Die Mädchen verließen die Stadt. Unterwegs mieteten sie ein schickes Haus, kauften sich Lebensmittel und jede Menge Alkohol. Sie saßen am Kamin, tranken und wechselten kein Wort miteinander.
Stella brach das Schweigen. Nach der ersten geleerten Flasche war sie praktisch noch nüchtern.
„Am besten wäre es, das Land zu verlassen.“
Natalja war den Tränen nahe.
„So ein Arschloch, dieser Artschik! Ein Schweinehund! Das Land verlassen?“ Das Mädchen schluchzte. „Und meine Mutter? Meine Familie?“
„An die Familie hättest du früher denken müssen! Du hast in einer Notarkanzlei mit gefälschten Papieren gearbeitet, bist auf den Strich gegangen und hast dabei noch deinen Zuhälter gevögelt! Was hast du eigentlich erwartet? So naiv kann man doch gar nicht sein!“
Natalja kam schweigend auf Stella zu. Es sah aus, als ob sie Angst hätte, Stella würde sie beißen. Sie umarmte ihre Freundin und seufzte wie ein Kind.
„Verzeih mir! Das wollte ich nicht!“ Lass uns irgendwo hingehen, nur, bitte, verlass mich nicht!“
Aber Stella konnte nicht ihr alles einfach so verzeihen. Sie schrie ihr ins verweinte Gesicht:
„Wegen dir, du Schlampe, sind alle meine Träume kaputtgegangen! In einem Augenblick! Das ganze Geld! Endlich hatte ich ein anständiges Auskommen! Und alles ist zusammengebrochen! Alles! Ich hasse dich! Warum hast du mit deinem verdammten Gewerbe nicht aufgehört? Für eine schöne Zukunft? Was hat dir gefehlt? Hattest du nicht genug Geld? Warum musstest du dich mit irgendwelchem Lumpenpack als Nutte herumtreiben? Eine schöne Notarin bist du! Hol dich der Teufel! Dreckige Schlampe! Man sieht es dir gleich an, was du für eine billige Schnalle bist! Du hast allen erzählt, dass du Notarin bist. Dabei warst du besoffen und auf Eсstasy. Hast die Bar vollgesabbert und bist vom Hocker gefallen.“
„Aber du, Stella! Du bist so ein braves Mädchen, das noch nie Tabletten genommen hat! Säuferin! Du trinkst Bier und Whiskey literweise wie ein Mann! Und erzählst mir irgendeinen Stuss! Spielst hier die Zimperliese! Dabei schläfst du mit Männern, genau wie ich! Bloß umsonst! Also wer ist hier billig? Natürlich! Dafür mögen dich alle! Weil du's gratis mit ihnen treibst!“
Stella hörte den Schwall von Vorwürfen schweigend an. Vielleicht war sogar etwas dran. Wenigstens zum Teil könnte Natalja recht haben. Aber Stella war schlicht und einfach nicht fähig, für Sex Geld zu nehmen.
Die Leidenschaften legten sich und die Freundinnen konnten etwas schlafen. Am Morgen rief Stella alle Agenturen an, die Mädchen ins Ausland vermittelten. Am Abend kam die Leiterin einer solchen Agentur zu ihnen. Sie brachte alle Unterlagen mit, die erforderlich waren, um Arbeitsverträge für Einsätze von drei, sechs oder acht Monaten im Jahr in verschiedenen Ländern abzuschließen. Die Mädchen saßen am Tisch und sahen sich verschiedene Varianten für die nächste Zeit an. Stella interessierte sich für die USA und die Schweiz, Natalja dagegen nur für die Schweiz, weil sie dort Bekannte hatte. Bei dem Job ging um Stangentanz und Alkoholkonsum. Laut Vertrag wären sie verpflichtet, mindestens sechs Mal pro Nacht an der Stange zu tanzen und dazwischen mit Kunden alkoholische Getränke aller Art zu trinken. Wenn ein Gast ein Glas Champagner für ein Mädchen bestellte, das im Klub als Tänzerin tätig war, kostete ihn das sechzig Schweizer Franken, also circa fünfundfünfzig Dollar. Davon erhielt das Mädchen zehn Prozent. Wurde eine ganze Flasche Champagner bestellt, sei es Dom Perignon, Belle Epoque, Krug, Veuve Clicquot oder gewöhnlicher Moet & Chandon, stand dem Mädchen natürlich eine höhere Kommission zu, weil eine einzige Flasche Krug locker zweitausend Franken kosten konnte. Der Champagner floss in Strömen in den Klubs der Millionäre. War das Mädchen nicht im Stande, so viel zu trinken, war es erlaubt, Getränke auf den Boden oder an die Wand zu schütten; diese waren mit einem Teppich bedeckt, der die Flüssigkeit sofort aufnahm. Die Kunden sollten das nicht bemerken, alles musste heimlich vor sich