Orin hatte beide ihrer Angreifer getötet.

Dann hatte sich Heidi die Waffe ihres eigenen Vaters geschnappt und sie und Orin hatten sich auf die Flucht begeben. Als sie merkten, dass sie kein Geld hatten, versuchten sie einen Spirituosenladen zu überfallen. Aber der Überfall ging schief und am Ende töteten sie den Ladenmanager und einen der Angestellten.

Die Polizei war nicht sicher, was genau danach geschehen war. Sie wussten, dass die Jugendlichen im Ort Jennings aufgetaucht waren, wo sie zwei absolut unschuldige Menschen gequält und ermordet hatten –– einen Handwerker mittleren Alters und ein siebzehnjähriges Mädchen. Dann war das Mörderpärchen erneut abgetaucht.

Das war als die örtliche Justiz Unterstützung vom FBI angefordert hatte. Sie hatten das Verhalten der Teenager so verstörend gefunden, dass sie ganz gezielt jemanden aus der Verhaltensanalyseeinheit angefragt hatten.

Riley und Agent Crivaro waren aus Quantico angereist, um zu helfen, wo sie konnten. Ihnen war klar, dass Orin und Heidi irgendeine Art Hochgefühl aus den spontanen Morden zogen. Es war sehr wahrscheinlich, dass sie immer mehr davon haben wollten. Sie brauchten keine Gründe mehr, um zu töten, und ihr Amoklauf würde lange noch kein Ende nehmen.

In der Zeit, in der Riley und Crivaro die Situation analysiert hatten, hatte die lokale Polizei herausgefunden, dass Heidi und Orin sich in diesem Motel versteckten. Die zwei Agenten waren mit dem lokalen Team ausgerückt, um sie festzunehmen... oder, wenn nötig, zu töten.

Da waren sie nun alle auf diesem Parkplatz und um sie wirbelte der Schnee. Einer der Teenager hatte sie bei ihrer Ankunft mit einem Schuss aus dem Motelzimmer begrüßt und nun war noch ein zweiter Schuss gefeuert worden, der Riley selbst haarscharf verfehlt hatte.

Was nun? fragte Riley sich.

Agent Crivaro sprach erneut durch den Lautsprecher in einem fast schon freundlichen, mitfühlenden Ton.

„Orin, Heidi, macht es nicht noch schlimmer, als es schon ist. Wir wollen keine Probleme. Wir wollen bloß reden. Wir können das lösen. Kommt einfach heraus mit euren Händen, wo wir sie sehen können, alle beide.“

Es wurde wieder still bevor die Stimme eines jungen Mannes vom Fenster aus erklang.

„Wir haben eine Geisel.“

Riley erschauderte vor Entsetzen. Agent Crivaros Miene verriet, dass es ihm genauso ging.

Orin fuhr fort: „Es ist ein Zimmermädchen des Motels. Sie sagt, sie heißt Anita. Bleiben Sie wo Sie sind, oder wir bringen sie um.“

Agent Crivaro lugte vorsichtig hinter dem SUV hervor und rief zurück: „Zeigt sie uns.“

Es kam keine Antwort. Riley konnte erahnen, was Crivaro dachte.

Ist das ein Bluff?

Vielleicht hatten sie gar keine Geisel. Vielleicht erkauften sie sich nur Zeit und versuchten ihre unabwendbare Verhaftung hinauszuzögern. Sie verhielten sich jedenfalls nicht so, als hätten sie tatsächlich eine Geisel. Riley hatte über Geiselnahmen an der Academy gelernt und Training dazu erhalten, sie hatte also eine ziemlich gute Vorstellung davon, was sie erwarten könnte.

Die Jugendlichen sollten jetzt verhandeln, darauf bestehen einen sicheren Fluchtweg ermöglicht zu bekommen. Doch das war nicht das, was gerade hier passierte. Die gesamte Situation schien zu einem Stillstand gekommen zu sein.

Dann hörte Riley Stimmen aus dem Motelzimmer kommen. Es war unmöglich zu verstehen, was gesagt wurde, aber es klang so, als würden der Junge und das Mädchen streiten. Dann erklang Heidis Stimme durchs Fenster.

„Okay, wir zeigen sie Ihnen. Versuchen Sie bloß nichts.“

Riley schaute erneut hinter dem Auto hervor. Sie konnte sehen, wie die Motelzimmertür aufging. Dann trat eine Figur in den Türrahmen. Es schien eine Frau zu sein, die eine Winterjacke mit Kapuze trug. Ihr Gesicht war durch den Schneewirbel nicht auszumachen. Sie stand still im Türrahmen und hielt ihre Hände zitternd über den Kopf.

Orin Rhodes rief aus dem Zimmer heraus: „Okay, da ist sie. Sie haben sie gesehen.“

Crivaro sprach erneut in den Lautsprecher: „Ja, aber ihr wollt die Dinge wirklich nicht auf diese Weise angehen. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe es viele Male erlebt. Eine Geiselnahme macht die Dinge für euch nur noch schlimmer. Lasst sie einfach gehen. Lasst sie zu uns rüberkommen. Dann können wir über eine vernünftige Lösung verhandeln.“

Riley bezweifelte, dass Crivaros Rechnung aufgehen würde, und sie vermutete, dass er es genauso sah. Wieso würde das Paar ihr einziges Ass im Ärmel in einem solchen Moment aufgeben?

Dann, zu Rileys Überraschung, machte die Frau ein paar Schritte auf sie zu. Das Herz pochte ihr in der Kehle, als sie hörte, wie Orin aus Protest etwas Unverständliches knurrte. Riley konnte ihn nicht sehen, aber was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Wird er sie erschießen? fragte sie sich.

Doch die Frau machte ein paar weitere unsichere Schritte weg vom Motel. Vielleicht, dachte Riley sich, hatten Orin und Heidi endlich ihr Gefallen am Morden verloren. Doch Riley war sich unsicherer denn je darüber, was gerade passierte. Wenn das Paar die Geisel tatsächlich hatte gehen lassen, was würden sie als Nächstes tun? Was konnten sie tun?

Sie können sich ergeben, dachte Riley.

Oder sie könnten kämpfen.

Natürlich wäre es Selbstmord, wenn sie das tun würden. Riley hatte eine Vorstellung davon, was sie erwarten konnte, wenn eine Schießerei ausbrechen würde. Das Paar hatte keine Chance in einer echten Schießerei, nicht gegen ein solches Team. Es war unwahrscheinlich, dass sie dem Kugelhagel standhalten könnten und sie würden sicherlich all ihre Munition verschossen haben, lange bevor diese dem Team ausging. Die ultimative Entscheidung war zwischen Kapitulation und Tod.

Die Frau ging schweigend über den Bürgersteig und trat dann auf den Parkplatz. Riley beobachtete Crivaro und fragte sich, was ihr Mentor als Nächstes tun würde. Würde er der Frau entgegenkommen und sie begrüßen, dann sicherstellen, dass sie so schnell wie möglich an einen sicheren Ort gebracht wurde? Bisher hatte er noch keine Anstalten gemacht, seine Deckung hinter dem SUV zu verlassen.

Dann wurden die Schritte der Frau beunruhigend schnell. Sie kam Riley immer näher, scheinbar ohne sie gesehen zu haben.

Und nun konnte Riley das Gesicht der Frau erkennen. Es war schließlich doch gar keine Geisel. Es war Heidi Wright selbst und sie zog irgendetwas aus ihrer Jackentasche hervor.

Sie hat eine Waffe, begriff Riley.

Riley wusste, was sie zu tun hatte, doch trotzdem zögerte sie.

Die Pistole des Mädchens feuerte und streute ziellose Schüsse über die Barrikaden, hinter denen sich Polizei und Agenten versteckten. Dann entdeckte sie Riley. Sie lächelte ein seltsam unschuldiges Lächeln, als sie ihre Waffe auf die junge Agentin richtete.

Für einen gefühlten Bruchteil einer Sekunde starrte Riley in den Schaft der Pistole. Dann begriff sie, dass sie ihre eigene Waffe bereits gezogen hatte und direkt ins Zentrum von Heidis Brust zielte.

Riley feuerte einen einzigen Schuss.

Heidi stolperte rückwärts, die Pistole fiel ihr aus der Hand. Ihr Lächeln war verschwunden und einem Ausdruck von Schock und Entsetzen gewichen. Dann sackte sie auf dem Boden in sich zusammen.

Riley konnte Orins Stimme schreien hören: „Heidi!“

Sie fuhr herum und sah, wie mehrere Polizisten die Motelzimmertür stürmten. Mit einer Miene erstaunten Horrors trat Orin aus dem Zimmer. Er hob seine Hände hoch über den Kopf, während er über den Parkplatz zu seiner erschossenen Freundin herüberstarrte. Er blieb absolut gefügig, als einer der Polizisten ihm Handschellen anlegte und ihm seine Rechte vorlas.

Von einem tiefen Horror ergriffen, ging Riley zum Mädchen herüber. Blut sprudelte aus der Wunde in ihrer Brust und färbte den Schnee auf dem Parkplatzasphalt rot. Heidis Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund japste stumm nach den letzten Atemzügen. Dann wurde sie komplett still. Der Ausdruck ihres toten Gesichts war unbeschreiblich traurig.

Riley begann am gesamten Körper zu zittern und ihre eigene Pistole fiel ihr beinahe aus der Hand. Plötzlich stand Agent Crivaro an ihrer Seite und nahm ihr sanft ihre Waffe weg.

Riley fühlte sich nun komplett betäubt.

Sie konnte sich selbst sagen hören: „Was habe ich getan?“

Crivaro legte seinen Arm um ihre Schulter und sagte: „Du hast es gut gemacht, Riley. Du hast getan, was du tun musstest.“

Doch Riley konnte nur immer wieder wiederholen: „Was habe ich getan?“

„Komm, suchen wir dir einen Platz, wo du dich hinsetzen kannst“, sagte Crivaro.

Riley konnte sich kaum aufrecht halten, als Crivaro sie vorsichtig zu einem der Polizeibusse führte. Sie spürte immer noch, wie die Augen des toten Mädchens sie anstarrten.

Ich habe jemanden getötet, dachte sie.

Sie hatte noch nie zuvor in ihrem Leben jemanden getötet.

Und nun hatte sie keine Ahnung, wie sie damit klarkommen sollte.

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KAPITEL ZWEI

Als Rileys Verlobter, Ryan Paige, versuchte seinen Arm um ihre Schulter zu legen, entzog sie sich ihm. Es war heute Abend nicht das erste Mal, dass sie reflexartig seinen Berührungen auswich. Sie war sich sicher, dass es seine Gefühle verletzte, aber sie konnte nicht anders.

Nach der Schießerei in Jennings, war Riley mit Jake nach Quantico zurückgeflogen und dann mit dem Auto zurück nach DC gefahren. Sie saß auf der Couch neben Ryan in ihrer kleinen Erdgeschosswohnung, doch die Bilder in ihrem Kopf waren noch vom ersten Teil dieses langen Tages.

Riley konnte Heidi Wrights tote Augen in den Schneefall starren sehen und war nicht in der Lage ihre Schuldgefühle abzuschütteln. Sie wusste, dass es irrational war, aber sie spürte nicht, dass sie gerade irgendjemandes Zuneigung verdiente.

„Was kann ich tun?“, fragte Ryan.

