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„Geh schlafen, Liebes. Morgen hast du einen schweren Tag.“

„Ich kann bestimmt nicht einschlafen.“

„Schlaf bitte! Du musst doch unwiderstehlich sein an deinem ersten Arbeitstag im schönen Genf!“

„Gut. Ich rufe dich vor dem Abflug an. Ich versuche auch, zu schlafen. Küsschen…“

„Küsschen zurück…“

„Oh Gott. Es macht so einen Spaß, mit dieser Schlange zu telefonieren! Ich sollte vielleicht doch das Land der Schlitzaugen besuchen! Sushi, Fugu… mmmmm.“

Sie konnte nicht einschlafen. Die ganze Nacht drehten sich in ihrem Kopf schreckliche Gedanken: Sie könnte am Flughafen verhaftet werden oder eine internationale Fahndung nach ihr könnte eingeleitet werden. Sie war sauer, weil Stella es geschafft hatte, davonzukommen. Natalja war der Meinung, dass gerade ihre Freundin im Gefängnis enden sollte. Die zweite Frage, die ihr keine Ruhe ließ, lautete: Was erwartete sie wirklich in Genf? Sehr viele Mädchen kamen nicht mehr zurück, wenn sie einmal im Ausland waren.

„Dieser Stella werd ich's noch zeigen! Ich werde es alles viel besser machen als sie! Sonst wäre ich ja nicht ich. Ich lasse mich von dieser hochnäsigen Schlampe nicht übertrumpfen! Nie im Leben!“

Ihre Gedanken drehten sich wie das Karussell, das sie einmal in einem amerikanischen Kinderfilm gesehen hatte: Vorn fuhr ein Auto und dahinter flog ein Hubschrauber. Wie ein Präsidentenkonvoi. Genau so und nicht anders stellte sich Natalja ihr Leben in der Fremde vor. Befriedigt von diesen positiven Gedanken sank sie in den Schlaf. Sie träumte, dass sie mit einem Hündchen mit rosarotem Schleifchen im Arm in einen hellblauen Bentley stieg und durch die Stadt fuhr. Ihr Seidenschal wehte. Sie zahlte überall mit einer schwarzen American- Express-Karte, deren Limit mindestens fünftausend Dollar sein sollte. Für kleinere Ausgaben würde das reichen.

Am Morgen, noch nicht ganz aus dem wunderbaren Traum erwacht, dachte sie weder an Stellas Bräutigam noch an ihren Ljonja. Dennoch ertappte sie sich bei dem Gedanken:

„Heißt er wirklich Ljonja? Stella, dieses Miststück, kann einen ganz um den Verstand bringen. Ach was, natürlich heißt er Ljonja! Ich bin doch nicht blöd!“

Sie schritt fest durch das Zimmer, murmelte vor sich hin, packte den Rest ihrer Sachen und dachte dabei nur an Geld und Unabhängigkeit. Natalja war sich sicher, dass das Glück aus Kohle bestünde. Je mehr, desto besser. Wenn jemand sie von dieser Meinung abbringen wollte oder diese unmoralische Einstellung zu widerlegen versuchte, fragte sie ihn einfach, ob er reich wäre. Immer stellte sich dann heraus, dass dieser Mensch arm war. Von einem reichen Mann bekam sie so etwas nie zu hören.

Zum ersten Mal, seit sie in Moskau war, hatte sie die Nachrichten auf ihrem Handy nicht überprüft. Außerdem löschte sie alle Kontakte darauf.

Natalja trat vor den Spiegel, um sich von der Seite zu betrachten. Sie wollte ihr Gesicht sehen, um zu erkennen, ob sie litt oder nicht. Sie lächelte so eiskalt und gefühllos, dass selbst der Satan erschaudert wäre. Sie begann das Lied „Non, je ne regrette rien“ von der berühmten französischen Prostituierten Edith Piaf zu summen. Sie war aufgeregt, gestikulierte theatralisch, wand sich wie eine Brillenschlange und genoss die Biegsamkeit ihres schlanken Körpers. Ihre Augen blitzten teuflisch. Es schien fast schrecklicher, in diese kindlich anmutenden, aber hasserfüllten Augen zu blicken als in die Tiefen der Hölle.

„Ihr findet es lustig, aber ich leide“, sagte sich das Mädchen leise und kalt und erstickte fast vor fieberhaftem Gelächter.

Bravo!“ Ein tolles Bild! Sie hatte eine gute Rolle am Bolschoi-Theater verdient.

Das Mädchen war zweifellos eine wahre Bestie! Eine Strafe für Männer, ein Blutegel für Frauen, Mütter und unschuldige Kinder. Nicht umsonst hatte man die Huren in alten Zeiten verbrannt. Sie stellten eine tödliche Bedrohung für das Familienglück und Ruhe der Menschen dar. Aber auch heutzutage waren Frauen bereit, wegen eines geliebten Mannes oder vielleicht wegen eines reichen Politikers. Da gab es keinen wesentlichen Unterschied. Die Jagd auf Männer lief rund um die Uhr, wie der Grill bei McDonalds. Selbst in klirrend kalten Nächten marschierten kampfbereite, mit Silikon optimierte Weiber zu Hunderten durch die Straßen, gaben vor, dass sie sich verlaufen hatten, und fragten bei jedem Mercedes oder BMV aufs Geratewohl, wie sie zur nächsten U-Bahn-Station gelangen könnten – in der Hoffnung auf die Rückfrage:

„Junge Dame, kann ich Sie mitnehmen?“

Ganz abgesehen von den professionelleren Huren, die ihr Startkapital für eine produktivere Männerjagd bereits angehäuft hatten, die in warmen Restaurants, auf Skipisten, an Stränden und allerlei anderen Orten ihre Fallen stellten und das Leben von anständigen Hausfrauen und Mütter verdarben, die ihrer weiblichen Reize nicht mehr sicher waren.

Ein Paradoxon der verfluchten Realität!

Die Fahrt zum Flughafen war nervig. Es gab fürchterliche Staus. Die Wartezeit hätte ausgereicht, um das Auto zu verkaufen und ein neues zu erwerben, das näher an der Ampel hielt.

Natalja war jetzt schon ein Nervenbündel, alles rutschte ihr aus der Hand, als ob sie Fieber hätte.

Der stinkende Taxifahrer hatte ihr verboten, in seinem verdammten Daewoo Lanos zu rauchen, weil sie sein Gefährt „Anus“ genannt hatte. Das konnte er ihr nicht verzeihen, denn auf dieses Traumauto hatte er ein halbes Leben lang gespart.

Natalja bemerkte eine blinkende Lampe am Armaturenbrett, die einen leeren Tank meldete.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß sie drohend hervor:

„Ich fliege nach Genf, verdammt noch mal. Und ich warne Sie. Wenn Ihnen der Sprit ausgeht, bevor am Flughafen sind, rauche ich nicht nur in Ihrem Wagen, Sie müssen ihn mir außerdem schenken! Die Unterlagen und das Ticket haben mich doppelt so viel gekostet wie Ihr Scheißschlitten!“

„Aha. Meine Teuerste, ich bitte Sie, höflicher zu sein. Sonst gehen Sie zu Fuß nach Ihren Genf. Haben Sie mich verstanden?“

„Nein, hab ich nicht!“, zischte Natalja und rauchte an.

Nach zahlreichen Vorwürfen gegen den Taxifahrer erreichte sie endlich den Flughafen. Sie rannte zum Schalter und legte eilig ihren monströsen Koffer auf die Waage. Als sie sah, dass er zweiundvierzig Kilo statt der erlaubten fünfundzwanzig wog, wurden ihre Augen rund wie Münzen.

„Sie können entweder draufzahlen oder das Übergepäck wegnehmen. Gehen Sie bitte beiseite.“

Natalja blieb das Herz stehen. Sie vergaß sogar, dass die Bullen nach ihr fahndeten. In diesem Koffer steckte alles, was sie in den nächsten acht Monaten brauchen würde. Nur das Allernötigste. Es gab ganz bestimmt nichts, worauf sie verzichten könnte.

„Wie viel muss ich draufzahlen? Entschuldigung!“

„Glauben Sie mir, ziemlich viel. Besser wäre es, so viel wie möglich vom Übergepäck wegzunehmen. Und bitte schneller. Wir haben noch zwanzig Minuten, bis der Check-in schließt.“

„Ich habe sie höflich gefragt, wie viel ich zu bezahlen habe. Aber statt zu antworten, zählen Sie mein Geld!“

„Ich helfe Ihnen zu sparen!“

„Noch besser!“

„Sie können sich ans Büro wenden und dort Ihr Übergepäck abrechnen. Es liegt am Ende des Korridors rechts. Bezahlen Sie und bringen bitte den Kassenzettel mit. Und verpassen Sie Ihren Flug nicht.“

„Wollen Sie sich über mich lustig machen? Sagen Sie mir wenigstens, was das Übergepäck kostet.“

„Ich sage Ihnen doch, dass ich es nicht weiß. Aber es wird schon ziemlich teuer. Mindestens fünfhundert Dollar!“

„Sind Sie wahnsinnig? Der Durchschnittslohn im Land liegt bei hundert Dollar!“

„Hören Sie bitte auf, Ärger zu machen und holen Sie das überflüssige Gepäck aus Ihrem Koffer. Sonst fliegen Sie heute nirgendwohin.“

„Wenn ich nicht abfliege, schmeiße ich Ihnen eine Bombe vor die Füße! Oder eine Rauchdose, verlassen Sie sich drauf!“

Sie öffnete ihren Koffer, der zu platzen drohte, und begann, allerlei Zeug herauszunehmen. Darunter waren Buchweizengrütze, Zucker und sogar Konserven. Sie warf es in eine Mülltonne mit einem so traurigen Gesicht, als ob sie nicht in die Schweiz, sondern nach Afrika auswandern wollte. Die Menschen beobachteten sie überrascht und spöttisch. Sie murrte gekränkt vor sich hin:

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