»Alle Kanonen nach Backbord«, befahl der Glatzkopf, während er mit absoluter Gelassenheit den Rotz hochzog. »Hundert Mal haben wir das schon geübt, doch vergeßt mir keinen Augenblick lang, daß wir ihnen nur eine einzige Breitseite verpassen können. Wenn wir sie nicht voll erwischen, können wir wieder Fersengeld geben!«
»Schwarze Segel?« wollte sofort der Hauptgast wissen.
»Später«, entgegnete der Kapitän. »Jetzt müssen wir erst mal schnelle Fahrt machen, und mit den weißen Segeln geht das besser.«
Vier Stunden später holte man Groß- und Besansegel ein, um Teersegel zu setzen, ohne daß die Jacare entscheidend an Fahrt einbüßte. Sie steuerte einen Kurs parallel zu dem, den die Vendaval ursprünglich verfolgt hatte, mit dem Ziel, den Gegner zu überholen. Schließlich war das Piratenschiff vom Kiel bis zum Mastkorb auf Schnelligkeit getrimmt.
Im Schutz der Dunkelheit, die über die Karibische See hereingebrochen war, war der blaue Rumpf der Jacare, auf der kein Licht brannte, nur ein Schatten in der Finsternis. Selbst aus einer Entfernung von weniger als 200 Metern hätte sie nicht einmal ein Ausguck mit Adleraugen entdeckt.
Gleichzeitig hatte man fast alle Steuerbordkanonen um 180 Grad gedreht und ihre Lafetten so weit erhöht, daß man einen guten Meter über Deck, zwischen Tauen und Masten hindurch, über die Backbordreling feuern konnte. Auf diese Weise verdoppelte man die Feuerkraft auf einer Seite, ließ allerdings die andere inzwischen ungeschützt.
Doch der erfahrene Kapitän Jack wußte genau, was er tat.
Nach Mitternacht hatte man den Berechnungen des Kapitäns zufolge genügend Vorsprung vor der Galeone erreicht. Nun änderte er den Kurs um 90 Grad. Sein Ziel war es, dem Gegner den Weg abzuschneiden und dessen Ankunft abzuwarten.
Um drei Uhr morgens betrachtete er den Himmel, schien die Luft zu prüfen und befahl dann, Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Schiff verlor an Fahrt, bis es fast bewegungslos verharrte. Schließlich ließ er alle restlichen Segel einholen. Lediglich das Teersegel blieb gesetzt, mit dem sich die gefügige Jacare problemlos manövrieren ließ.
»Wie ein lauerndes Krokodil.«
Mit wachen Augen und gespitzten Ohren, die auf jedes kleinste Geräusch achteten, das nicht von Meer und Wind verursacht wurde, legten sich alle bis zum philippinischen Koch und seinen jungen Küchengehilfen auf die Lauer. Ihr erfahrener Kapitän, darauf vertraute die gesamte Mannschaft, hatte den Kurs der Galeone genau berechnet, die so töricht gewesen war, sich auf offener See mit der legendären Jacare anzulegen.
Verblüfft stellte Sebastián fest, daß seine Gefährten kaum Nervosität zeigten, sondern fröhlich und voller Zuversicht waren, als wäre die Tatsache, daß sie es in wenigen Augenblicken mit einem Schiff aufnehmen würden, das sie in eine Falle hatte locken wollen und ihnen an Feuerkraft weit überlegen war, nur eine nette Anekdote, die sie eines Tages ihren Enkeln erzählen würden.
Die schwarze Nacht, in der nur eine schmale Mondsichel den Sternen Gesellschaft leisten wollte, jagte ihnen ebenfalls keine Angst ein. Trotz des ausdrücklichen Befehls, sich absolut ruhig zu verhalten, war der eine oder andere geflüsterte Witz zu hören, und ein Pirat leistete sich sogar den Luxus, laut zu schnarchen.
Dann verbreitete es sich auf Deck wie ein Lauffeuer.
Der Feind kam,
»Besan- und Focksegel anziehen! Steuer zwei Grad Steuerbord!«
Lediglich die schweren Teersegel blähten sich im Wind, und trotzdem wurde die Jacare immer schneller. Sie hielt genau auf die weißen Segel zu, die sich kaum von der verschwommenen Linie am Horizont abzeichneten. Jeder Mann nahm seine Gefechtsposten ein. Aus den Ladeluken holte man zwei Dutzend Laternen, deren dicke Hauben dafür sorgten, daß man von weitem keinen Schein sehen konnte.
»Kurze Lunten!« hatte der Kapitän ausdrücklich angeordnet. Wenn die Kanonen feuerten, würde das leichte Schiff bis zum Mastkorb erzittern. Die Marsgaste mußten sich daher mit aller Kraft an die Taue klammern, um nicht ins Meer geschleudert zu werden.