„Nichts“, antwortete sie. „Bleib einfach hier bei mir sitzen.“

Sie saßen schweigend da und Riley war dankbar für Ryans Anwesenheit. Die letzten Monate über hatten sie ihre Differenzen gehabt, aber in diesem Moment erschien er ihr als genau der gutaussehende, aufrichtige und rücksichtsvolle junge Mann, in den sie sich in ihrem letzten Semester an der Universität verliebt hatte.

In der Zwischenzeit ging sie in Gedanken immer wieder das durch, was passiert war, seitdem sie Heidi erschossen hatte. Es war alles wie im Traum und während ihres Fluges zurück nach Quantico hatte Agent Crivaro ihr immer wieder gesagt, dass sie im Zustand des Schocks war.

Ich nehme an, das bin ich immer noch, dachte sie.

Sie hatte immer noch alle physischen Symptome des Schocks, einschließlich kalter, schwitzender Hände und eines Zustandes von immer wiederkehrendem Schwindel und Verwirrung.

Wie lange würde es dauern, bis diese Symptome verschwanden?

Mit emotionsloser und monotoner Stimme, die selbst ihr merkwürdig vorkam, hatte sie Ryan soeben den gesamten Vorfall geschildert. Sie konnte sich gerade noch davor zurückhalten, die Ereignisse nicht aus der dritten Person Perspektive zu erzählen. Es war schwierig gewesen das Wort „ich“ zu verwenden, als sie über ihre eigenen Handlungen sprach. Sie wollte die ganze Zeit daran glauben, dass diese ganze Sache jemand anderem passiert war.

Als sie fertig war, hatte Ryan mit einer sanften Stimme gesagt: „Eine Sache verstehe ich immer noch nicht. Ich nehme an, dass es irgendwie Sinn gemacht hat, dass Heidi so getan hat, dass sie die Geisel war, zumindest für einige Momente. Es war ein verzweifelter Bluff. Aber wieso ist sie direkt auf den Parkplatz gekommen? Wieso hat sie versucht...?“

Ryan verstummte, aber sie wusste, welche Worte er nicht auszusprechen wagte.

„Wieso hat sie versucht, dich umzubringen?“

Riley erinnerte sich an den Moment, als das Mädchen im Eingang des Motelzimmers gestanden hatte, bevor sie die fatalen Schritte auf den Parkplatz machte, und wie sie Orins unverständlichen Protest vernommen hatte.

Sie sagte zu Ryan: „Orin wollte nicht, dass sie da raus geht. Er hatte versucht, sie zu überreden. Aber ich nehme an, sie dachte... sie hatte begriffen... dass es vorbei war. Sie wollte ihren Abgang machen...“

Ihre eigene Stimme verhallte nun, als ein dummes Cliché ihr auf der Zunge lag.

„...mit Pauken und Trompeten.“

Ryan schüttelte den Kopf.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich fühlen musst“, sagte er. „Aber meine Güte, Riley, sie und ihr Freund haben sechs Menschen ermordet. Du kannst nicht sagen, dass sie das, was mit ihr passiert ist, nicht verdient hat.“

Riley hatte das Gefühl, als wäre der Klang dieses Wortes wie eine Ohrfeige.

Verdient.

In diesem Moment fühlte sie sich selbst so schmerzlich unwürdig von Ryan Aufmerksamkeit oder gar Zuneigung zu erhalten. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, zu denken, dass Heidi Wright verdient hatte, was Riley ihr angetan hatte.

Hat Ryan recht? dachte sie.

Sie dachte über das Wenige nach, was sie vom Leben des Mädchens wusste –– einem Leben von unvorstellbarer Grausamkeit und Missbrauchs, wie es aussah. Heidi und ihr Freund hatten ihren Amoklauf begonnen, als ihr eigener Vater und Bruder sie sexuell missbraucht hatten. Riley konnte Orin keinen Vorwurf daraus machen, dass er diese Männer umgebracht hatte. Dann, nachdem das passiert war, mussten Orin und Heidi sich beide zu verzweifelt gefühlt haben, um zu begreifen, was sie taten.

Und auch zu jung, dachte Riley.

Erneut konnte Riley nicht anders, als an Heidis frisches, lächelndes Gesicht zu denken, in dem Moment, als sie die Waffe auf Riley gerichtet hatte –– dem Moment vor ihrem eigenen Tod.

Riley murmelte laut: „Heidi war nur ein Kind, Ryan. Sie hat es nicht verdient, so zu sterben. Was sie verdient hatte, war ein besseres Leben, als das, in dem sie feststeckte.

Ryan sah Riley mit einem ungläubigen Blick an.

„Aber du hattest keine Wahl“, sagte er. „Wenn du nicht geschossen hättest, wärst du jetzt ganz bestimmt...“

Er verstummte erneut. Riley wusste, welches Wort er einfach nicht aussprechen konnte.

Tot.

„Ich weiß“, sagte Riley seufzend. „Das ist was Agent Crivaro mir auch immer wieder sagt. Er sagt, es wäre gerechtfertigt. Dass es sogar Einhaltung der Vorschrift war. Es war Selbstverteidigung, ein klarer Fall ‚unmittelbarer Gefahr des Todes oder ernsthafter Körperverletzung‘.“

„Crivaro hat recht, Riley“, sagte Ryan. „Das weißt du bestimmt.“

„Ich weiß“, sagte Riley.

Und rational betrachtet wusste sie es auch wirklich. Doch auf irgendeiner grundlegenden Ebene konnte sie dieses Urteil einfach nicht akzeptieren. Sie hatte gerade das Gefühl von ihrem ganzen Körper beschuldigt zu werden. Sie fragte sich, ob sie dieses Gefühl jemals überwinden würde.

Ryan berührte vorsichtig ihre Hand und Riley ließ zu, dass er sie festhielt. Ryans Hand fühlte sich beinahe heiß an, gegen den kalten Schweiß auf ihrer Haut.

Ryan sagte: „Riley, wie oft wirst du sowas durchmachen müssen?“

„Das ist meine Arbeit“, sagte Riley.

„Ja, aber... was für eine Arbeit ist das, die dich dazu bringt, dich so schrecklich zu fühlen? Ist das wirklich was du aus deinem Leben machen willst?“

„Irgendjemand muss es machen“, sagte Riley.

„Musst du dieser irgendjemand sein?“, fragte Ryan.

Riley hatte keine Ahnung, wie sie diese Frage beantworten sollte. Und so sehr sie Ryans Fürsorge auch schätzte, sie war sich nicht sicher, wie aufrichtig diese wirklich war. Um wen war Ryan im tiefsten Inneren wirklich besorgt –– und Riley oder um sich selbst?

Sie hasste es, ihn so zu hinterfragen, aber sie konnte nicht anders. Während der kurzen Zeit, in der sie zusammen waren, hatte sie zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, dass Ryan einen egoistischen Zug hatte. Und er hatte genügend rein egoistische Gründe das zu hassen, was sie gerade tat. Er hasste sogar ihre tägliche Anfahrtszeit nach Quantico. Es nahm ihm seinen hochgeschätzten Ford Mustang weg und zwang ihn, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, um täglich zu seiner Arbeit in einer Anwaltskanzlei zu kommen. Er hatte nicht versucht die Tatsache, dass er das erniedrigend fand, vor ihr zu verbergen.

Ryan drückte ihre Hand und sagte: „Vielleicht solltest du einfach über eine Veränderung nachdenken. Wir können von meinem Gehalt leben. Wir haben sogar ein Sparkonto aufgemacht. Selbst wenn du zuhause bleiben würdest –– und ich weiß, dass du das nicht willst –– könnte ich trotzdem für uns beide sorgen. Ich könnte uns sogar schon bald eine schönere Wohnung mieten. Du musst das nicht machen... für uns.“

Riley sagte nichts.

Ryan sagte: „Vielleicht ist das etwas, worüber du mit deinem Therapeuten sprechen solltest.“

Riley zuckte plötzlich zusammen. Sie bereute es Ryan gesagt zu haben, dass sie jetzt mindestens eine Therapiesitzung besuchen musste. Nachdem sie und Crivaro in Quantico gelandet waren, hatte der leitende Spezialagent Erik Lehl ihr mitgeteilt, dass Therapie verpflichtend war, jetzt wo sie das erste Mal Gewalt mit Todesfolge angewendet hatte.

Sie hatte noch keinen Termin ausgemacht.

Ryan sagte: „Riley, ich mache mir Sorgen. Was wirst du tun? Was werden wir tun?“

Riley begann ein wenig ungeduldig zu werden.

Sie sagte: „Ryan, müssen wir das wirklich alles jetzt besprechen?“

Ryan schaute gedemütigt und sagte: „Nein, natürlich nicht. Ich gehe uns mal was zu Abendessen machen.“

„Nein, ich mache das“, sagte Riley.

„Red‘ keinen Unsinn“, sagte Ryan. „Du musst dich ausruhen. Ich werde mich um alles kümmern. Soll ich dir einen Drink machen?“

Riley nickte und Ryan ging in die Küche. Ein paar Minuten später kam er mit einem Glass Bourbon auf Eis zurück und stellte es auf den Kaffeetisch vor Riley ab. Dann kehrte er in die Küche zurück und klapperte dort rum, als er das Abendessen vorbereitete.

Riley wünschte wirklich, er hätte sie heute Abend kochen lassen. Sie brauchte irgendetwas, egal was, womit sie sich beschäftigen konnte. Sie hatte wahrhafte Angst davor, den ganzen morgigen Tag frei zu haben.

Als sie so alleine auf der Couch saß und an ihrem Bourbon nippte, spürte sie, wie eine Welle der Emotionen in ihr hochkam. Bevor sie wusste wie ihr geschah, fing sie an zu schluchzen. Sie versuchte so leise wie möglich zu sein, sodass Ryan sie nicht hören würde und nicht zurückkäme, um zu versuchen sie zu trösten.

Sie wollte nicht getröstet werden.

Das einzige was sie tun wollte, war weinen.

Während ihres Fluges zurück nach Quantico hatte Agent Crivaro ihr immer und immer wieder gesagt, dass es in Ordnung war, zu weinen.

„Mach schon, lass es raus“, hatte er immer wieder gesagt.

Doch irgendwie war sie einfach nicht dazu in der Lage gewesen –– nicht bis jetzt. Und nun fühle es sich gut an, einfach die Gefühle aus sich heraussprudeln zu lassen, nach so einem langen, schrecklichen Tag. Sie weinte und weinte, bis sie sich ganz ausgelaugt fühlte.

Als ihre Tränen aufgehört hatten zu fließen, dachte Riley sich, dass sie am besten sofort ins Bad gehen sollte und ihr Gesicht waschen, damit Ryan sie nicht so sehen würde. Doch bevor sie sich von der Couch erheben konnte, klingelte das Festnetztelefon.

Sie hörte, wie Ryan ihr zurief: „Ich mach das schon.“

„Nein, ich mach’s“, rief sie zurück.

Sie war näher am Telefon, als Ryan. Und selbst so eine triviale Aufgabe, wie das Telefon zu beantworten, fühlte sich gerade gut an –– obgleich sie sich nicht vorstellen konnte, dass der Anruf von irgendjemanden stammen könnte, mit dem sie gerade Lust hatte zu reden.

Als sie den Hörer abnahm, hörte sie eine vertraute Stimme.

„Hey, Kleine. Wie geht’s dir?“

Rileys Stimmung war plötzlich viel besser, als sie diese Stimme erkannte. Sie gehörte ihrer Zimmernachbarin aus der Zeit an der Academy, Francine Dow.

