Die Emotionen in dieser Beziehung konnte man natürlich nicht mit elektrischen Ladungen vergleichen, aber Nikita war doch keine schlechte Wahl.
Stella hatte ihn nicht ernst genommen. Sie liebte bewegliche Menschen und Sport. In ihrer Schulzeit hatte sie an verschiedenen Wettbewerben teilgenommen. und meistens gewonnen. Dafür gab sie hundert Prozent, koste es, was es wolle. Sie hatte sich mit kräftigen, sportlichen Jungen getroffen, die einen starken Charakter hatten und Wort halten konnten. Stella sagte, sie möge echte Männer, keine Schwuchteln. Nikita sah dagegen eher wie ein warmer Bruder als wie ein harter Mann aus. Ein Weichling mit dünnen Ärmchen. Beim Sex mit ihm spielte Stella immer die erste Geige.
Stella verabschiedete sich von ihrem guten Nikita, der mit dem gekränkten Gesicht eines unglücklichen, verlorenen Kindes dastand. Sein Aussehen weckte Stellas mütterliche Gefühle. Sie brach in Tränen aus. Im Gegensatz zu ihm wusste sie sehr gut, dass es ihr letztes Treffen war.
Natalja saß wütend zu Hause und wartete auf Stella.
Sie war sauer auf ihre Freundin, weil diese ins Land der Zwerge reiste und sie im Stich ließ. Dafür fand sie einfach keine Erklärung. Vieles veränderte sich in der Beziehung der Mädchen während dieser letzten Zeit. Natalja hatte sich an ihre „Schlange“ gewöhnt, und vielleicht liebte sie sie sogar ein wenig. Oder war es nur die gewöhnliche Angst, allein zurückzubleiben, die die arme Blonde quälte? Als Stella in die Wohnung kam, sah sie das besorgte Gesicht der Weggefährtin und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. In dieser Minute tat es ihr leid, dass sie diese überstürzte, unbesonnene, auf Emotionen und Ressentiments beruhende Entscheidung getroffen hatte. Der verdammte Job als Notarin und der gemeinsame Arbeitsalltag hatten sie beide restlos aufgefressen. Skandale und andere Probleme brachten sie dazu, den Schritt zu gehen, den sie vor drei Monaten gewagt hatten.
Aber heute! Heute ist alles anders! Ganz anders! Ich bin selber schuld! Mein verdammter Charakter! Ich konnte nicht nachgeben! Ich dachte, so wäre es besser! Sie hat mich verrückt gemacht mit ihren Zicken! Aber warum ist das nicht mehr wichtig? Alles ist vor meinen Augen anders geworden! In kurzer Zeit! Ich will in dieses verfluchte Genf! Scheiß auf das Tanzen! Das kann ich lernen! Aber nein, jetzt ist nichts mehr daran zu ändern…
„Ich komme! Du wirst sehen!“
„Ich warte auf dich! Jetzt schon! Du bist noch gar nicht weg, du Schlange! Aber ich warte schon auf dich!“, rief das Mädchen durch ihre Tränen.
Sie gingen hinaus auf die Straße. Das Taxi war bereits da. Natalja knallte die Tür zu, als Stella im Wagen saß. Sie versuchte die Lage zu entspannen, indem sie vor dem Autofenster eine Äffin darstellte, die sich mit einem Finger stieß. Das sollte Sex mit Japanern bedeuten. Stella brach in ein heiseres Gelächter aus, das durch die Tränen aus ihrer Seele brach. Diesen Moment behielten die beiden Mädchen für immer in Erinnerung.
Allmählich kam auch für Natalja die Zeit, sich auf die Abreise vorzubereiten. Sie lief im Galopp durch ganz Moskau, um sich so viele rosa und hellgrüne Striptease-Kleider wie möglich schneidern zu lassen. Sie kaufte Highheels, die so hoch waren, dass sie ihr mindestens zwanzig Zentimeter zusätzliche Körpergröße einbrachten. Sie ließ ihre Haare verlängern, freilich ohne jeden Grund, besorgte sich verschiedene Körpercremes mit Glitzer, weil sie meinte, sie hätte Zellulitis an den Oberschenkeln, die aber nur für sie selbst sichtbar war. Sie nahm noch ein paar Stunden Pole-Dance-Unterricht, um ihre Professionalität zu überprüfen. Sie ließ Begleitmusik für ihre Show aufnehmen. Sie erledigte alles, was sie vor der Abreise noch hatte tun wollen.
