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Am einen Ende der Bank war eine Vertiefung in den Stein geschlagen worden, etwas wie ein flaches Becken. Ein flaches Becken, das das Regenwasser fing. Marit war mit zwei Schritten bei dem Becken und streckte die Hand hinein – es war leer. Vielleicht war Wasser darin gewesen und die Hitze des Tages hatte es verdunsten lassen oder ein Tier hatte es getrunken. Sie ließ sich auf die Bank fallen. Es war, als hätten die Hoffnung auf Wasser und die Enttäuschung ihr die letzte Kraft genommen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, sie könnte nie, nie wieder von dieser Steinbank aufstehen.

José stand über die Karte gebeugt. »Wenn dies hier also keine Nullen sind«, sagte er zögernd, »dann … dann sind es noch hundert. Hundert Schritte geradeaus, danach rechts und noch einmal fünfzig Schritte. Dann sind wir dort, wo auf der Karte das schwarze Kreuz ist.« Er musterte Marit. »Soll ich allein gehen? Willst du hier warten?«

»Nein«, flüsterte sie. »Nein, ich gehe mit. Ich habe die ganze verdammte Reise nur gemacht, um dir zu helfen, dieses Kreuz zu finden.«

José zog sie hoch. »Komm«, sagte er. Aber sie gingen jetzt langsam. Und es lag nicht nur an ihrer Erschöpfung.

Es war ein seltsames Gefühl, so nahe am Ziel zu sein. Da segelte man tage- und nächtelang über den Pazifik, floh vor dem Feuer, überlebte Stürme, ließ sich auf einem Floß ans Ufer treiben – und plötzlich sollte das Ende der Reise nur noch wenige Schritte entfernt sein.

Der letzte leere Schildkrötenpanzer besaß einen Sprung wie eine Schale, die jemand hatte fallen lassen. Als sie sich bei dem Panzer nach rechts wandten, standen sie noch immer in dichtem Wald. Aber dieses Stück Weg schien Marit breiter. Als würde es noch benutzt. Sie sah keine Spuren, die Erde war trocken und krümelig, und doch –

»José«, flüsterte sie. »Warte! Was … was glaubst du, was ist es? Das Ziel? Das schwarze Kreuz?«

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht ist es nur eine Stelle, an der man graben muss. Vielleicht ist es eine Erklärung dafür, weshalb man auf der Isla Maldita Stimmen hört und Fackeln sieht. Vielleicht treten dort irgendwelche Dämpfe aus der Erde. Oder vielleicht … vielleicht finden wir trotz allem einen Funkmast der Deutschen.«

»Den«, sagte Marit, »hätten wir inzwischen wohl über die Bäume gesehen.«

Die allerletzten Schritte machten sie so langsam, als trügen sie Schuhe mit Blei in den Sohlen.

Marit merkte erst, dass sie sich an den Händen gefasst hatten, als sie das Zittern in Josés Hand spürte. Und dann traten sie aus dem Wald auf eine winzige Lichtung, auf der spärliches Gras wuchs. Der Boden war ausgetreten von Hufen und Pfoten, Marit sah die Abdrücke hier deutlich. Aber es war nichts da. Ein paar Felsen hatten sich am anderen Ende der Lichtung versammelt wie versteinerte Riesenschildkröten. Sie gingen zu den Felsen hinüber. Die Felsen säumten etwas. Ein Versteck.

Erst als sie ganz nahe standen, sahen sie, was es war:

Zwischen den Steinen lag eine blanke, spiegelglatte, glänzende Fläche. Nur an einer Stelle störte eine Bewegung ihre Glätte. Dort rann etwas den Felsen hinab, rann aus einem Spalt weiter oben.

»Wasser«, sagte José verblüfft. »Es ist Wasser. Das schwarze Kreuz auf meiner Karte … ist eine Quelle.«

Lied der Riesenschildkröte

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren

kroch ich schon übers Lavagestein.

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren,

als die Menschen noch Kinder waren,

war der Pazifik mein.

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren

schwamm ich schon mit dem Meeresgetier.