„Frankie!“, stammelte sie überrascht. „Es –– es ist gut von dir zu hören!“

Riley hatte Frankie nicht gesehen, seitdem sie im Dezember ihren Abschluss gemacht hatten. Seither hatten sie nur einige Male telefoniert. Nach dem Abschluss war Frankie als Agentin dem DC Hauptquartier zugeordnet worden.

Mit besorgter Stimme sagte Frankie: „Mach schon, sprich mit mir.“

Riley war überrascht.

Sie stammelte: „Meinst du... du weißt Bescheid...?“

„Ja, ich weiß, was passiert ist. Und du wirst nie glauben, wie ich es erfahren habe. Ich habe einen Anruf von Spezialagent Jake Crivaro selbst bekommen. Er sagte, dass er sich Sorgen um dich machte. Er sagte, dass du vielleicht mit einer Freundin reden müsstest.“

Riley lächelte, als sie den verehrenden Unterton in Frankies Stimme hörte. Obwohl Riley es nicht gewusst hatte, als Agent Crivaro erstmals ein Interesse an ihren einzigartigen Fähigkeiten gezeigt hatte, hatte sie seitdem feststellen müssen, dass er eine Art lebende Legende am FBI war. Frankie kam anscheinend nicht über ihre Verblüffung hinweg, dass Riley nun seine Vollzeitpartnerin war.

Einen Anruf von ihm zu erhalten, musste für Frankie unglaublich gewesen sein, dachte Riley.

Frankie sagte: „Na, wie fühlst du dich?“

„Nicht gut“, sagte Riley seufzend. „Ich nehme an, ich habe immer gewusst... dass ich eines Tage so etwas tun müsste. Aber ich hatte keine Ahnung, wie schlecht es sich anfühlen würde.“

„Naja, ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Lust hättest dich zu treffen und ein bisschen Dampf abzulassen“, sagte Frankie.

Riley spürte eine Welle der Dankbarkeit.

„Oh, das wäre wundervoll, Frankie“, sagte sie. „Ich habe morgen frei. Wie wäre es, wenn wir zusammen zu Mittag essen?“

„Klingt super“, sagte Frankie.

Nachdem sie sich verabredet und aufgelegt hatten, stand Riley da und starrte das Telefon in ihrer Hand an. Sie begann auf einmal etwas zu begreifen.

Agent Crivaro hat Frankie kontaktiert.

Er hat sie wegen mir angerufen.

Es war eine überraschende und unglaublich aufmerksame Geste und Riley war zutiefst gerührt von der Fürsorge ihres Mentors. Und die Verabredung mit Frankie morgen gab ihr etwas, worauf sie sich nach solch einem schrecklichen Tag heute freuen konnte.

Sie fühlte sich plötzlich viel besser und ging in die Küche.

Sie dachte: Ich werde Ryan mit den Abendessen helfen, ob er es will oder nicht.

Der heutige Tag war schlimmer gewesen, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Aber sie hatte Freunde, die ihr da durch halfen. Vielleicht würde es morgen einfacher sein. Schließlich könnte wohl kein Albtraum schlimmer sein, als der, den sie gerade erlebt hatte.

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KAPITEL DREI

Kurz vor Mittag des nächsten Tages verließ Riley das Haus und wartete darauf, dass Frankie sie zum Mittagessen abholte. Sie fragte sich, ob sie wirklich in der Lage sein würde mit ihrer Studienfreundin darüber zu sprechen, was gestern geschehen war. Ryan war wie sonst auch zur Arbeit gefahren, froh über die Gelegenheit ausnahmsweise Mal das Auto zu nehmen. Also hatte Riley ausgeschlafen und sich einen faulen Morgen gemacht.

Bald schon fuhr Frankie in ihrem alten Pickup-Truck vor und Riley stieg ein. Sie merkte, dass sie sich freute die kräftigen Gesichtszüge und das rostfarbene Haar ihrer Freundin zu sehen. Sie sagte sich, dass dies definitiv ein besserer Tag sein würde.

Frankie fuhr sie zu ihrem bevorzugten Mittagslokal in DC, Tiffin’s Grub & Pub. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch und bestellten beide Tunfischsandwiches. Dann tranken sie Kaffee und tauschten sich ein wenig über Kleinigkeiten aus, während sie das Thema von Rileys erster Tötung im Einsatz umgingen.

Vielleicht kommen wir gar nicht dazu, darüber zu sprechen, dachte Riley.

Wenn es so käme, wäre es für sie in Ordnung. Einfach ein wenig Zeit mit Frankie zu verbringen, würde schon genug sein, um ihre Laune beträchtlich zu heben. In der Zwischenzeit hatten sie und ihre Freundin viel nachzuholen.

Frankie sagte: „Ich habe gehört, du hast drei weitere Fälle gehabt, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Das ist ziemlich eindrucksvoll. Es heißt, du wärst ein echtes Wunderkind –– der nächste Jake Crivaro, sagt man.“

Riley errötete bei diesen Worten, von denen sie wusste, dass sie hohes Lob bedeuteten.

„Ich muss noch vieles lernen“, sagte sie. „Wie ist denn dein Leben hier in DC? Wie gefällt es dir eine FBI Agentin zu sein?“

Frankie verzog die Miene und seufzte.

„Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, denke ich“, sagte sie.

Riley verspürte einen besorgten Stich. sie wusste, dass Frankie sechs Monate als verdeckte Ermittlerin in der Drogenfahndung gearbeitet hatte, bevor sie zur Academy gegangen war. Wegen ihrer Erfahrung wurde sie nach dem Abschluss einem FBI Drogenfahndungsteam zugeteilt. Riley wusste, dass Frankie gespannt und hoffnungsvoll bei der neuen Arbeitsstelle angetreten war. Nun klang sie traurig und enttäuscht.

Als ihre Sandwiches kamen, bat Riley Frankie, ihr davon zu erzählen. Frankie nahm einen Schluck Kaffee und dachte nach.

Dann sagte sie: „Weißt du, ich habe nur Eins wirklich gelernt, als ich damals als verdeckter Cop in Cincinnati gearbeitet hatte. Ich habe begriffen, dass der ganze ‚Krieg gegen Drogen‘ ein absoluter Quatsch ist. Es ist ein Krieg, der nicht gewonnen werden kann. Das wahre Problem ist, dass es da draußen sehr viel Leid gibt, und sehr viele unglückliche Menschen. Sie wegzusperren reicht nicht, um an die Wurzel des Problems ranzukommen. Und ich nehme an, ich...“

Frankie verstummte für einen Moment.

Dann sagte sie: „Naja, ich habe gedacht, ich kann einen Unterschied machen, wenn ich beim FBI arbeite. Ich habe gedacht, ich kann ändern, wie man die Dinge angeht. Aber das klappt nicht wirklich. Es ist immer das gleiche, genau wie in Cincinnati. Der einzige Unterschied ist, dass ich jetzt nicht mehr verdeckt arbeite. Aber ich bin immer noch in dieselben Vorgänge eingebunden und ich kann überhaupt nichts verändern. Ich fühle mich wie ein naives Dummchen dafür, dass ich gedacht habe, dass ich irgendetwas ändern könnte.“

Riley lehnte sich zu ihrer Freundin über den Tisch und sagte: „Frankie, lass dir ein wenig Zeit. Du fängst gerade erst an. Sei geduldig.“

Frankie schnaubte. „Tja, naja, Geduld ist nicht wirklich eine meiner Stärken. Und ist ja auch egal, mein Problem scheint ziemlich trivial im Gegensatz zu dem, was du gestern durchmachen musstest. Crivaro klang wirklich besorgt am Telefon. Möchtest du darüber sprechen? Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?“

Riley zögerte einen Moment lang. Dann dachte sie aber, dass darüber zu sprechen einer er Gründe für dieses Treffen gewesen war. Als sie begann Frankie von allem zu erzählen, was gestern vorgefallen war, spürte sie einen Kloß im Hals.

Fang nicht wieder an zu weinen, dachte sie.

Sie schaffte es, ihre Tränen zurückzuhalten, als sie den Moment beschrieb, in dem sie Heidi Wright getötet hatte.

Dann sagte sie: „Frankie, sie war bloß ein Kind –– fünfzehn Jahre alt. Es war nicht ihre Schuld, dass sie so ein mieses Leben hatte. Sie hatte gar keine guten Wahlmöglichkeiten. Sie war verzweifelt. Sie hat jemanden gebraucht, der ihr ein gutes Zuhause gegeben hätte und etwas Führung und etwas Liebe. Sie hat es nicht verdient, so zu sterben.“

Frankies Miene war nun besorgt.

„Ich nehme an, dass ich das Offensichtliche nicht erklären muss“, sagte Frankie.

Riley nickte und sagte: „Ich weiß, ich weiß. Ich hatte keine Wahl. Es war ihr Leben oder meins.“

„Und dein Leben ist wichtig, Riley“, sagte Frankie. „Es ist sehr wichtig.“

Riley musste sich nun doch eine Träne aus dem Gesicht wischen.

„Ich habe das Gefühl, dass nichts jemals wieder so sein wird, wie vorher“, sagte sie.

Frankie legte ihren Kopf schief und sagte: „Naja, ich musste noch nie jemanden erschießen, aber... Ich weiß wie es ist etwas zu tun, was dich wirklich verändert. Ich war auch schon mal an diesem Punkt. Ich kann es verstehen.“

Riley wusste, auf welches schreckliche Ereignis Frankie hindeutete. Damals, als sie als verdeckte Ermittlerin in Cincinnati gearbeitete hatte, hatte ein Drogendealer Frankie mit einem Messer bedroht und sie gezwungen, sich Heroin zu spritzen. Sie hatte keine Wahl gehabt.

Riley erinnerte sich daran, was Frankie ihr von der überwältigenden Euphorie erzählt hatte, die sie damals erlebt hatte.

„Wenn ich in diesem Moment gestorben wäre, wäre ich glücklich gestorben.“

Das war das Ereignis gewesen, dass Frankie davon überzeugt hatte, dass der „Krieg gegen Drogen“ sinnlos war. Riley wusste, dass Frankie mit diesem Erlebnis für den Rest ihres Lebens zu kämpfen haben würde. Bis jetzt hatte sie sich nicht vorstellen können, wie sich das für sie anfühlte.

Vielleicht kann ich es jetzt verstehen, dachte sie sich.

Riley nahm einen Bissen von ihrem Sandwich und überlegte einen Moment lang.

Dann sagte sie: „Hier ist das komische daran, Frankie. Vor ungefähr zwei Wochen wollte ich wirklich jemanden töten. Es hat mich meine gesamte Selbstkontrolle gekostet, es nicht zu tun.“

„Was ist passiert?“, fragte Frankie.

Riley sagte: „Vielleicht hast du von diesem Fall gehört, an dem Crivaro und ich in Maryland gearbeitet hatten.“

„Ja, das war abscheulich“, sagte Frankie. „Der Name des Mörders ist Mullins, oder?“

Riley nickte. „Ja, Larry Mullins. Er wurde eingestellt, um sich um zwei kleine Kinder zu kümmern, die er beide umbrachte –– er erwürgte sie auf zwei verschiedenen Spielplätzen.“

Dann stöhnte sie leicht und fügte hinzu: „Natürlich wurde Mullins noch nicht verurteilt. Das Datum für den Prozess wurde noch nicht einmal bestimmt und die Beweislage gegen ihn ist immer noch dürftig. Aber Crivaro und ich wissen, dass er es war –– genauso wie die Eltern der Kinder.“

Riley hielt einen Moment lang inne, da sie die Erinnerung fürchtete, um die es ging.