Sie vermisste Stella sehr. Die spitzzüngigen Ratschläge und die Kritik der Freundin fehlten ihr. Sie telefonierten meistens nachts. Wenn Stella aufwachte, war in Japan schon heller Tag, aber in Moskau, wo sich Natalja befand, herrschte noch tiefe Nacht, etwa um drei Uhr morgens. Natalja schrie Stella an, weil sie sie immer aufweckte. Aber meistens hielt sich Natalja um diese Zeit in einem der Klubs der Stadt auf, wie immer, mit weiß Gott wem. Mit Vergnügen plauderte sie mit ihrer Freundin über alles. Die Gespräche in angeheiterter Stimmung hatten den Effekt, dass ihre Freundschaft zu einer festen, unzerbrechlichen Verbindung wurde. Beide waren der Meinung, dass sie sich noch nie so prächtig verstanden hätten wie jetzt. Stella erzählte, sie habe sich durch ihre neuen, unglaublichen Erlebnisse völlig verändert und die Angst vor der Tanzstange überwunden. Jetzt tanze sie im Klub in einer Show. Das sehe zwar noch eher wie ein Samurai-Tanz aus, als wie der weibliche Auftritt einer Geisha, aber sie gebe sich große Mühe. Und sie habe sogar gelernt, kopfüber an der Tanzstange zu hängen. Innerhalb eines Monats habe sie ziemlich zugenommen. Alkohol und leckeres Essen hätten noch niemanden zu einer vollkommenen Körperform gebracht. Die Japaner lüden sie jeden Tag in verschiedene Lokale ein, wo vier Meter lange Tische voll mit Leckereien aus Fisch und Meeresfrüchten beladen seien. Gewöhnlich nehme ein Japaner eine ganze Gruppe von Mädchen mit. Anscheinend solle das seine Solidität unterstreichen. Im Klub arbeiteten ungefähr zwanzig Personen. Acht von ihnen seien Rumäninnen. Sie seien heruntergekommen und hämisch wie Zigeunerinnen. Sie hassten Russinnen und Ukrainerinnen, stritten und kämpften um jeden Kunden.
Seltsamerweise höre der Besitzer auf sie und glaube ihnen aufs Wort, als ob er von Voodoo-Puppen verhext wäre. Aber Stella müsse zugeben, dass sie sehr schön und arbeitsam seien und gut tanzten.
Sex mit Kunden sei verboten. Viele Mädchen hätten Verehrer außerhalb des Klubs und ließen sich von ihnen aushalten. Aber im Klub selbst dürften sie nur trinken und tanzen, sonst nichts. Gleich nach ihrer Ankunft habe sie es, wenig überraschend, geschafft, sich mit dem reichsten Klubgast zu zerstreiten. Sie hätte angeblich zu laut geredet. Seitdem lasse man sie nicht mehr mit ihm trinken, was zur Minderung ihres Lohns geführt habe. Aber Stella saufe sich allein in der Klubküche den Mut zum Pole Dance an.
„Braves Mädchen! Scheiße!“, dachte Natalja. „Stille Wasser sind tief…“
Die Schicht dauere von abends um acht bis vier Uhr morgens. Danach gehe sie schleunigst in die Bar und schieße sich dort total ab. Entweder aus Langeweile und Kummer oder aus Freude, der Grund sei ihr selbst unklar.
An den Wochenenden gehe sie in eine Disco, wo Schwarze Breackdance tanzten. Ein Japaner beginne sie anzumachen. Der schöne, hochgewachsene Mann habe sie eingeladen, am Wochenende mit ihm Disneyland zu besuchen. Er heiße Jamoguchi. Natalja fiel fast um, als sie diesen Namen hörte.
„'Ich bin mächtig'? Ernsthaft? Ahahahaha!“
Stella wusste, wie man die Leute zum Lachen bringt. Es war auch interessant, etwas über die Männerprostitution und den Alkoholkonsum zu erfahren. Stella erzählte, wie Männer bei Frauen an der Bar um einen Drink bettelten und versuchten, sie auf verschiedene Art und Weise zu belustigen. Sie tanzten, sangen, machten akrobatische Kunststücke, zog die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich, so gut sie konnten, um auf deren Kosten zu trinken. Dabei ließe sich seltsamerweise nicht gleich erkennen, ob es Japaner waren oder Philippiner.
Die Geschichten über die kleinen Japaner machten Natalja derart Spaß, dass sie mit Ungeduld auf jeden Anruf ihrer Freundin wartete. Alles Neue und Unbekannte lockte sie.
Als sie nach langen Gesprächen in die Disco zurückkam, konnte sie sich oft nicht mehr daran erinnern, mit wem zusammen sie gekommen war. Einmal ging Natalja noch fast nüchtern auf einen Mann im blauen Hemd zu, mit dem sie glaubte, den Abend angenehm verbringen zu können, und begann ihn zu umarmen, ohne sein überraschtes Gesicht zu bemerken. Da tauchte vor ihr ein anderer Typ mit einem ebenso blauen Hemd, fragendem Blick und geballten Fäusten auf und fragte: