»Aus Büchern.«
»Aus Büchern?« versetzte der arme Junge ungläubig. »Ich hätte nie gedacht, daß es Bücher gibt, in denen so etwas steht.«
»Doch, die gibt es sehr wohl. In allen Ländern und in allen Sprachen«, entgegnete sie belustigt. »Doch die galante Literatur des Orients über die Kunst der Liebe ist die beste und lehrreichste«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und die einzige, die niemals aus der Mode kommt. Zeiten, Kulturen und Könige wechseln sich ab, aber die Methode, wie ich es schaffe, daß >er< auf mein Streicheln reagiert und mich stundenlang glücklich macht, die ändert sich nie.«
»Und hast du viele solche Bücher?«
»Ganze Regale voll.«
Auf diese Weise verbrachten sie die ganze Nacht, den folgenden Tag und die folgende Nacht. Als erneut der Morgen graute, gingen Sebastian und Raquel, die jetzt das einfache Kleid einer Bäuerin trug, zum Hafen hinunter und bestiegen die Schaluppe. Als sie die Hafenausfahrt erreichten, wurde gerade die Kette eingezogen, damit die ersten Schiffe die Bucht verlassen konnten.
Unmittelbar darauf nahmen sie Kurs nach Süden und fuhren ohne Eile in Richtung der Islas del Rosario, getrieben von der gleichen Landbrise, die auch zwei Tage zuvor geweht hatte.
Drei Stunden später versicherte sich der Margariteno, daß kein Segel am Horizont zu sehen war, ging Backbord und steuerte direkt auf die große Insel Barú zu. Zwanzig Meter vor einem winzigen Strand mit Palmen und Mangroven ging er schließlich vor Anker.
Kurz darauf tauchte Kapitän Jack aus dem Dickicht auf und winkte fröhlich mit der Hand.
»Keine Gefahr!« rief er.
Als der Bug der Schaluppe auf Sand stieß, zog Raquel Toledo aus einer schweren Tasche, die sie bei sich hatte, eine riesige Pistole, und während sie auf den Kapitän zielte, bedeutete sie Sebastian mit überraschender Kälte:
»Sobald ich einen Fuß an Land setze, stichst du wieder in See, und denk dran, wenn sich irgend jemand nähert, schieß ich den Kopf deines geliebten Kapitäns in Stücke. Alles klar?«
Da Sebastian bereits nichts mehr überraschen konnte, was diese verwirrende Frau tat oder sagte, beließ er es bei einem leichten Nicken. Die Frau sprang aus dem Boot und näherte sich mit Pistole in der einen und Tasche in der anderen Hand dem wartenden Schotten.
Als die Jüdin ihn erreicht hatte, befahl sie ihm lakonisch:
»Entkleidet Euch!«
»Ich soll mich ausziehen?« gab sich ihr Gegenüber schockiert. »Hier?«
»Die Affen werden sich nicht erschrecken. Und ich auch nicht«, lautete die barsche Antwort. »So verlieren wir keine Zeit.«
Mit einer Frau, die offenbar das Befehlen noch mehr gewohnt war als der Kapitän der Jacare selbst, war das Diskutieren völlig zwecklos, daher zögerte er nur einige Sekunden, bevor er gehorchte, und kurze Zeit darauf stand er am Strand, wie Gott ihn erschaffen hatte.
Ohne die Waffe einzustecken, ging Raquel um ihn herum und studierte aufs Genaueste jede einzelne Wunde.
Schließlich holte sie aus ihrer riesigen Tasche ein scharfes Stilett, öffnete eine der Wunden und füllte Eiter und Würmer in ein kleines Metallkästchen.
»Ihr könnt Euch wieder ankleiden«, bedeutete sie ihm, während sie im Schatten einer Palme Platz nahm und die wimmelnden ekligen Tierchen aus der Nähe betrachtete.
Wenig später hockte sich ein übellauniger Kapitän Jack mit gesenktem Kopf neben die Jüdin.
»Was haltet Ihr davon?« wollte er wissen.
»Daß Ihr Glück habt, überhaupt noch am Leben zu sein. Aber wenn Ihr weiter in diesen Breiten verweilt, wird Euch dieses Glück bald verlassen.« Sie blickte auf und sah ihm ins Gesicht.
»Meiner Meinung nach gibt es nur ein Heilmittel: ein kaltes Klima. In dieser feuchten Hitze, bei diesen Insekten, ist nichts zu machen.«
»Seid Ihr sicher?«
»Absolut! Die Infektion ist bereits zu weit fortgeschritten, um ganz sicherzugehen, doch ist das zweifellos der beste Rat, den ich Euch geben kann. Ich habe Euch eine Salbe mitgebracht, die Eure Schmerzen lindern wird, doch gegen die Würmer müßte ich Euch ein Gift verabreichen, das Euch schließlich umbringen würde.«
»Verlangt Ihr von mir, daß ich alles aufgebe?«
»Ich verlange überhaupt nichts von Euch«, gab Raquel Toledo mit jenem Nachdruck und Gleichmut zurück, die sie so unnahbar erscheinen ließen. »Ich gebe Euch lediglich einen Rat, der auf vielen Jahren Erfahrung beruht. Wenn Ihr in Westindien bleibt, werdet Ihr keine zwei Monate mehr leben, das dürft Ihr mir glauben. Alles andere ist Eure Sache.«
Lange Zeit betrachtete der Kapitän geradezu mit besessener Aufmerksamkeit die riesige Wunde, die sich fast über seinen gesamten linken Unterarm ausbreitete, und schließlich erhob er sich und lehnte sich gegen den Stamm einer Palme.