„Mullins ist ein süffisantes Arschloch“, sagte sie. „Er ist durchtränkt von diesem Anschein kindlicher Unschuld, was auch der Grund war, wieso die Eltern der Kinder ihm vertraut hatten. Ich hasste ihn abgründig, ab dem Moment, in dem Crivaro und ich ihn erwischt hatten. Er grinste mich an und gab mit seinem Blick praktisch zu, dass er schuldig war. Aber er wusste auch verdammt gut, dass es für uns schwierig sein würde ihm das nachzuweisen.“

Riley trommelte mit den Fingern unruhig auf dem Tisch.

Sie sagte: „Und genau in dem Moment, als ich ihm die Handschellen anlegte und ihm seine Rechte las, grinste er mich wieder an und sagte zu mir: ‚Viel Glück‘.“

Frankie japste leicht.

Riley fuhr fort: „Gott, du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend mich das gemacht hat. Ich wollte ihn wirklich umbringen. Ich glaube ich habe tatsächlich nach meiner Glock gegriffen. Crivaro hat meine Schulter berührt und mich warnend angeblickt. Wenn es nicht Crivaro gewesen wäre, hätte ich Mullins womöglich an Ort und Stelle erschossen.“

„Es ist gut, dass du es nicht getan hast“, sagte Frankie.

„Vielleicht stimmt das“, sagte Riley. „Aber ich kann nicht anders, als mich zu fragen –– was, wenn Mullins der erste Mensch gewesen wäre, den ich getötet hätte. Ich würde mich sicherlich nicht so schlecht fühlen wie jetzt. Vielleicht hätte ich sogar überhaupt keine Probleme damit. Stattdessen habe ich ein dummes, armes Kind erschossen, das nie eine Chance im Leben gehabt hatte. Es ist einfach…“

Riley schluckte eine schmerzhafte Wut und Bitternis hinunter.

„Es ist einfach unfair“, sagte sie.

Riley und Frankie aßen einige Momente schweigend weiter.

Endlich sagte Frankie in einem vorsichtigen Ton: „Weißt du, du wirst wahrscheinlich denken, dass ich verrückt bin, wenn ich das sage, aber… vielleicht ist es für uns beide besser, dass die Dinge uns auf genau diese Art und Weise widerfahren sind.“

Riley machte große Augen.

„Wie meinst du das?“, fragte sie.

Frankie zuckte mit den Schultern und sagte: „Naja, wäre ich nicht gezwungen gewesen mir damals Heroin zu spritzen, hätte ich nie begriffen, wie dumm der Krieg gegen Drogen wirklich ist. Und wenn du die Möglichkeit gehabt hättest Larry Mullins zu erschießen, hättest du es vielleicht auch in Zukunft einfach gefunden, deine tödliche Gewalt anzuwenden –– zu einfach.“

Frankie verstummte und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

„Ich weiß, dass wir beide leiden, Riley“, sagte sie. „Aber ich glaube es ist besser zu leiden, als vor Schmerz hart zu werden. Zumindest waren wir in der Lage unsere Menschlichkeit, unsere Verletzlichkeit zu bewahren, all die Dinge, die das Beste in uns ausmachen. Viele Menschen in unserem Job schaffen das nicht.“

Riley nickte langsam. Sie wusste, dass Frankie genau das sagte, was sie gerade hören musste. Sie begriff, dass sie wirklich Glück hatte, dass sie heute Frankies Anteilnahme hatte. Das hier war besser als jegliche Therapie, auf die sie hoffen konnte.

Eine Weile lang aßen sie schweigend.

Dann fragte Frankie: „Und wie läuft es mit deinem Verlobten? Habt ihr schon ein Hochzeitsdatum ausgewählt?“

Die Frage überraschte Riley.

Sie stammelte: „Ähm, nein, noch nicht.“

„Nein?“, sagte Frankie und schaute Riley skeptisch an.

„Noch nicht“, wiederholte Riley und aß dann still weiter.

Sie wurde angespannt, als sie sich vorstellte, was Frankie gerade denken musste. Sie erinnerte sich an etwas, was Frankie gesagt hatte, als sie sich gerade kennengelernt hatten…

„Ich habe eine etwas voreingenommene Sicht auf Männer im Allgemeinen.“

Obwohl Frankie selten davon sprach, wusste Riley, dass Frankies vierjährige Ehe in einer hässlichen Scheidung geendet war. Frankie hatte wahrscheinlich keinerlei Gründe anzunehmen, dass es mit Riley und Ryan klappen würde.

Hat sie vielleicht recht? fragte Riley sich.

Schließlich liefen die Dinge in letzter Zeit nicht besonders gut zwischen ihnen.

Während sie ihre Mahlzeit beendeten, unterhielten Riley und Frankie sich über Kleinigkeiten. Als Frankie sie zurück zu ihrer Wohnung fuhr, merkte Riley, dass sie dem Rest ihres freien Tages mit Missmut entgegensah. Sie fragte sich insbesondere, wie es heute Abend mit Ryan sein würde.

Sie fragte sich –– was sagte es über sie aus, dass sie sich nicht darauf freute ihren eigenen Verlobten zu sehen? Schlimmer noch, wurde sie vielleicht süchtig nach den Gefahren und Qualen ihrer Arbeit?

Sie wusste nur, dass sie nichts an ihren Gefühlen ändern konnte.

Wenn ich nicht zurück an die Arbeit gehe, verliere ich meinen Verstand, dachte sie.

Was auch immer dort draußen auf sie wartete, sie musste weitermachen und sich dem stellen.

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KAPITEL VIER

Jake klopfte nervös mit dem Fuß auf den Boden, als er dem leitenden Spezialagenten der Verhaltensanalyseeinheit gegenübersaß.

Es klingt auf jeden Fall nach einer Serie, dachte er.

Erik Lehl beschrieb gerade zwei ähnliche Mordfälle in Kentucky und Tennessee. Jake versuchte zu entscheiden, ob er gerade überhaupt darüber nachdenken wollte. Schließlich war er gestern erst in eine Schießerei im Staat New York verwickelt gewesen.

Lehl schloss seine Darlegung mit den Worten: „Agent Crivaro, der einzige Grund, wieso ich mit Ihnen darüber spreche ist, dass ich gerade keine anderen erfahrenen Verhaltensanalyseagenten habe, die ich dort hinschicken könnte.“

Jake kicherte und sagte: „Also bin ich der letzte Ausweg, wie?“

Lehl lachte nicht über Jakes kleinen Witz. Natürlich wusste Jake sehr gut, dass sein Boss nicht gerade für seinen Sinn für Humor bekannt war.

„Sie wissen, dass Sie das nicht sind“, sagte Lehl. „Ich will einfach keine Anfänger schicken. Aber ich weiß auch, dass sie womöglich eine Pause gebrauchen könnten, nach dem, was gestern vorgefallen ist. Wenn das so ist, dann ist das in Ordnung. Es ist nicht gerade ein öffentlich diskutierter Fall, noch nicht zumindest. Ich kann es auch die FBI Einheit vor Ort in Memphis übernehmen lassen. Aber der örtliche Sheriff ist in einer Art Panik und hat explizit die Verhaltensanalyseeinheit angefragt. Ich wäre entspannter, wenn ich wüsste, dass ich meinen besten Agenten auf den Job angesetzt habe.“

„Sie sollten mir nicht schmeicheln, Sir“, sagte Jake lächelnd. „Sonst steigt es mir noch zu Kopf.“

Agent Lehl lachte auch jetzt nicht. Der schlaksige Mann legte seine langen Finger zu einer Raute zusammen und blickte Jake erwartungsvoll an.

„Ich mach’s“, sagte Jake schließlich.

Lehl schien genuin erleichtert zu sein.

„Na dann ist ja gut“, sagte Lehl. „Ich bestelle ein Flugzeug, dass sie zum Dyersburg Regionalflughafen fliegen wird. Ich werde veranlassen, dass ein paar örtliche Cops Sie dort empfangen. Soll ich Ihnen einen Partner zuteilen?“

Jake rutschte auf seinem Stuhl herum.

„Nee, diesen hier bekomme ich alleine hin“, sagte er.

Lehl gab ein leises entrüstetes Stöhnen von sich.

Er sagte: „Agent Crivaro, wir haben doch darüber gesprochen.“

Lehls paternalistischer Ton amüsierte Jake, so als würde sein Boss ihn liebevoll ermahnen wollen.

„Ja, ich weiß“, sagte Jake. „Sie sagen immer wieder, es sei an der Zeit, dass ich lerne mit anderen klarzukommen. Aber ich bin alt und gefestigt in meinem Charakter, Sir. Wenn Sie mich mit einem Anfänger hinschicken, werde ich den armen nur terrorisieren. Ich könnte ihn ganz vergraulen. Das würden Sie nicht wollen.“

Dann stellte sich ein ziemlich ominöses Schweigen ein.

Ich nehme an, meine Antwort gefällt ihm nicht, dachte Jake.

Schließlich sagte Lehl: „Denken Sie einfach darüber nach, einen Partner mitzunehmen. Ich werde ihnen wegen des Fluges Bescheid geben.“

Das Gespräch war beendet und Jake ging wieder in sein eigenes Büro zurück. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, der mit Unterlagen überhäuft war, an denen er heute gearbeitet hatte. Er hatte sich mit dem „Nanny Killer“ Fall aus Maryland beschäftigt und versucht genug Beweise zusammenzubekommen, um den Kindermörder namens Larry Mullins zu verurteilen. Er und Riley hatten den Mann vor einigen Wochen verhaftet.

Der Prozess würde bald stattfinden. Obwohl Jake, Riley und das gesamte Ermittlungsteam mit fast absoluter Gewissheit wussten, dass Mullins schuldig war, machte Jake sich Sorgen, ob die Jury das auch so sehen würde.

Jake fragte sich, ob er Lehls Bitte vorhin hätte ausschlagen sollen. Lehl hätte es ihm nicht vorgehalten. Und es war nicht so, als hätte er nicht andere wichtige Dinge zu erledigen. Außerdem war er von den Ereignissen gestern immer noch mitgenommen.

Ich glaube, ich bin einfach ein Typ, der nicht nein sagen kann, dachte Jake.

Er fragte sich, ob er wohl süchtig nach der Arbeit im Außendienst war, und nach all der Action und den Gefahren, die sie mit sich brachte.

Oder vielleicht war es etwas anderes.

In letzter Zeit hatte er das Gefühl, dass sein Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten schwand. Seine Ungewissheit über den Mullins Fall verstärkte diese Zweifel nur. Vielleicht hatte er diesen Fall angenommen, weil er einen inneren Drang verspürte sich zu beweisen –– zu beweisen, dass er immer noch seine Arbeit machen konnte, und das nicht nur gut sondern besser, als jeder andere in der Verhaltensanalyseeinheit.

Aber was, wenn diese Zeiten vorbei sind? fragte er sich.

Er dachte an etwas, was Agent Lehl eben gesagt hatte.

„Denken Sie einfach darüber nach, einen Partner mitzunehmen.“

Jake vermutete, dass es guter Rat war. Der Versuch Solo zu arbeiten, während er mit Selbstzweifeln kämpfte, war keine gute Idee. Aber Lehl hatte ihm soeben gesagt, dass er gerade keine anderen erfahrenen Agenten zur Verfügung hatte. Jake hatte keine Lust irgendeinem dummen, unerfahrenen Grünschnabel angewandten Unterricht zu geben –– nicht, wenn wahrscheinlich ein Serienmörder auf freiem Fuß war und sich bereit machte erneut zuzuschlagen.

Natürlich gab es da eine junge Agentin, von der Jake nicht so dachte...

Riley Sweeney.

Seine junge Protegé war mehr als vielversprechend. Sie hatte jetzt schon bessere Fähigkeiten, als viele weitaus erfahrenere Agenten, auch wenn ihre Bewertungen der Situation oft noch erratisch waren und sie ein Problem damit hatte, Befehlen zu folgen. Eines Tages, das wusste er, würde sie genauso gut, wenn nicht noch besser, als er selbst sein. Ihm gefiel der Gedanke, dass sie seine Arbeit weiterführen würde, wenn er nicht mehr da war. Und es gefiel ihm, mit ihr zusammen zu arbeiten.

Doch darüber hinaus hatte er das Gefühl, dass er begann sich wirklich auf sie zu verlassen. Wenn es stimmte, dass seine eigenen Fähigkeiten nachließen, so beruhigte es ihn, Riley dabei zu haben.

Doch als Jake darüber nachdachte, seufzte er laut.

Ich kann sie nicht bitten, an diesem Fall mitzuarbeiten, dachte er.

Es war viel zu früh. Die arme Kleine war viel zu traumatisiert von den Ereignissen des gestrigen Tages. Seit der Schießerei auf diesem verschneiten Parkplatz wurde Jake von Rileys entsetztem Gesichtsausdruck heimgesucht, als sie auf Heidi Wrights toten Körper niederstarrte.

Das tote Mädchen hatte noch jünger ausgesehen, als ihre tatsächlichen fünfzehn Jahre –– wie eine traurige, kaputte kleine Puppe. Obwohl Riley nichts dergleichen gesagt hatte, wusste Jake, dass sie nicht anders konnte, als sich wie eine Art Mörderin zu fühlen. Die arme Kleine war immer noch in Schock gewesen, als er sie gestern zuletzt gesehen hatte.

Natürlich hatten Jake und Riley beide gewusst, dass sie früher oder später auf jemand schießen müsste. Doch Jake hätte nie gedacht, dass es unter so schrecklichen Bedingungen passieren würde –– und natürlich, hätte auch Riley es nie gedacht.

Sie braucht eine Auszeit, dachte Jake.

Sie brauchte außerdem professionellen Beistand, den Jake ihr in keiner Weise leisten konnte.

Und doch fragte Jake sich, ob er wirklich das Recht hatte, so eine Entscheidung für sie zu treffen. Sollte sie nicht selbst entscheiden können, ob sie bereit war, wieder an die Arbeit zu gehen?

Eine andere Frage machte ihm außerdem Sorgen.

Kann ich diesen Job wirklich ohne sie machen?

Jake griff nach dem Hörer seines Telefonapparats und wählte ihre Nummer.

*

Riley betrat gerade ihre Wohnung, als ihr Handy klingelte. Frankie hatte sie soeben von Tiffin’s Grub & Pub nach Hause gefahren, wo die beiden Freundinnen sich ein leckeres Mittagessen gegönnt und ein gutes Gespräch gehabt hatten. Riley hoffte, dass der Anruf ihr nicht die Laune verderben würde.

Als Riley die Tür hinter sich schloss, schaute sie auf das Display. Der Anruf kam von Jake Crivaro. Sie nahm sofort ab.

Sie hörte die brummende Stimme ihres Mentors: „Riley –– Crivaro am Apparat.“

Sein vertrauter Gruß brachte Riley zum Lächeln.

Sie antwortete beinahe: Ich weiß.

Stattdessen sagte sie: „Was gibt’s?“

Sie hörte, wie Crivaro unentschlossen grunzte. Dann sagte er: „Ähm, ich wollte nur... als ich dich gestern das letzte Mal gesehen habe, ging es dir nicht gut. Geht es dir besser?“

Riley verspürte einen Funken Neugierde. Sie war sich sicher, dass Crivaro wegen mehr anrief, als sich bloß nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen.

„Ja, es geht mir besser“, sagte sie. „Ich denke aber, es wird noch eine ganze Weile dauern. Gestern war... naja, irgendwie hart, wissen Sie?“

„Ich weiß“, sagte Crivaro. „Es tut mir leid, dass alles so gekommen ist. Hast du bereits einen Therapietermin ausgemacht?“

„Noch nicht“, sagte Riley.

„Zögere das nicht hinaus“

„Das werde ich nicht“, sagte Riley, obwohl sie sich überhaupt nicht sicher war, dass sie es auch wirklich ernst meinte.

Es gab eine peinliche Pause.

Dann sagte Crivaro: „Naja, ich dachte, dass ich dich wissen lasse, dass ich in Kürze nach Tennessee fliege. Es gab dort ein paar Morde, einen in Kentucky und einen in Tennessee, und es sieht danach aus, als könnten sie das Werk eines Serienmörders sein. Lehl hat mir den Auftrag gegeben.“

Rileys Neugierde stieg an. Sie fand es komisch, dass Crivaro diese Begebenheit in genau diesem Moment mit ihr teilen wollte.

„Ich hoffe, es läuft gut“, sagte sie.

„Ja, naja...“

Eine noch längere Pause stelle sich ein.

Dann sagte Crivaro: „Lehl sagt, dass ich mit einem Partner an diesem Fall arbeiten soll. Er hat niemanden außer Anfänger anzubieten und ich dachte ich rufe an und frage... Nee, es ist eine schlechte Idee, vergiss, dass ich was gesagt habe.“

Riley spürte ein aufgeregtes Kribbeln.

„Wollen Sie, dass ich mitkomme?“, fragte sie.

„Nein, ich hätte nicht anrufen sollen, tut mir leid. Ich bin sicher, das ist das letzte, was du gerade tun möchtest. Du musst dich ausruhen, Zeit mit deinem Verlobten verbringen, den Kopf freibekommen. Du musst auch ein paar Therapiesitzungen machen, bevor du wieder an die Arbeit gehst. Du weißt, dass du früher oder später diese psychologische Evaluation machen musst.“

Aber nicht jetzt sofort, dachte Riley. Nicht, wenn ich bereits irgendwo anders an einem anderen Fall arbeite.

Es platze ihr heraus: „Ich mach’s.“

Sie hörte Crivaro seufzen.

“Riley, ich bin mir da nicht sicher.“

Riley sagte: „Tja, ich bin mir sicher. Mit wem könnten Sie sonst noch arbeiten? Sie brauchen jemand harten, jemanden der Sie kennt. Andernfalls würden Sie nur einen armen Anfänger terrorisieren.“

Crivaro kicherte und sagte: „Ja, das ist so ziemlich, was ich Lehl gesagt habe. Jedenfalls kümmert er sich gerade um einen Flug nach Tennessee. Soll ich nach DC fahren und dich abholen?“

„Nein, das müssen Sie nicht“, sagte Riley. „Mit dem Zug geht es schneller. Ich kenne den Fahrplan auswendig, es gibt einen Zug, der bald kommt. Wenn Sie mich am Quantico Bahnhof abholen, können wir direkt zur Landebahn fahren.“

Riley sagte ihm die Ankunftszeit und Crivaro antwortete: „Na gut.“

Er zögerte und stammelte: „Und, ähm...“

Riley spürte, dass er mit sich rang, um die richtigen Worte zu finden.

Schließlich sagte er einfach: „Danke.“

Riley wollte schon beinahe sagen: „Nein, danke Ihnen.“

Stattdessen sagte sie: „Ich bin bald da.“

Sie beendete den Anruf und starrte auf ihr Handy als sie sich auf die Couch setzte. Sie war überrascht, dass sie soeben diese Entscheidung getroffen hatte. Sie hatte wirklich kein bisschen überlegt.

Habe ich gerade einen Fehler gemacht? fragte sie sich.

Es fühlte sich nicht nach einem Fehler an. Eigentlich fühlte sie tiefe Erleichterung. Ihr Drang zurück an die Arbeit zu kehren verwunderte sie.

Doch was sie an dem Telefonat am meisten verwundert hatte, war Crivaros Ton gewesen. Er hatte beinahe wie ein Schuljunge geklungen, der ein Mädchen um ein Rendezvous bat.

Er will wirklich mit mir zusammenarbeiten, dachte sie.

Er will mit niemand anderem zusammenarbeiten.

Es gab ihr ein wohliges Gefühl, gewollt zu werden –– und vielleicht sogar gebraucht.

Doch als sie sich von der Couch erhob, um ins Schlafzimmer zu gehen und ihre Reisetasche zu holen, fiel ihr etwas ein.

Ryan.

Sie musste ihn anrufen, und ihn informieren. Und sie bezweifelte, dass er es gelassen nehmen würde. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch gestern Abend und wie er ihr Druck gemacht hatte die Verhaltensanalyseeinheit zu verlassen, und daran, was sie darauf geantwortet hatte.

„Ryan, müssen wir das wirklich jetzt besprechen?“

Natürlich hatten sie es bisher nicht geschafft, darüber zu reden. Sie hatten einfach keine Zeit dafür gehabt. Doch nun übernahm Riley trotzdem einen neuen Fall.

Sie nahm den Hörer des Festnetztelefons in die Hand und wählte nervös Ryans Nummer. Er klang fröhlich, als er sich am anderen Ende meldete.

„Hallo Süße, ich freue mich, dass du angerufen hast. Ich habe heute Abend einen Tisch in diesem Restaurant reserviert, das wir beide so mögen, Hugo’s Embers. Klingt das nicht großartig? Du weißt wie schwer es ist, dort einen Tisch zu bekommen.“

Riley schluckte nervös.

Sie sagte: „Ja, das ist toll, Ryan, aber... das müssen wir auf einen anderen Abend verschieben.“

„Huch?“

Riley unterdrückte ein Seufzen.

„Agent Crivaro hat gerade angerufen“, sagte sie. „Er will, dass ich mit ihm an einem Fall in Tennessee arbeite. Ich mache mich jetzt auf, um noch einen Zug nach Quantico zu erwischen.“

Ein angespanntes Schweigen hing in der Leitung.

„Riley, ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt“, sagte Ryan. „Bist du bereit wieder zur Arbeit zu gehen? Du warst gestern ziemlich fertig. Und außerdem...“

Es folgte erneutes Schweigen.

Dann sagte Ryan: „Riley, wir brauchen das. Einen romantischen Abend zu zweit, meine ich. Es ist schon lange her, dass wir... du weißt schon.“

Es dauerte einen Moment, bis Riley verstand, was er meinte.

Dann begriff sie: Oh mein Gott. Er spricht von Sex.

Wir lange war es her, dass sie Liebe gemacht hatten? Sie wusste es nicht und begriff, dass sie in letzter Zeit überhaupt nicht daran gedacht hatte. Zwischen den zwei Fällen, an denen sie diesen Monat bereits gearbeitet hatte, war sie erschöpft gewesen. Und dazu kam noch, dass sie sich auf den bevorstehenden Mullins Prozess vorbereitete.

Sie sagte: „Ich mache das wieder gut, versprochen.“

„Riley, darum geht es nicht. Du hast das beschlossen, ohne mit mir zu sprechen.“

Riley verspürte einen Stich von Wut.

