»Nein. Natürlich nicht«, räumte sein Stellvertreter ein. »Aber wenn ein Korsar den Angriff auf die Flotte leitet, wird das ein Massaker, aus dem wir kaum einen Vorteil ziehen werden.« Er deutete auf die Galeone, die nicht weit vor Anker lag. »Wenn allerdings De Graaf der Anführer ist, können wir darüber nachdenken. Er ist schlau, und Gold interessiert ihn mehr als Blutvergießen.«
»Kennst du ihn?«
Lucas Castano machte eine Geste, als wolle er nicht zuviel verraten.
»Ich habe mal mit ihm gesprochen. Der Alte schätzte ihn, und sie haben sich oft gemeinsam betrunken.«
»Ich kann es nicht glauben, daß ihr Pläne schmiedet, die Flotte anzugreifen oder mit dem Abschaum der Welt gemeinsame Sache zu machen«, warf Miguel Heredia unvermittelt ein. Es mußte ihm sehr unangenehm sein, dem Sohn offen entgegenzutreten. »Bist du dir im klaren, wohin dich das führen kann?«
»Daß ich ein richtiger Pirat werde, Vater. Das haben wir doch schon diskutiert«, lautete die säuerliche Antwort. »Du mußt das ein für allemal begreifen: Was ich mache, mache ich richtig. Schau dich doch um! Abgesehen von diesen vier Zuckerschonern siehst du hier nur Piratenschiffe. Wir können nur mit den Wölfen heulen.«
»In diesem Fall sollten wir fortsegeln…« murmelte Celeste.
»Wohin denn?« fragte ihr Bruder. »Martinique ist mehr oder weniger das gleiche auf französisch. Tortuga ist bloß noch eine Ruine, ein armseliges Banditennest, und überall sonst flattert die spanische Fahne, was heißt, daß man uns dort jeden Augenblick aufhängen könnte.« Er tätschelte zärtlich ihre Hand. »Wohin also sollen wir segeln, Kleine? Gib mir einen Tip, und ich verspreche dir, darüber nachzudenken.«
Der junge Kapitän der Jacare hatte natürlich recht. Wenn sie alle den Rest ihres Lebens in der Neuen Welt verbringen wollten, gab es nicht viele Orte, an denen nicht eines schönen Morgens der Galgen auf sie wartete.
Wenn sich ein neuer Nachbar in irgendeiner spanischen Besitzung in Übersee niederließ, dann holte die Casa de Contratación von Sevilla erst einmal Informationen über Vorfahren und Herkunftsort ein und verglich diese Daten mit denen ihres zentralen Archivs. Auf diese Weise konnte sie auch noch den letzten Einwohner der Kolonien kontrollieren.
Ohne Erlaubnis mit Unterschrift und Stempel eines Beamten der Casa war es einem Bürger fast unmöglich, von einem auch nur einigermaßen zivilisierten Ort an den anderen umzuziehen.
Es war nur zu gut bekannt, daß die Zeit, der Eifer und die bemerkenswerte Anstrengung, welche die Spanier in Westindien aufbrachten, um sich vor möglichen inneren Feinden zu »verteidigen«, nichts mit der Gleichgültigkeit gemein hatte, mit der man, wenn es darauf ankam, äußere Feinde bekämpfte. Die spanischen Richter schienen unendlich viel glücklicher dabei zu sein, einen elenden Hühnerdieb einzusperren, statt einen brutalen Freibeuter aufzuhängen, der eine Galeone voller Schätze versenkt hatte.
Dieser Widersinn lag vielleicht in der Tatsache begründet, daß besagte Richter offenbar die nicht so abwegige Meinung vertraten, daß die Bestrafung eines Hühnerdiebs andere Hühnerdiebe abschrecken würde, während ein Freibeuter, den man aufknüpfte, nicht verhinderte, daß neue Piraten neue Schiffe versenkten.
Eine attraktive junge Frau, die das unverzeihliche Verbrechen begangen hatte, sich mit über zweitausend Perlen der Casa aus dem Staub zu machen, hatte daher keinerlei Chance, irgendwo in den riesigen, von der Casa kontrollierten Territorien unbemerkt zu bleiben. Sich anderswo als auf Barbados oder Jamaika niederzulassen war daher ein unmöglicher Traum.
»Niemand von uns hätte sich je vorstellen können, Flüchtling vor dem Gesetz zu werden«, bemerkte Sebastian in der gleichen Nacht beim Abendessen, als die Musiker des Nachbarschiffs eine ihrer kurzen Pausen einlegten. »Doch genau das sind wir jetzt, und je früher wir uns damit abfinden, um so besser.«
Celeste setzte behutsam den Silberpokal ab, aus dem sie gerade trank und auf dem der Totenkopf und das Krokodil eingraviert waren, musterte ihren Bruder verwirrend lange und wollte schließlich wissen:
»Sag mir eins, und sei bitte ehrlich: Warst du schon entschlossen, ein Pirat zu werden, bevor wir uns wiedergesehen haben?«
»Natürlich! Eigentlich war ich es schon.«
»Und könnte meine Anwesenheit dazu beitragen, daß du dieses Geschäft eines Tages aufgibst?«
»Wahrscheinlich.« Der Junge deutete auf seinen Vater. »Jetzt habe ich zwei gute Gründe, mich zurückzuziehen, wenn ich genug Geld zusammen habe.«
»Gut!« sagte das Mädchen. »In diesem Fall denke ich, daß du recht hast und wir nicht mehr darüber sprechen sollten.« Sie blickte ihren Vater von der Seite an. »Unsere Aufgabe wird sein, dir den Aufenthalt an Land so angenehm zu gestalten, daß du die Lust verlierst, wieder in See zu stechen.« Sie hob den Pokal: »Auf den jüngsten Piratenkapitän der Geschichte!«
Lucas Castano unterbrach sie.
»Mach lieber den gerissensten daraus. Der jüngste Kapitän in der Geschichte war Mombars.«
»Der Todesengel?« fragte Sebastian überrascht.
»Genau der«, bestätigte der Panamese. »Mit achtzehn Jahren gehörte ihm schon ein Schiff, und er hatte höchstpersönlich über vierzig Menschen umgebracht. Schon damals war er ein Monster, mit buschigen pechschwarzen Augenbrauen und langem, braunem Kraushaar. Er sah aus wie ein Dämon aus der Unterwelt. Er trank nicht, spielte nicht, und auch Frauen rührte er nicht an. Seine Besatzung bestand fast ausschließlich aus den wildesten Indios der Region. Sein größtes Vergnügen bestand darin, einen Gefangenen aufzuschlitzen und seine Eingeweide an einen Baum zu nageln. Dann mußte der Mann losrennen, während sich seine Gedärme entrollten wie eine Schlange.«
»Gütiger Gott!« entsetzte sich das Mädchen und stellte den Pokal erneut mit zitternder Hand auf das Tischtuch. »Solche Menschen kann es doch nicht geben!«
»Und ob es die gibt!« beharrte der Panamese. »Genau so ist Mombars. Und L’Olonnois steht ihm in nicht viel nach. Beide sind sie verrückt, aber der Todesengel schießt den Vogel ab.«
»Gestern nacht hat mir eine Dirne vorgeschlagen, auf seinem Schiff anzuheuern.«
Lucas Castano schaute ihn ungläubig an:
»Soweit ich weiß, hat er sich an einen geheimen Ort zurückgezogen. Es geht sogar das Gerücht um, daß die Wilden ihn gefressen haben. So ist es L’Olonnois auf der Insel Baru ergangen. Bist du sicher, daß sie Mombars gemeint hat?«
»Das hat sie. Offensichtlich braucht er einen guten Navigator und ist bereit, dafür ein Vermögen auszugeben.«
»Das trifft sich nicht schlecht«, räumte der Panamese nachdenklich ein. »Mombars’ Problem ist immer die Navigation gewesen. Weder er noch seine verdammten Wilden haben auch nur einen Schimmer, wie man eine Seekarte liest.« Fast flüsternd, als fürchtete er, daß ihn jemand hören könnte, fuhr er fort: »Da geht es ihm wie L’Olonnois. Der hat im Lauf seines Lebens nicht weniger als vier Schiffbrüche erlitten und dabei zahlreiche Männer und viele Millionen verloren. Macht eigentlich Sinn: Wenn Mombars sich dazu entschließt, sein Versteck zu verlassen und wieder aktiv zu werden, dann braucht er zunächst mal einen guten Navigator. Und wenn er einen braucht, dann ist Port-Royal der beste Ort, um einen zu finden. Das wäre ja phantastisch!«
»Was ist daran phantastisch, wenn er so ein sadistischer Mörder ist, wie du sagst?« wollte Celeste Heredia ein wenig verwirrt wissen.
Lucas Castano blickte sie an, als ob er sie nicht gehört hätte. Sein Geist war weit weg, in irgendeine Idee vertieft, die ihm fortwährend im Kopf herumging, und als er schließlich in die Wirklichkeit zurückkehrte, schenkte er ihr ein seltsames Lächeln.
»Entschuldige! Ich war mit den Gedanken ganz woanders!«
Er nahm einen tiefen Schluck, bevor er im gleichen vertraulichen Ton fortfuhr: »Phantastisch daran ist, daß Mombars nur ans Töten, Foltern und Verstümmeln denkt. Daher hat er niemals auch nur einen Heller seines Beuteanteils verschleudert. Es heißt, daß der Ballast seines Schiffs aus peruanischen Silberbarren besteht. Trompeten, Boiler, Geschirr und Türgriffe sollen sogar aus purem Gold sein. Leute, die an Bord gewesen sind, beteuern, daß die Ira de Dios in Wahrheit ein schwimmender Märchenpalast ist.«