gehen. Jeden Morgen kam der Reinigungsdienst mit spezieller Ausrüstung und spülte Tausende von Dollar von den Wänden des Lokals. Es war möglich, mit Kunden gegen Geld zu schlafen, aber keine Pflicht. Die Mädchen konnten das tun, wenn sie den Wunsch hatten. Im Klub gab es speziell ausgestattete Zimmer, so genannte Separees, wo man mit dem Kunden zu einem privaten Tanz oder einfach zum Trinken allein sein konnte. Dafür musste er eine Flasche Champagner im Wert von mindestens dreihundert Franken, circa zweihundertsiebzig Dollar, bezahlen. Wer das Mädchen ins Hotel mitnehmen wollte, musste dafür dem Klub tausend Franken zahlen, also etwa neunhundertfünfzig Dollar, dazu das Honorar für die Schöne nach Absprache. Die Mädchen verlangten normalerweise auch einen Tausender für sich selbst. Feilschen war natürlich möglich. Der Lohn betrug zweitausendzweihundert Franken im Monat plus Kommission von Alkoholkonsum und Ausgängen mit Kunden. Der Gesamtverdienst konnte, je nach Arbeitseifer und natürlich Gesundheitszustand, zehntausend Franken im Monat erreichen. Die Arbeit ging nachts vor sich, immer von 10 Uhr abends bis zum frühen Morgen. Für die Wohnung wurden vierhundert Franken im Monat fällig. Sie befand sich gewöhnlich im selben Gebäude, im oberen Stock. Das Verlassen des Klubs war nur mit Erlaubnis des Besitzers möglich. Treffen mit Kunden außerhalb des Lokals waren verboten.
Stella warf einen Blick auf Natalja, die an die Decke starrte, als ob die letzte Bedingung des Klubs nicht in ihrer Gegenwart vorgelesen würde.
„Wenn sie aus diesem Job auch noch gefeuert wird…“, dachte das Mädchen, beschloss aber, das ohnehin komplizierte Verhältnis zu ihrer Freundin nicht weiter anzuheizen.
Natalja senkte den Kopf und rief:
„Ist mir alles recht! Ich fahre in die Schweiz! Juh!“
Sie hob ihr Weinglas und hielt inne. Sie schaute Stella an.
„Oh, sorry! Wir fahren in die Schweiz! Nicht wahr, Liebes? Ich zittere schon vor Aufregung! Millionäre! Champagner! Geld! Was wünscht man sich mehr? Tanzen kann ich! Und tausend Dollar pro Nacht? Das ist ja elitär! Erste Klasse! Ich zeige allen, wie man das macht! Das ist keine Arbeit wie bei euch im Notariat, wo es so langweilig war! Auf diesem Gebiet bin ich wie ein Fisch im Wasser! Das ist mein Milieu!“
Stella sah düster und blass aus. Das Tanzen lag ihr nicht, dafür aber das Trinken! Das konnte sie gut! Oh! Dauersuff!
„Haben Sie zufällig einen Vertrag ohne Tanzen? Nur mit Trinken?“, fragte Stella mit einem aufgesetzten Lächeln.
„Für die Schweiz leider nicht. Das Visum bekommen Sie als Künstlerin, und zwar als Tänzerin. Das wissen Sie doch, Kollegin.“
„Ja. Ich habe schon Mädchen dorthin geschickt, aber ich habe sie zum Preis von hundert Dollar pro Kopf angeboten und sie direkt mit dem Unternehmer in Kontakt gebracht. Auf die Einzelheiten, wie das System funktioniert, bin ich nicht eingegangen. Leider“, sagte Stella und warf einen brennenden Blick auf die zufriedene Natalja. Dieser waren die Sticheleien schon egal, für sie ihr war alles in Butter, genau, wie sie es haben wollte.
„Die Schweiz ist ein interessantes Land, das aus drei Teilen besteht. In allen drei werden unterschiedliche Sprachen gesprochen.
In Zürich zum Beispiel spricht man Deutsch. Sie haben dort ein kompliziertes System. Die Mädchen sollen splitternackt sein, sogar ohne Slips, praktisch während der ganzen Show.
In Genf, das im französischen Teil liegt, werden am Ende des Liedes die Bikinis ausgezogen.
In Lugano, wo die italienische Sprache vorherrscht, soll der Slip gar nicht ausgezogen werden. Man zeigt sich nur oben ohne. Aber auch das nicht unbedingt.“
„Wie werden denn dann in Lugano die Kunden ins Lokal gelockt?“
„Dort arbeiten im Klub Balletts aus Charkow, je dreißig Tänzerinnen in einer Truppe. Mit ihren schicken Shows bezaubern sie die Italiener, die einen Flirt und ausgiebiges Vorspiel mögen. Sie haben keine Lust, mit kalter Miene auf nackte Weiber zu starren und dabei keine Emotionen zu zeigen, wie es im deutschen Teil der Fall ist.“