»Ihr habt Euch als sehr mutige Frau erwiesen«, murmelte er schließlich. »Nicht nur, daß Ihr es gewagt habt, hierherzukommen, sondern auch, daß Ihr die Dinge so unverblümt beim Namen nennt, obwohl Ihr wißt, daß Ihr es mit einem Piratenkapitän zu tun habt.«
»Könige, Piraten oder Bettler, wenn sie krank werden, sind sie nur noch Patienten, und als solche behandle ich sie alle gleich.« Sie lächelte, und es war ein warmes, mitfühlendes und in gewisser Weise beruhigendes Lächeln. »Ich möchte Euch keine falschen Hoffnungen machen. Doch ich bin davon überzeugt, wenn Ihr nach Europa zurückkehrt, habt Ihr gute Aussichten, alt zu werden.«
»Was haltet Ihr von Schottland?«
»Ich bin nie dort gewesen, doch scheint mir das ein sehr geeigneter Ort zu sein.«
Kapitän Jack löste einen schweren Beutel aus seinem Gürtel und setzte ihn vor ihr ab.
»Das ist der Lohn für Euren Mut. Die Perlen sind für die Konsultation.« Er ging zum Wasser hinunter, gab Sebastián einen Wink, näher zu kommen, und als dieser ihn ohne weiteres verstehen konnte, bedeutete er ihm: »Bring die Senora nach Hause, und genieße die nächsten zwei Nächte, so gut du kannst. Nur zwei Nächte!«
Der Junge grinste von einem Ohr zum anderen.
»Länger halt ich es auch nicht aus.«
Wenige Tage, nachdem Sebastian an Bord zurückgekehrt war, ließ Kapitän Jack ihn erneut in seine Kajüte rufen, und kaum waren sie allein, kam er ohne Umschweife zur Sache:
»Wie viele Perlen hast du?«
»Ich habe keine Ahnung«, gab der verblüffte Junge in aller Ehrlichkeit zu.
»Aber ich. Mit deinem Anteil an der Beute und dem, was du mir abgeluchst hast, müßten dir wenigstens fünfhundert geblieben sein. Stimmt’s?«
Der Margariteno überlegte eine Weile, zögerte kurz und nickte leicht.
»Kann sein.«
Kapitän Jack musterte ihn lange, als wolle er noch einmal über etwas nachdenken, worüber er sich schon lange den Kopf zerbrochen hatte. Die folgenden Worte schienen ihm unendlich schwerzufallen.
»Für diesen Preis verkaufe ich dir das Schiff.«
»Die Jacare…?« fragte Sebastian Heredia verdattert.
»Die Jacare, mit Besatzung und Fahne«, lautete die entschlossene Antwort. »Ich kenne dich gut und bin überzeugt, daß du sie in meinem Sinne führen und nicht entehren wirst.« Er machte eine Pause, um zähneknirschend einen Schmerzenslaut zu unterdrücken, und lächelte schließlich gequält. »In diesen Zeiten ist es nicht leicht, sich einen Namen zu machen, auch als Pirat nicht, daher rate ich dir, wenn du das Schiff haben willst, auch meinen Namen und meine Flagge zu übernehmen. Das wird dir Probleme ersparen.«
»Ich habe mir niemals vorgestellt, mein ganzes Leben lang Pirat zu bleiben. Eigentlich wollte ich Lehrer werden.«
»Was du lehren könntest, paßt in das Loch dieses Zahns«, gab der Schotte mit grausamer Ironie zurück. »Außerdem heißt es in diesem Metier: >Einmal Pirat, immer Pirat<. Das kann man nicht wie ein altes Paar Stiefel hinter sich lassen.«
»Warum wollt Ihr dann Schluß machen?«
»Weil mir keine Wahl bleibt. Gut, ich habe zwar schon gesagt, daß du dich besser zur Ruhe setzt, bevor sie dir den Hals langziehen, doch ein Jahr unter eigener Flagge ist besser als zehn unter der des Königs…« Der Glatzkopf stieß einen tiefen Seufzer der Resignation aus. »Es wird mir abgehen, dieses Leben. Doch seit einiger Zeit ist es kein Leben mehr, und die Jüdin hat sicher recht, daß nur ein kühles Klima diese widerlichen Biester umbringt.« Er spuckte aus und fuhr beinahe aggressiv fort: »Was hältst du von meinem Vorschlag?«