Arrogant und schweigsam setzte die völlig ahnungslose Vendaval ihren Kurs fort. Der Küstensegler steuerte auf sie zu, um sie im Windschatten zu überholen.
Eine Frage von Minuten.
Nicht einmal eine Viertelmeile trennte die beiden Schiffe noch. Hätte die Galeone ihren Kurs nur um ein Grad Backbord geändert, wäre es fast unweigerlich zum Zusammenstoß gekommen, bei dem das leichte Piratenschiff sicherlich im Nachteil gewesen wäre.
Doch an Bord der Galeone hatte niemand auch nur den Hauch einer Chance, die Gefahr zu erkennen, die da auf sie zukam.
Kein Schiff.
Nur ein Schatten in der Dunkelheit.
Schote lockern, gab man im Flüsterton weiter. Darauf drosselte der Segler seine Fahrt etwas und fiel in die horizontale Lage zurück. In diesem Augenblick drückte Lucas Castano Sebastián etwas Werg in die Hand und flüsterte:
»Stopf dir die Ohren zu.«
Der Junge gehorchte sofort, denn die Galeone war schon fast auf gleicher Höhe, und wenige Augenblicke später donnerte die Stimme von Kapitän Jack:
»Feuer!!!«
Man nahm die Hauben von den Laternen, zündete die Lunten, und während sie vor der Backbordseite der Vendaval kreuzten, spuckten die Kanonen eine nach der anderen ihre tödliche Ladung aus und ließen alle Spanten und Planken erzittern.
Der beißende Rauch vernebelte einige Augenblicke lang den Blick auf das feindliche Schiff, doch als er sich allmählich verzog, konnte man im Schein der an Bord entfesselten Brände erkennen, daß die schwere Galeone abgefallen war und ihr Besanmast krachend ins Meer stürzte. »Schote anziehen, alle Segel setzen und Steuer hart Backbord!«
In aller Eile entfernte sich die Jacare vom Schlachtort, doch die Besatzung stieß sofort Jubelschreie aus, als sie sah, wie die Flammen die umfangreiche Takelage der Vendaval ergriffen, die sofort beigedreht hatte, während die verstörte Besatzung allerorts versuchte, Schäden zu reparieren und Brände zu löschen.
»Wenn ihre Pulverkammer nicht in zehn Minuten hochgeht, gehören sie uns«, stellte Lucas Castano klar.
Im sicheren Abstand von zwei Meilen kreiste die Jacare um Ihre Beute, die jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte, doch trotz der gewaltigen Packung, die ihr der Feind verpaßt hatte, konnte die Besatzung der Galeone das Feuer löschen. Eine halbe Stunde später lag die Karibik wieder in tiefer Dunkelheit.
»Was nun?« wollte Sebastián wissen.
»Abwarten.«
Bis zum Morgengrauen war noch eine Stunde Zeit, daher begab sich Sebastian unter Deck, wo sein Vater fast die ganze Nacht über verbracht hatte. Abwesend wie üblich hatte er die Schlacht nicht zur Kenntnis genommen, die sich über seinem Kopf abgespielt hatte.
»Wir haben gewonnen«, war das erste, was Sebastián sagte.
»Jemand hat verloren«, lautete die lakonische Antwort seines Vaters.
»Sie haben uns angegriffen.«
»Die Piraten sind wir.«
»Und wenn sie uns versenkt hätten?«
»Wäre schade um dich gewesen.«
Mit der Jacare unterzugehen hätte für Miguel Heredia Ximénez ganz offensichtlich nur das Ende seiner Leiden bedeutet. In Wahrheit war es ihm völlig gleichgültig, ob eine Schlacht, von der er ohnehin wußte, daß sie ihm seine Familie nicht zurückbrachte, gewonnen oder verloren wurde.
Schweigend blieb Sebastián neben seinem Vater sitzen, bis dieser den Kopf wieder auf das Kissen legte, die Augen schloß und bald gleichmäßige Atemzüge vernehmen ließ. Als der Junge an Deck zurückkehrte, war Backbord das erste Tageslicht zu erkennen.
Grau und ruhig war das Meer, sanfter Nieselregen fiel von einem bedeckten Himmel, und in der Ferne trieb eine schmutzige Galeone wie ein rauchgeschwärzter Korken manövrierunfähig auf dem Wasser.
Die Masten schienen verbrannt, kein Mastbaum war mehr an Ort und Stelle, und die einst schmucken Segel waren nur noch düstere Fetzen.
Noch einmal umkreiste die Jacare wie ein Raubvogel ihre todgeweihte Beute, dann ließ Kapitän Jack einen Warnschuß abfeuern.