Jonathan träumte wieder von Hamburg. Der Flieder blühte, weiß und violett, und die Luft war schwer vom Duft. In der Küche lag auf dem Tisch ein Brief, und in diesem Brief stand, dass sein Vater nicht aus Frankreich zurückkommen würde. Der Briefumschlag war ein Sarg aus Papier. Er lag schon seit mehreren Wochen auf dem Küchentisch. Weder Julia noch er wagten, ihn von dort wegzunehmen. Sie stellten die Teller drum herum, als bemerkten sie ihn nicht. Mama musste den Brief wegnehmen.
Im Traum lief Jonathan die Treppe hinauf, er kam von der Schule. Er wusste, er würde in eine stille Wohnung kommen, still und schwarz … Aber als er die Tür öffnete, hörte er Mama singen. Sie sang beim Kochen. Julia stand auf einem Stuhl neben ihr und half ihr. Kochen. Und singen. Der Brief lag nicht mehr auf dem Küchentisch.
»Ist etwas … passiert?«, erkundigte sich Jonathan vorsichtig und stellte seine Schultasche ab.
»Ja«, antwortete Mama, drehte sich um und lächelte ihn an. »Wir leben weiter.«
Sie trug Papas alte karierte Schiebermütze, obwohl es doch drinnen in der Küche Unsinn war, eine Mütze zu tragen. Die Mütze sah ziemlich mitgenommen aus, aber es tat gut, sie zu sehen. Jonathan hatte aus irgendeinem Grund gedacht, Papa hätte die Mütze mitgenommen. Aber natürlich hatte er eine Uniform getragen, da draußen.
»Wir leben weiter«, sagte Jonathan und begann den Tisch zu decken. »Ach so.«
Er schlug die Augen auf und lag einen Moment ganz still. Es war ein so schöner Traum gewesen. Eine so schöne Erinnerung. Er wünschte, er hätte nur diese eine, einzige Erinnerung behalten können und alle anderen vergessen.
Auch die Erinnerung an den letzten Tag. An Josés Griff. Was wusste José? War er irgendwie doch dahintergekommen, dass Jonathan nicht aus London stammte? Aber wieso glaubte er, Jonathan hätte sein Gewehr beseitigt? Er spürte die Stellen an seinen Armen noch, wo er ihn gepackt und zu Boden gedrückt hatte. Sie taten weh. Aber tief in ihm tat etwas noch viel mehr weh. Und das war die Kälte in Josés Stimme gewesen. Er hatte gedacht, sie wären Freunde geworden. Er hatte sich getäuscht.
Als er an Deck kam, hatte José Kaffee gekocht.
»Guten Morgen«, sagte er. Jonathan nickte nur und nahm die Blechtasse, die José ihm hinhielt. Oskar und Eduardo waren bereits mit einer weiteren Dose Suppe beschäftigt und Carmen saß auf den Hinterpfoten und ließ sich von José mit Brotstückchen füttern.
»Ich habe noch ein Brot gefunden«, sagte José. »Eingeschweißt.«
»Hm«, sagte Jonathan.
»Jonathan, wegen gestern …« José sah ihn an. In seiner Stimme war keine Kälte mehr. »Ich habe mich getäuscht.«
Er streckte die Hand aus und Jonathan wich zurück. Dann zwang er sich, sitzen zu bleiben. José schob einen seiner Ärmel hoch. Man sah seine Fingerabdrücke noch immer als diffuse blaue Flecken.
»Das tut mir leid«, murmelte José.
Jonathan begriff nicht. »Warum?«, fragte er. »Glaubst du auf einmal nicht mehr, dass ich dein Gewehr genommen habe?«
»Ich … habe es gefunden«, sagte José.
Jonathan sah sich um. Aber er konnte die Mauser nirgends entdecken. Und dann fiel sein Blick auf den Kompass. Der Kurs stimmte nicht mehr. Die Mariposa hatte um fast 180 Grad gedreht.
»Wir … wir segeln in die vollkommen falsche Richtung«, sagte er.
José schüttelte den Kopf. »Nein. Der Kompass ist kaputt. Ich bin gestern Nacht ausgerutscht und mit dem Fuß dagegengekommen. Irgendetwas muss sich verstellt haben.«
Jonathan sah am Segel empor. José hatte ihm den Stander erklärt, den kleinen schwarzen Pfeil auf der Mastspitze, der den Wind anzeigte. »Der Wind kam in den letzten Tagen ständig aus Nordosten«, sagte er. »Und jetzt kommt er auf einmal aus Südwesten?«
»Ja«, sagte José.
Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich … ich verstehe ja nichts vom Segeln …«
»Nein«, sagte José und entfernte Carmens Schnauze aus seiner Kaffeetasse. »Aber ich werde es dir beibringen. Wir können keine halben Nächte mehr mit Motor fahren. Wir brauchen das Benzin für Notfälle.« Er warf einen Blick zur Kajüte, als er das sagte, einen merkwürdig wachsamen Blick. Vermutlich lag es daran, dass dort die Benzinkanister lagerten.
Jonathan hatte immer noch ein komisches Gefühl. Aber er war zu erleichtert über Josés Stimmungswandel, um etwas zu sagen. Im Grunde, dachte er, war es egal, wohin sie fuhren. Er wollte nicht zur Isla Maldita, es war José gewesen, der sie unbedingt hatte erreichen wollen. Vielleicht hatte er Angst bekommen. Vielleicht hatte seine Urgroßmutter ihm im Traum zu viel von den toten Piraten erzählt, die dort umgingen. Vielleicht wollte er nur nicht zugeben, dass er umgekehrt war. Nach dem, was Jonathan über die Seekarte wusste, würde der neue Kurs sie zurückführen, an Santiago vorbei diesmal, zur größten der Inseln: Isabela.
Er versuchte sich keine Sorgen zu machen und konzentrierte sich darauf, von José das Segeln zu lernen. Und so verbrachten sie die nächsten Stunden, die nächsten Tage: José erklärte, langsam und ausführlich diesmal, und Jonathan musste alles wiederholen.
Er lernte das Dichtholen und das Auffieren der Segel, er lernte zu wenden und zu halsen. Er lernte, wie man ein Boot in den Wind stellt, sodass er von vorn kam und die Fahrt gestoppt wurde, und wie man es bei starkem Wind mit knatternden Segeln dicht am Wind hielt, um zu viel Krängung zu vermeiden. Er lernte, dass die Krängung die Schräglage des Boots war. Er lernte, dass der Wind von Luv nach Lee wehte und man deshalb beim Pinkeln darauf achten musste, auf der Leeseite zu stehen … aber er zog es ohnehin vor, den Eimer unter Deck zu benutzen. Er lernte und lernte und lernte. Und die Sonne brannte heiß auf sie herunter, und José zog sein Hemd aus und legte es auf seinen Kopf, um keinen Sonnenstich zu bekommen. Jonathan benutzte dazu lieber die alte Schiebermütze.
»Wenn ich anfange, mich auszuziehen, verbrenne ich sofort«, sagte er.
»Ja«, sagte José und lachte, »da hast du wohl recht. Blass wie der Vollmond bist du, blass wie ein Schluck Milch.«
Sie teilten das Wasser in kleine Rationen ein. Der Regen blieb aus. Nur Suppen in Dosen hatten sie genug, und José sagte, sie könnten wohl mitten auf dem Pazifik ein Restaurant eröffnen, dessen Spezialität Krabbensuppe wäre.
»Ja«, sagte Jonathan. »Und dahinten kommen die ersten Kunden.«
An der Horizontlinie hingen jetzt zwei Schiffe fest. Er war sich ziemlich sicher, dass das größere grau war. Die Roosevelt. Das Merkwürdige war, dass die Schiffe nicht näher kamen. Sie folgten der Mariposa wie zwei überdimensionale Privatdetektive, die ab und zu stehen blieben, um unauffällig in ein Schaufenster zu sehen. Nur dass sie nicht unauffällig waren. Auf dem Pazifik, dachte Jonathan, herrschte ein bedenklicher Mangel an Schaufenstern.
»Sie steuern einfach den gleichen Kurs«, sagte José. »Zufällig.«
»Ganz zufällig«, murmelte Jonathan.
Am dritten Tag seit ihrem Aufbruch von Santiago saß Jonathan am Bug und nahm unter Oskars hungrigen Blicken einen Fisch aus – auch das hatte er gelernt –, als etwas aus dem Himmel stürzte. Oskar stieß einen erschrockenen Laut aus und Jonathan duckte sich, dann taumelte das Etwas dicht über sie hinweg und stolperte in einem Wirrwarr aus weißen und dunklen Federn über das Deck.
»Was ist das?«, rief José vom Heck aus beunruhigt.
Das Etwas schüttelte sich. Es war ein Vogel. Ein riesiger weißer Vogel mit einem langen gelben Schnabel. Er stand auf großen grauen Füßen und sah sich um, als suchte er etwas.
»Oje«, sagte Jonathan. »Ein Albatros. Hör mal, Albatros, du bist hier falsch. Noch mehr Leute können wir nicht mit Suppe füttern.«
»Das ist ein Albatros?«, fragte José. »Ich habe noch nie einen gesehen. Es heißt, sie brüten auf Española, einer der südlichen Inseln. Ich glaube, sie fliegen zu Beginn der Regenzeit nach Ecuador. Meinst du, dieser hier hat sich verflogen?«
»Nein«, sagte Jonathan. »Er hat sich verlandet.«