Der Albatros watschelte über das Deck und schien die Mariposa zu begutachten. Er ging um die Kajüte herum und zuckte zurück, als er dort einen Flamingo vorfand, in dessen Rückengefieder sich eine Ratte zu einem Nickerchen zusammengerollt hatte. Schließlich setzte er sich ordentlich auf eine der Bänke und steckte den Schnabel unter einen Flügel.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Jonathan. »Er ruht sich bloß ein wenig aus. Wenn er wieder aufwacht, fliegt er weiter zum Festland, nach Ecuador.«
José nickte, und Jonathan wollte den Fisch weiter ausnehmen, aber da war kein Fisch mehr. Oskar machte ein sattes und sehr scheinheiliges Gesicht. Jonathan seufzte. Schließlich lag ein zweiter Fisch ausgenommen in der Pfanne.
»Lange reicht das Gas nicht mehr«, sagte José. »Demnächst haben wir die Wahl zwischen rohem Fisch und kalter Dosensuppe.«
In diesem Moment erwachte der Albatros. Er reckte den Kopf, kam etwas unsicher auf die Beine und trippelte auf der Bank nach vorn, um den Fisch zu begutachten, der in kleinen Stückchen in der Pfanne briet, da er im Ganzen nicht hineingepasst hatte. Eine Weile schien der Albatros zu überlegen, dann schnellte sein Schnabel vor – er schnappte sich ein Stück Fisch aus der Pfanne und verschlang es, schnappte das nächste, das übernächste – und hinterließ die Pfanne leer.
»Hey!«, rief Jonathan, viel zu spät.
»Verfluchtes Mistvieh!«, schrie José. Der Albatros brauchte zwei Anläufe, um auf das Kajütendach zu fliehen. Sein Körper war einfach zu massig für elegant dahingeflatterte Hüpfer.
»Mach, dass du hier wegkommst!«, rief José. »Sonst gibt es zum Abendessen Albatrosflügel!«
Der Albatros breitete die langen, schmalen Flügel aus …
»Er nimmt Anlauf!«, flüsterte Jonathan. »Gleich fliegt er los. Sie brauchen etwas wie eine Klippe zum Losfliegen, oder starken Aufwind. Meine Mutter hat uns das vorgelesen.«
Da hielt der Albatros an, drehte sich um und legte den Kopf schief. Er sah auf einmal besorgt aus – ganz so, als hätte er Jonathans Worte verstanden. Ich brauche eine Klippe?, schienen seine Knopfaugen zu sagen. Oder Aufwind? Aber … aber dann kann ich ja gar nicht losfliegen! Immerhin, vor ihm lag die ganze Länge des Dachs als Startbahn. Er rannte auf seinen großen grauen Füßen los, erreichte das Ende des Kajütendachs, warf sich in die Luft – und landete unsanft einen halben Meter weiter unten im Bug der Mariposa. Resigniert watschelte er zurück nach vorn, hopste wieder auf das Dach, nahm wieder Anlauf – umsonst.
»Er schafft es nicht«, sagte Jonathan. »Er braucht eine längere Bahn.«
»Dann bau ihm eine«, knurrte José. »Ich werde keinen Albatros durchfüttern.«
Jonathan hob hilflos die Arme und merkte, wie ein Lachen in ihm aufstieg. Er unterdrückte es mit aller Gewalt. »Ich fürchte«, sagte er, »wir haben einen Albatros.«
»Ich hätte lieber Läuse«, murmelte José. »Bis nach Isabela nehmen wir ihn mit, da kann er sich an Land eine blöde Klippe suchen.«
»Isabela?«, fragte Jonathan. »Ich dachte, wir segeln nach Marchena und von da aus zu deiner verfluchten Insel.«
»Das meine ich ja«, sagte José. »Ich meine: Bis nach Marchena nehmen wir ihn mit.«
»Nein«, flüsterte Jonathan, »das meinst du nicht. Gib es endlich zu, José. Der Kompass ist nicht kaputt und der Wind hat nicht gedreht und wir segeln nach Isabela zurück. Warum?«
José schwieg. Er machte ein gequältes Gesicht, als würde er gern reden, statt zu schweigen, aber er biss die Zähne zusammen und sah voraus, zum Horizont.
Und auf einmal kam Jonathan ein furchtbarer Verdacht. Isabela war die größte Insel. Auf Isabela gab es Behörden. Was, wenn José doch wusste, dass er ein Deutscher war? Wenn er in den letzten Tagen nur so freundlich getan hatte? Wenn er vorhatte, ihn auf Isabela jemandem zu übergeben, der ihn zurück nach Deutschland schickte? Oder Schlimmeres?
»Willst du dem Albatros nicht einen Namen geben?«, fragte José.
»Kurt«, sagte Jonathan.