Werde ich Ryan jedes Mal zu Rate ziehen müssen, wenn ich einen neuen Fall annehme?

Aber das letzte was sie wollte, war mit ihm in diesem Moment darüber zu streiten. Sie hatte einfach keine Zeit dafür.

Sie sagte: „Es tut mir leid. Wirklich. Wir reden darüber, wenn ich nach Hause komme.“

„Ich möchte nicht, dass du fliegst“, sagte Ryan mit flehender Stimme.

„Ich muss hinfliegen“, sagte Riley. „Es ist mein Job.“

„Aber –– “

„Tschüss, Ryan. Ich muss den Zug erwischen. Ich liebe dich.“

Sie legte auf und sackte mit einem verzweifelten Seufzen zusammen.

Soll ich Crivaro zurückrufen? fragte sie sich.

Soll ich ihm sagen, ich kann den Fall doch nicht übernehmen?

Crivaro würde es sicherlich verstehen. Er hatte ihr das ja bereits so gesagt.

Doch dann spürte Riley eine Welle des Grolls in sich aufkommen. Ryan hatte kein Recht sie so unter Druck zu setzen, besonders nicht nach dem, was gestern passiert war. Sie hatte einen Job zu erledigen und sie konnte Ryan nicht für den Rest ihres Lebens um Erlaubnis bitten, ihn zu machen.

Sie eilte ins Schlafzimmer, holte ihre Reisetasche und verließ die Wohnung, um den Zug zu bekommen.

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KAPITEL FÜNF

Das Leben begann sich für Riley wie ein einziger langer Flug mit Jake Crivaro anzufühlen. Gerade erst gestern Abend waren sie aus New York zurückgeflogen. Nun waren sie erneut im FBI Jet, auf dem Weg ins westliche Tennessee.

Es ist fast so, als wäre ich gar nicht zuhause gewesen, dachte sie.

Auf eine gewisse Art und Weise wünschte sie, dass es so gewesen wäre. Es wäre schön, glauben zu können, dass ihr Streit mit Ryan am Telefon heute morgen ein bloßer Traum gewesen war, dass alles gut war zwischen ihnen.

Leider wusste sie, dass all das wirklich geschehen war.

Und natürlich ging das auch die schrecklichen Ereignisse des gestrigen Tages an.

Mein ganzes Leben fühlt sich gerade wie ein böser Traum an, dachte sie. Wie ein Albtraum von endlosen Flügen, Gefahren und plötzlichem Tod.

Sie schüttelte ihre düsteren Gedanken ab und schaute zu Crivaro. Er saß neben ihr und schaute einige handschriftliche Notizen durch, die er zum bevorstehenden Fall gemacht hatte.

Er erklärte: „Vor ungefähr einer Woche wurde eine Leiche im Wald gefunden, in der Nähe von Brattledale in Raffel County, Kentucky. Das Opfer war ein junges Mädchen, Natalie Booker.“

„Wie wurde sie ermordet?“, fragte Riley.

„Erdrosselt“, sagte Crivaro. „Wenn es ein bloßer Einzelfall in nur einem Staat gewesen wäre, würde es uns nichts angehen. Aber gestern kam eine weitere Leiche dazu, ein weiteres junges Mädchen namens Kimberly Dent, auch erdrosselt, wahrscheinlich vom selben Mörder. Ihre Leiche befand sich am Waldrand in der Nähe von Dalhart, Tennessee –– hinter der Staatengrenze.“

„Was es zu einem FBI Fall macht“, sagte Riley. „Wenn wir ihn übernehmen wollten.“

„Genau“, sagte Crivaro. “Außerdem hat Raffel County Sheriff, Ed Quayle, ausdrücklich um die Hilfe der Verhaltensanalyseeinheit gebeten, also sind wir auf jeden Fall dabei.“

Crivaro schloss sein Notizbuch.

„Das ist so ziemlich alles, was ich bisher weiß“, sagte er. „Sheriff Quayle wird uns am Flughafen empfangen, ich bin mir sicher, er wird mehr haben.“

Riley nickte zustimmend und sie schwiegen eine Weile lang. Während sie dasaß und aus dem Fenster starrte, begannen Rileys Gedanken sich erneut um die schreckliche Schießerei von gestern zu drehen.

Riley hörte wie Crivaro leise sagte: „Du siehst müde aus.“

Sie drehte sich zu ihm und sah, dass er sie besorgt anschaute.

„Ich nehme an, das bin ich auch irgendwie“, sagte Riley. „Ich habe gestern Nacht nicht viel geschlafen.“

„Bist du sicher, dass du es schaffst, an diesem Fall zu arbeiten?“

„Ich bin mir sicher“, sagte Riley.

Doch sie merkte, dass sie sich gar nicht so sicher war. Und sie konnte an Crivaros besorgtem Blick ablesen, dass er ihre Zweifel spürte.

Er sagte mit sanfter Stimme: „Es ist hart, was dir gestern wiederfahren ist.“

Riley zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich nehme an, Sie wissen wie sich das anfühlt.“

„Nicht wirklich, nein.“

Riley war überrascht, das zu hören.

Hat er nie jemanden getötet? fragte sie sich.

Crivaro hatte während der Fälle, an denen Riley mit ihm bisher gearbeitet hatte, nie schießen müssen. Es wäre einmal beinahe so weit gekommen, als ein Verrückter kurz davor gewesen war Riley eine tödliche Dosis Amphetamine zu spritzen. Doch Crivaros damaliger Partner Mark McCune hatte damals den Schuss abgegeben, der den Mörder niedergestreckt hatte.

Nichtsdestotrotz war Riley sich sicher, dass Crivaro auf irgendjemanden geschossen haben musste während seiner mehr als zwanzigjährigen Karriere als FBI Agent –– wahrscheinlich viele Male.

Aber es muss ein erstes Mal gegeben haben, dachte sie.

Vielleicht würde es ihr helfen, wenn er ihr davon erzählte.

Vorsichtig fragte sie: „Agent Crivaro... könnten Sie mir vom ersten Mal erzählen, als Sie auf jemanden schießen mussten?“

Crivaro zuckte mit den Schultern. Er schien nicht besonders beunruhigt von der Frage.

„Naja, das ist eine uralte Geschichte“, sagte er. „Hast du jemals von dem Magrette Bank Überfall von 1980 gehört?“

Riley machte große Augen.

„Natürlich habe ich davon gehört“, sagte sie. „Wir haben das an der Academy durchgenommen. Ich habe sogar mit anderen Kadetten Teile davon nachgestellt. Der Fall wird immer als Anti-Terrorismus- und Überlebenstraining genutzt. Hatten Sie etwas damit zu tun?“

Crivaro lächelte ein komisches Lächeln.

„Ja, zum Ende hin jedenfalls. Willst du davon hören?“

Riley nickte stumm.

Crivaro sagte: „Naja, erzähl mir, was zu bereits darüber weißt. Ich will dich nicht mit Details langweilen, die du bereits eine Millionen Mal gehört hast.“

Riley schnaubte beinahe auf. An der Geschichte des Magrette Überfalls gab es rein gar nichts Langweiliges.

Nichtsdestotrotz sagte sie: „Naja, ich weiß, dass das ganze Ding verrückt war –– und extrem gewalttätig. Eine Gang aus sechs Bankräubern hat eine Bank in Magrette, Pennsylvania gestürmt, bewaffnet bis an die Zähne und in Kampfanzüge des Militärs gekleidet. Sie zwangen die Bankschalterbeamten $20,000 in Bar rauszugeben.“

„Das war damals viel Geld“, sagte Jake.

„Aber die örtliche Polizei hat Wind davon bekommen, während der Überfall noch im Gange war,“ sagte Riley. „Als sie am Tatort anrückten, brach eine Schießerei direkt dort vor der Bank aus.“

Jake schüttelte den Kopf.

„Diese armen Cops“, sagte er. „Sie hatten keine Ahnung, wie unterbewaffnet sie waren.“

Riley sagte: „Ein Deputy wurde getroffen –– fünf Mal, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Unglaublich, aber er überlebte es“, sagte Crivaro.

„Die Räuber bekamen es hin, zu ihrem Fluchtfahrzeug zu gelangen“, fuhr Riley fort. „Dann lieferten sie sich mit den Cops eine wilde Verfolgungsjagd. Die Räuber schossen auf die Polizeiautos, bewarfen sie sogar mit selbstgemachten Bomben. Alle möglichen Transportmittel wurden beschädigt, inklusive eines Polizeihubschraubers. Die Räuber schafften es, die Polizei für eine Weile abzuhängen.“

Crivaro grunzte leicht.

„Ja, das war der Moment, an dem das FBI eingeschaltet wurde –– mich mit eingeschlossen“, sagte er. „Früh am nächsten Morgen hatte eins unserer Teams die Gang irgendwo in einem nahegelegenen Wald aufgespürt, doch es stellte sich als Falle heraus. Wir wurden mit einem Kugelhagel begrüßt. Unser Team Chief, Val Davidson, war sofort tot.“

Crivaro schauderte und sagte: „Er wurde von einer Kugel aus einem Sturmgewehr getroffen. Hat fast seinen gesamten Schädel weggeblasen. Ich hatte sowas noch nie erlebt.“

Einen Moment lang schwieg er und sein Blick kehrte ins Innere.

Dann sagte er: „Wir alle erwiderten das Feuer, auch ich, obwohl wir unsere Angreifer kaum richtig zu sehen bekamen in diesem Wald. Die Schüsse schienen von überall und gleichzeitig aus dem Nichts zu kommen. Ich habe aber den allerletzten Schuss gefeuert. Einen Bruchteil einer Sekunde nachdem ich geschossen hatte, hörte ich einen Aufschrei aus dem Wald. Dann war die Schießerei zu Ende und alles wurde still.“

Crivaro schlurfte nervös mit den Füßen über den Boden.

Er sagte: „Dann kamen uns fünf der Räuber mit erhobenen Händen entgegen. Sie stellten sich! Ich und ein weiterer Kerl gingen in den Wald hinein, um herauszufinden, was vor sich ging. Wir fanden Wallace Combs, den Anführer der Bande, tot auf dem Boden liegen. Erschossen, mit einer Kugel mitten in die Brust. Der Rest der Gang erzählte uns daraufhin, dass Combs sie überzeugt hatte bis zum Tode zu kämpfen. Doch wie sich herausstellte, konnten sie ohne ihn nicht weitermachen.“

Crivaro schielte, so als ob er erneut mit dem Unglaublichen kämpfte.

„Ich hatte ihn getötet“, sagte er. „Aber ich hatte ihn nicht einmal gesehen. Ich habe einfach in den Wald hineingeschossen. Es war der glücklichste verdammte Zufall auf der Welt.“

Crivaro verstummte für einen Moment.

„Ich kann nicht sagen, dass ich mich jemals schuldig dafür gefühlt hatte“, sagte er, „aber es hat mich verändert. Es hat mich härter gemacht, nehme ich an. Teilweise war das, weil ich meinen Chief hatte so sterben sehen. Seit diesem Zeitpunkt hatte ich nie ein Problem damit, meine Waffe einzusetzen.“

Dann schaute er Riley direkt in die Augen.

Er sagte: „Es ist für jedermann eine andere Erfahrung –– dieses erste Töten, meine ich. Was mir damals wiederfahren ist –– naja, es ist etwas ganz anderes, als das, was dir gestern wiederfahren ist. Ich habe den Mann, den ich erschossen hatte, nicht gesehen, bis er tot war. Es hat sich nicht so persönlich angefühlt, so... naja, ich habe keine wirkliche Ahnung, wie es sich für dich anfühlt.“

Bei diesem Worten zuckte Riley zusammen.

Einen Augenblick lang sah sie wieder dieses unschuldige junge Gesicht mit toten Augen in den Schneefall hinaufstarren. So gut es ihr auch getan hatte vorhin mit Frankie darüber zu sprechen, wusste Riley, dass sie immer noch mit vielem zu kämpfen hatte.

Und es wird seine Zeit brauchen, dachte sie.

Crivaro tätschelte ihre Schulter.

„Na, willst du darüber sprechen?“, sagte er.

Riley dachte einen Moment lang nach und schüttelte dann den Kopf.

„Das ist vielleicht auch besser so“, sagte Crivaro. „Ich bin nicht der Typ, der dir da weiterhelfen kann. Ich habe nicht das richtige Feingefühl. Du musst wirklich mit einem Therapeuten sprechen, genau wie Lehl dich angewiesen hat. Versprich mir, dass du einen Termin ausmachst, sobald wir wieder in Quantico gelandet sind.“

„Ich verspreche es“, sagte Riley.

Doch sie spürte eine akute Angst, als sie diese Worte sagte.

Sie fragte sich, wie sie über diese schrecklichen Dinge mit einem Unbekannten sprechen sollte. Wie sollte ihr das helfen?

Und wieso geht es überhaupt irgendjemanden etwas an?

Kann ich mich da nicht irgendwie rauswinden?

Doch natürlich wusste sie, dass sie es nicht konnte. Ein Befehl war ein Befehl, und ein Versprechen ein Versprechen.

Und überhaupt, sie und Crivaro waren kurz davor einem möglichen Serienmörder nachzujagen.

Ich habe wahrscheinlich schlimmere Dinge vor mir, als einen Arztbesuch, dachte sie sich mit einem bitteren Lächeln.

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KAPITEL SECHS

Der große, grimmige Mann, der Riley und Crivaro erwartete, als sie aus dem Flieger stiegen, machte überhaupt keinen herzlichen Eindruck. Riley nahm an, dass es sich um Sheriff Quayle handeln musste, der eigentlich ihre Hilfe angefordert hatte. Doch er stand bloß da auf der Landebahn mit verschränkten Armen und einem wütenden Ausdruck im Gesicht. Er schaute so drein, als würde er finden, dass Riley und Crivaro bereits etwas getan hatten, dass ihm nicht gefiel.

Findet er, wir sind spät dran, oder so? fragte Riley sich.

Sie fand, dass sie hier so schnell eingetroffen waren, wie man es von ihnen vernünftigerweise erwarten konnte.

Riley und Crivaro holten ihre Dienstmarken zum Vorschein und stellten sich vor. Quayle machte keine Anstände dasselbe zu tun.

„Kommen Sie“, sagte er unwirsch. „Ich fahre Sie dort hin.“

Riley konnte nur annehmen, dass „dort“ den Tatort meinte.

Ein Mann weniger Worte, dachte Riley sich.

Sie und Crivaro folgten ihm durch den kleinen Flughafenterminal, dann hinaus auf den Parkplatz. Das Wetter war ähnlich wie das in Virginia –– kalt, aber nicht zu sehr. Nicht wie es im Staat New York gewesen war. Doch es lag Schnee und es war kalt genug, dass Riley froh war sich warm angezogen zu haben.

Riley, Crivaro und Quayle stiegen in einen Polizeiwagen, der mit „Raffel County Sheriff“ beschriftet war.

Als er den Parkplatz verließ, grummelte Quayle leise: „Was für ein Tag, an dem wir Leute wie Sie in unserer Gegend brauchen.“

Riley warf Crivaro einen fragenden Blick zu.

„Wieso mag er uns nicht?“, flüsterte sie kaum hörbar.

Schließlich, wie Crivaro ihr im Flugzeug erzählt hatte, hatte Quayle höchstpersönlich eine Ermittlung seitens des FBI angefragt, und sogar explizit nach der Hilfe von Verhaltensanalyseagenten verlangt. Crivaro lächelte leicht und zuckte mit den Schultern, so als würde er ihr sagen wollen, dass er es ihr später erklären würde.

Dann sagte Crivaro zu Quayle: „Was können Sie uns zu den Morden sagen?“

„Nicht viel –– noch nicht“, sagte Quayle. „Deshalb sind sie hier.“

„Kannten die Opfer einander?“, fragte Crivaro.

„Nicht, dass ihre Eltern wüssten“, sagte Quayle. „Es ist möglich, nehme ich an. Es sind nur zehn Minuten mit dem Auto von Dalhart zu Brattdale, einige Leute besuchen einander. Doch normalerweise bleiben die Leute in Dalhart hier und unter sich. Ein bisschen autark, könnte man sagen.“

„Was können Sie mir über das Opfer aus diesem Ort erzählen?“, fragte Crivaro.

Quayle seufzte bitter.

„Kimberly Dent war ein gutes Mädchen“, sagte er. „Eine wirklich nette Kleine. Ich kannte sie seit ihrer Geburt. Ich bin mit beiden ihrer Eltern zur Schule gegangen, Phil und Claudia –– sie waren quasi seit ihrer Kindheit zusammen. Gute Leute. Niemand hat je irgendetwas gegen sie gehabt. Dann wiederum gibt es nichts als gute Leute in dieser Gegend. Wir haben keine Probleme wie die, an die Leute wie Sie gewohnt sind.“

Riley wusste nicht genau, wen oder was Sheriff Quayle mit „Leute wie Sie“ meinte, aber sie bemerkte eine herabsetzende Note in seiner Stimme, als er diese Worte sagte.

Bald daraufhin bog Quayle vom Highway auf eine kleinere Landstraße ab. Als sie hinaus aufs Land fuhren, betrachtete Riley die hübsche, schneebedeckte Hügellandschaft mit vereinzelten Bäumen hier und da, aus dem Fenster. Obwohl die Landschaft keine Berglandschaft war, die das westliche Virginia, wo Riley aufgewachsen war, wurde Riley an Szenen ihrer Kindheit in den Appalachen erinnert.

Die Fahrt brachte Erinnerungen in Riley hoch –– mache waren nostalgische, aber viele waren traurige. Vieles an ihrer Kindheit war schwierig gewesen, besonders nachdem ihre Mutter vor ihren Augen in einem Süßigkeitenladen erschossen worden war. Obwohl die Schönheit dieser Landschaft sie zutiefst rührte, hatte sie in einem sehr jungen Alter gelernt, dass Schönheit und Hässlichkeit oft Seite an Seite koexistierten.

Und hier ist etwas sehr Hässliches passiert, dachte sie.

„Wir sind gleich da“, sagte Sheriff Quayle.

Als sie hinter eine weitere Kurve bogen, sah Riley ein geparktes Auto und zwei Menschen –– einen Mann und eine Frau –– dastehen, wo die Straße breit genug war, um Fahrzeuge am Straßenrand zu parken. Es sah danach aus, als hätte der Verkehr den meisten Schnee in der Gegend zum Schmelzen gebracht.

Die zwei Menschen standen wenige Meter von der Straße entfernt und schauten beide auf etwas. Es war ein weißes, ungefähr einen Meter hohes Kreuz.

Kimberly Dents Eltern, vermutete Riley.

Ihr Herz machte einen kleinen Sprung bei dem Gedanken, die trauernden Eltern kennenzulernen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass jetzt gleich tun zu müssen und sie war sich sicher, dass auch Crivaro das nicht erwartet hatte.

Sheriff Quayle fuhr an die Straßenseite und parkte sein Fahrzeug hinter dem bereits dort stehenden Auto. Riley und Crivaro stiegen mit ihm zusammen aus und gingen alle auf das Paar zu, das ihre Ankunft kaum bemerkt zu haben schien.

Riley konnte nun das Denkmal am Straßenrand genauer erkennen. Das einfach gestrichene Holzkreuz trug die Aufschrift von Kimberly Dents Namen. Irgendjemand –– das Paar, wie Riley vermutete –– hatte einen Strauß künstlicher Blumen davorgelegt. Das Paar stand mit gesenkten Köpfen da, wie in der Kirche.

Der Mann hatte einen Holzhammer in der Hand, er musste das Kreuz also gerade eben erst in die Erde geklopft haben. Das Paar hatte das Kreuz mit Steinen, die ein Herz formten, umrahmt.

Das Paar drehte sich um, als sie Sheriff Quayles Stimme vernahmen.

„Phil, Claudia, ich habe zwei Leute dabei, die ich euch vorstellen will.“

Sheriff Quayle stellte Phil und Claudia Dent Riley und Crivaro vor. Riley und Crivaro sprachen beide ihr Beileid aus und entschuldigten sich dafür, dass sie in so einem Moment einige Fragen stellen mussten.

Riley sah, dass Phil und Claudia beide ernste, hagere Gesichter hatten. Zweifellos sahen sie trauriger als sonst aus, aber Riley hatte das Gefühl, dass sie auch unter anderen Umständen nicht sehr oft lächelten. Sie fragte sich, ob ihre Tochter auch so eine ernste Miene getragen hatte. Irgendwie bezweifelte sie das. Ohne genau zu wissen, wieso, stellte Riley sich Kimblery Dent als typisch fröhliche und ausgelassene Jugendliche vor.

In einer monotonen und ausdruckslosen Stimme sagte Claudia zu Riley und Crivaro: „Ich hoffe Sie finden denjenigen, wer das getan hat.“

„Wir werden unser Bestes geben“, sagte Crivaro. „Haben Sie irgendeine Ahnung, wer ihrer Tochter etwas Böses wollte?“

Phil sagte ziemlich spitz: „Jemand, der uns nicht mag.“

Riley war verwundert über seine Betonung auf dem Wort uns.

Claudia sagte: „Niemand von hier. Jemand von irgendwo anders.“

Sie richtete sich etwas auf und fügte hinzu: „Es kommt immer mehr zu sowas in dieser Welt.“

Während Crivaro dem Paar weitere Fragen stellte, hatte Riley das Gefühl, dass ihr Einiges immer klarer wurde –– einschließlich der schroffen Einstellung des Sheriffs ihnen gegenüber. Sie dachte an etwas, das er ihr und Crivaro während der Fahrt gesagt hatte.

„Wir haben keine Probleme wie die, an die Leute wie Sie gewohnt sind.“

Er hatte auch gesagt: „Was für ein Tag, an dem wir Leute wie Sie in unserer Gegend brauchen.“

Aus ihrer eigenen Kindheit wusste Riley, dass ländliche Bewohner „ein bisschen autark“ sein konnten, wie Sheriff Quayle sich ausgedrückt hatte, und an ihren antiquierten Lebensvorstellungen festhalten konnten. Doch das Leben dort draußen veränderte sich schnell und veränderte sich ständig.

Riley vermutete, dass Phil und Claudia das Gefühl hatten, als würde die Welt sie in letzter Zeit umzingeln, ihre Lebensweise bedrohen. Und nun hatte der Mord an ihrer Tochter dieses Gefühl in ihnen nur noch verschärft.

Sie wollen wirklich nicht daran glauben, dass der Mörder einer von ihnen sein könnte, dachte Riley.