»Wie bitte?«
»Kurt. So hieß mein Vater. Er ist auch geflogen. Wie der Albatros. Als er über Frankreich abgeschossen wurde, saß er in einem Aufklärungsflugzeug.«
Ihm fiel zu spät ein, dass Kurt ein durch und durch deutscher Name war.
»Von mir aus«, sagte José. »Kurt. Hör mal, Kurt, könntest du aufhören, meinen Ärmel zu essen? Das ist kein Fisch.«
An diesem Abend war das Meer ruhig. Trügerisch ruhig. Der Wind schob eine dunkle Wolkenwand heran.
»Regen«, sagte José. »Wir könnten Regen gebrauchen.«
Sie stellten die leeren Kanister an Deck bereit, fütterten ihren Zoo und sahen gemeinsam zu, wie die Sonne brennend rot im Meer versank. José griff in seine Tasche und holte zwei ziemlich mitgenommene Zigaretten hervor. Er grinste schief.
»Hab ich unter Deck gefunden«, sagte er. »Der Geist unseres Señor Casaflora muss sie verloren haben.«
Er steckte eine Zigarette an und gab Jonathan die andere.
»Ich … rauche eigentlich nicht«, sagte Jonathan.
»Dann solltest du damit anfangen«, erklärte José voller Überzeugung. »Schau dir den Abend an – die Sonne, die sich im Meer spiegelt … Ein echter Mann kann einen so romantischen Abend nicht ohne Zigarette aushalten. Hier, nimm sie ruhig.«
Jonathan lachte. »Deine Logik ist bestechend«, sagte er. Aber er verstand, dass die Zigarette eine Art Zeichen war: Zusammen zu rauchen hieß für José zusammenzugehören. Freunde zu sein. Hatte Jonathan sich getäuscht, was den Kurswechsel betraf? Plante er doch nicht, ihn auf Isabela an die Behörden zu übergeben? Jonathan zündete seine Zigarette an, die im Abend glühte wie ein Miniatur-Sonnenuntergang. Er inhalierte den Rauch – und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
»Du meine Güte«, sagte José. »Du hast ja wirklich noch nie geraucht. Ganz langsam!«
Jonathan schüttelte sich und zwang sich, noch einmal an der Zigarette zu ziehen. Es war ein scheußliches Gefühl, und er merkte, wie ihm schwindelig wurde.
»Erzähl mal«, sagte er und hielt die Zigarette so, dass sie hoffentlich von selbst ausging, »was gehört noch dazu, ein echter Mann zu sein, hier auf den Inseln?«
José blies einen Rauchkringel und überlegte. »Dass du dein Land bestellen kannst. Ordentlich anpacken. Ich habe eine Menge gearbeitet, zu Hause auf der Farm. Dass du machst, was du für richtig hältst, das gehört auch dazu. Egal, was die anderen sagen. Dass du nicht wegläufst, wenn du Angst hast. Dass du zurückschlagen kannst. Und natürlich die Mädchen.«
»Die Mädchen«, wiederholte Jonathan. »Wie sind sie so hier, auf den Inseln?«
Er sah zu, wie die Asche von der Spitze seiner Zigarette fiel. José hatte aufgehört, darauf zu achten, was er mit der Zigarette tat. Jonathan sah seine dunklen Augen aufleuchten.
»Sie sind … tausend Dinge«, antwortete José. »Schön wie die Flamingos. Stolz wie die Fregattvögel. Würdevoll wie die Pinguine. Verspielt wie die Delfine. Störrisch wie die wilden Esel. Wenn du zu weich bist, machen sie sich lustig über dich. Sie machen sich gern lustig. Sie tun, als wären sie schüchtern, verstecken ihre Beinen in tausend Unterröcken … und wenn du an ihnen vorbeigehst, dann richten sie es so ein, dass die Röcke ein wenig hochrutschen und du ihre Knie siehst. Die Mädchen auf den Inseln haben wunderbare Knie.«
»Knie«, wiederholte Jonathan. »Sind Knie das Äußerste, was du von ihnen zu sehen kriegst?«
»Na ja …«, sagte José. »Einmal, im Stall, da hab ich meinen Bruder mit einer beobachtet. Maria. Sie hat eine Weile auf der Farm geholfen. Dios! An der waren die Knie das Langweiligste. Die hatte Brüste, von denen kannst du nur träumen! Sie stand ganz nackt da, mitten im Stall, zwischen unseren Pferden, wie auf einem Bild. Und dann hat sie sich hingekniet, da ins Stroh …« Er verstummte.
»Und weiter?«
»Dann hat mein Bruder mich entdeckt und rausgeschmissen.« Er seufzte. »Er hat mir Prügel angedroht, wenn ich was sage. Mir braucht man nicht zu drohen. Ein echter Mann kann seinen Mund halten.« Er wandte den Kopf und sah Jonathan an. »Hast du schon mal eine geküsst? In Europa?«, fragte er.