Stattdessen wollten sie glauben, dass der Mörder irgendein Außenseiter war, irgendjemand, der solche Menschen wie sie hasste –– irgendjemand aus der Welt, aus der Riley und Crivaro kamen.

Es machte Riley traurig, dass es gut möglich war, dass sie sich irrten.

Während Riley über all das nachdachte, stellte Crivaro dem Paar weitere Fragen.

„Hatte Kimberly einen Freund?“, fragte Crivaro.

Die Eltern zuckten leicht zusammen.

„Nein“, sagte Phil.

„Bestimmt nicht“, fügte Claudia hinzu.

Riley und Crivaro tauschten flüchtig überraschte Blicke aus. Das Paar klang beinahe so, als hätten sie die Frage beleidigend gefunden.

Dann sagte Crivaro: „Und eine beste Freundin? Ein anderes Mädchen, meine ich.“

Claudia sagte: „Das wäre Goldie Dowling.“

„Könnten Sie mir sagen, wie wir sie erreichen?“, fragte Crivaro.

Sheriff Quayle sagte zu Crivaro: „Das kann ich für Sie übernehmen.“

Crivaro nickte und sagte dem Paar, dass er erstmal keine weiteren Fragen hatte. Er bat sie, das Büro des Sheriffs zu kontaktieren, falls ihnen irgendetwas einfallen sollte, was wichtig sein könnte.

Claudia trat einen Schritt vom Denkmal zurück und nickte, zufrieden mit dem Anblick.

Sie sagte: „Die Leute werden bald Blumen und so etwas hierherbringen, um es zu verzieren. Es wird sehr hübsch aussehen. Aber ich hoffe, die Leute haben einen gesunden Menschenverstand und bringen keine echten Blumen. Die würden bei diesem Wetter schnell verwelken.“

Dann verzog sie die Miene und fügte hinzu: „Alles Lebendige würde verwelken, wenn man es hier lassen würde.“

Riley konnte eine ganze Welt kalter Verbitterung in diesen schillernden Worten heraushören. Als die Dents sich abwendeten und zu ihrem Auto gingen, bemerkte Riley zwei Dinge. Phil und Claudia hatten einander keinerlei physische Wärme oder Trost gespendet. Sie hatten sich nicht einmal an den Händen gehalten.

Außerdem hatte keiner der beiden geweint.

Riley fragte sich, ob das ungewöhnlich war, besonders für die Frau. Dann erinnerte sie sich an ihre eigenen Reaktionen, nachdem sie Heidi Wright getötet hatte –– die Taubheit, die stundenlang an ihr gehaftet hatte, bis sie endlich alleine in ihrer Wohnung weinen konnte.

Vielleicht hat sie bereits sehr viel geweint, dachte Riley. Oder vielleicht hat ihre Trauer noch nicht richtig eingesetzt.

Als das Paar davonfuhr, sagte Sheriff Quayle zu Riley und Crivaro: „Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo die Leiche gefunden wurde.“

Sie begannen sich vom Straßenrand zu entfernen und gingen auf die etwas abseits wachsenden Bäume und Gestrüpp zu.

Crivaro fragte: „Haben Sie irgendeine Ahnung, was für ein Fahrzeug der Mörder benutzt hat?“

„Nein, und ich weiß nicht, wie wir es herausfinden könnten“, sagte Quayle und zeigte auf den Boden. „Der Seitenstreifen hier ist mit einer dicken Schotterschicht bedeckt und es liegt kaum noch Schnee. Ein Fahrzeug würde hier keinerlei nennenswerte Reifenabdrücke hinterlassen.“

Crivaro schnaubte. Er blieb stehen und ging in die Hocke.

Riley begriff, was er sah. Herabgefallene Blätter formten einen verräterischen Haufen an einer Stelle, wo der Schotter endete.

Crivaro fegte die Blätter weg und sagte zu Quayle: „Schauen Sie mal.“

Wie erwartet, sah Riley eine teilweise verwischten Reifenspur im Dreck, wo der Schotter endete.

„Irgendwer hat hier geparkt“, sagte Crivaro und fuhr die Spur mit dem Finger nach. „Er war schlau genug die Spur zu verwischen, sodass wir keine solide forensische Analyse machen können. Aber der Grund war noch zu kalt und er war in Eile. Er hat sogar ein paar Blätter drüber geschüttet, um das, was von der Spur übrig geblieben ist, zu verbergen. Sein Fahrzeug war schwer genug, um Spuren zu hinterlassen. Sie sind jedoch nicht klar genug, um bestimmen zu können um welche Fahrzeugart es sich handelt.“

Crivaro erhob sich wieder und die drei warteten einen kurzen Weg hinüber zum verlassenen Gestrüpp am Rande des Seitenstreifens.

Quayle zeigte auf den Boden und sagte: „Wie sie sehen können, gibt es um diese Jahreszeit nicht viel Blattwerk und sie trug einen roten Parka. Sie war also ziemlich gut von der Straße aus zu sehen. Ein Fahrer entdeckte sie heute morgen und rief uns an.“

„Wann wurde die Leiche abtransportiert?“, fragte Crivaro.

„Um die Mittagszeit“, sagte Quayle. „Der Gerichtsmediziner wollte sie nicht länger als nötig dem Unwetter überlassen.“

Riley konnte sehen, wo die Blätter angedrückt waren, weil dort die Leiche gelegen hatte. Crivaro bückte sich hinab, um einen genaueren Blick auf die Stelle zu werfen.

Crivaro berührte den Boden und sagte: „Kimberly wurde nicht direkt hier umgebracht.“

Quayle schaute überrascht.

„Das hat der Gerichtsmediziner auch gesagt, ausgehend vom vermuteten Todeszeitpunkt“, sagte Quayle. „Aber woher wussten Sie es?“

Riley konnte genau sehen, was Crivaro meinte. Sie wusste, was er sagen würde, als er begann zu gestikulieren und es Quayle zu erklären.

„Es gibt keine Kampfspuren. Die einzigen Auffälligkeiten sind das heruntergetrampelte Gestrüpp, durch das der Mörder die Leiche getragen hatte und diese Mulde, wo der Körper gelegen hatte. Es sieht so aus, als wäre sie ziemlich vorsichtig hier abgelegt und nicht einfach gedankenlos abgeworfen worden. Was hat ihr Gerichtsmediziner noch feststellen können?“

„Die Todesursache ist Strangulation, irgendwann gestern“, sagte Quayle. „Er konnte den genauen Todeszeitpunkt nicht ermitteln.“

Crivaro sagte: „Ich hoffe, Sie haben gute Fotos beider Tatorte.“

Quayle nickte und sagte: „Ja, und die Tatorte sehen sich sehr ähnlich. Der Sheriff drüben in Brattledale stimmt mir zu, es muss sich um denselben Mörder handeln. Ich zeige Ihnen die Bilder, wenn wir auf der Wache sind.“

Während Crivaro und Quayle weitersprachen, versuchte Riley sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Ihr unikales Talent war es, in die Gedanken des Mörders einzudringen, meistens an derlei Tatorten.

Es war eine komische Fähigkeit und erschien selbst ihr unheimlich. Doch Crivaro hatte ihr oft versichert, dass es nichts Hellseherisches oder Mystisches daran gab. Riley hatte bloß außergewöhnlich gute Intuitionen und Instinkte –– genau wie Crivaro selbst.

Natürlich war es einfacher, wenn ein Tatort frischer war und die Leiche noch nicht abtransportiert worden war. Doch selbst hier spürte sie ein leichtes Kribbeln, ein unbestimmtes Gefühl von der Anwesenheit des Mörders.

Doch sie verspürte keine Gefühle von Anfeindung oder Wut.

War das, weil der Mord selbst an einem anderen Ort stattgefunden hatte, womöglich mehrere Stunden bevor die Leiche hierher gebracht worden war?

Hatte der Mörder den Hass auf das Opfer bereits ausgelebt?

Nein, das ist es nicht, dachte Riley sich.

Sie spürte, dass der Mörder überhaupt keine Wut empfunden hatte. Schließlich war die Leiche auf eine scheinbar sorgfältige und vielleicht sogar respektvolle Art und Weise hier hingelegt worden.

Was ist mit Schuldgefühlen? fragte Riley sich.

Nein, sie konnte auch keine Schuldgefühle spüren. Und wie immer wurde ihr Bauchgefühl vom Anblick des Tatorts selbst untermauert. Der Mörder hatte die Leiche mehr oder weniger sichtbar abgelegt, wo man sie in den frühen Morgenstunden auf jeden Fall entdecken würde. Er hatte nicht versucht seine Tat zu verbergen. Er hatte überhaupt keine Schuld verspürt.

Vielleicht fühlte er sich stolz?

Das konnte Riley nicht sagen. Doch sie spürte schon, dass er womöglich eine gewisse Genugtuung verspürt hatte von dem, was er getan hatte. Als er diesen Ort verlassen hatte, hatte er das Gefühl gehabt, als habe er das Richtige getan, vielleicht sogar, als habe er seine Pflicht erfüllt.

Riley schauderte, als ein anderes Gefühl über sie kam.

Er ist nicht fertig.

Er wird es erneut tun.

Ihr Tagtraum wurde von Crivaros Stimme unterbrochen.

„Komm Riley. Gehen wir.“

Sie wand sich um und sah, dass Crivaro und der Sheriff bereits aus dem Unterholz zurück zum Seitenstreifen staksten.

„Quayle fährt uns auf die Polizeiwache des Ortes“, fügte Crivaro hinzu.

Riley folgte ihnen und sie alle stiegen in den Wagen des Sheriffs.

Als der Sheriff losfuhr, sah Riley sich auf das Kreuz um, dass das Paar vorhin als Andenken an ihre Tochter aufgestellt hatte. Natürlich hatte sie schon hunderte solcher Wegkreuze an Straßenrändern gesehen, aber sie hatte immer angenommen, dass sie im Gedenken an Autounfallopfer aufgestellt worden waren.

Es erschien Riley irgendwie merkwürdig ein solches Wegkreuz am Ort eines grässlichen, grausamen und vorsätzlichen Verbrechens aufzustellen.

Keine weiteren Kreuze, dachte sie.

Das hier muss ein Ende haben.

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KAPITEL SIEBEN

Es war nicht die einbrechende Dunkelheit, die Riley Unbehagen bereitete. Als Sheriff Quayle sie in das kleine Städtchen Dalhart fuhr, schaute sie auf die reihenweise dastehenden bescheidenen Häuschen, einige von ihnen dunkel, andere von Innen hell erleuchtet. Die Häuser waren ordentlich und die Stadt machte einen durchaus gemütlichen und sicheren Eindruck.

Riley dachte an etwas, das Claudia Dent über den Mörder gesagt hatte.

„Niemand von hier. Jemand von irgendwo anders.“

Riley wusste nicht, ob sie darauf hoffen sollte, dass die Frau recht hatte, oder eher darauf, dass sie unrecht behielt. Was Riley, Crivaro und die Polizei anging, so war das Einzige, was zählte, dass der Mörder so bald wie möglich geschnappt werden würde.

Doch galt das auch für die Dents und all die anderen Menschen, die in diesem verschlafenen Ort lebten? Was, wenn der Mörder sich als einer von ihnen herausstellte –– vielleicht sogar ein vertrauensvoller Freund, Nachbar und Bürger? Würde das Städtchen sich von dem nagenden Horror eines solchen Schocks jemals erholen können?

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