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren,

ehe die Menschen den Hochmut gebaren,

gehörten die Inseln mir.

Tausend und tausend mal tausend Gelege

vergrub ich wie eine geheime Idee.

Tausend und tausend mal tausend Gelege

schlüpften und fanden tausend Wege

zurück in die rettende See.

Tausend und tausend Mal bin ich gestorben

durch des Menschen mordende Hand.

Tausend und tausend Mal bin ich gestorben,

ich wurde gestohlen, ich wurde verdorben,

und einsam lag er, der Strand.

Tausend Mal wurden Anker gelichtet,

und ich war an Bord, in dunklem Versteck.

Tausend Mal wurden Anker gelichtet,

und ich lag, lebendig zu Stapeln geschichtet,

zu Tausenden unter Deck.

Die Menschen denken, sie können vernichten,

die Menschen glauben, sie können richten,

aber sie irren sich sehr.

In tausend und tausend mal tausend Jahren,

wenn schon längst keine Schiffe mehr fahren,

dann spiele ich noch im Meer.

Die geheime Reise der Mariposa - i_016.jpg

Ayudame!

Hilf mir!

Sie beugten sich über das kleine Becken, schöpften mit den Händen Wasser und tranken und tranken und tranken. Sie betranken sich an dem klaren Wasser, tauchten ihre Gesichter hinein, bespritzten einander damit und lachten wie kleine Kinder. Und so viel sie auch davon tranken, es floss ständig neues Wasser aus dem Felsspalt. Es war wie ein Wunder.

Irgendwo am Grund des natürlichen Steinbeckens versickerte das Wasser wohl in der Erde, und jetzt sah Marit auch, wie viel grüner es im Umkreis der Quelle war, wie viel übermütiger und höher die Pflanzen sprossen. Sie sah, woran es lag, dass sie hier plötzlich Spuren erkennen konnte: Die Erde war nicht länger trocken und krümelig. Sie war durchdrungen von Feuchtigkeit.

Schließlich ließen José und sie sich auf jenen feuchten Boden fallen und lagen einfach da und sahen in die Baumwipfel hinauf.

»Wir werden überleben«, sagte José. »Auch nach der Regenzeit. Die Quelle hat genug Wasser, sie versiegt nicht so schnell.«

»Ja«, sagte Marit. »Wir werden überleben.«

Sie setzte sich auf und malte Linien in die feuchte Erde. Ein Schiff.

»Nach der Regenzeit …«, murmelte sie. »Was glaubst du, wann kommt das nächste Schiff vorbei, das uns mitnehmen kann?«

»Irgendwann«, murmelte José. »Sie … kommen nicht so nahe an die Insel heran … Vielleicht …«

»Vielleicht kommt gar kein Schiff«, sagte Marit. »Nie. So ist es doch, nicht wahr?«

»Ach Unsinn«, knurrte José. Und dann hieb er mit der Faust in den Schlamm, dass es spritzte. »Ist das nicht irre?«, sagte er. »Da segle ich los, um einen Schatz zu finden oder ein Nest von Spionen. Ich segle von Baltra los, einer Insel, auf der es tonnenweise Wasser in Flaschen gibt, und wozu das alles? Um Wasser zu finden!«

»Hättest du lieber eine Kiste voll Gold und Edelsteinen gefunden?«, fragte Marit sanft. »Und wärst jämmerlich mit deiner Kiste im Arm verdurstet?«

José schnaubte und stand auf. »Wenn wir eine Weile hierbleiben«, sagte er, »sollten wir uns einen Unterschlupf suchen. Wir ziehen in die Höhlen. Fürs Erste, allerliebste Schwester«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu, »muss das reichen.«

»Fürs Erste reicht es, allerliebster Bruder«, sagte Marit.

José wanderte allein zum Strand zurück, um Kurts Oktopusvorrat zu holen.

Marit brach ein paar Zweige ab, band sie mit einer Kletterpflanze zu einer Art Besen zusammen und begann die größere Höhle – die mit der Bank – auszufegen. Dabei fand sie in den dunklen Schatten ganz hinten etwas Wunderbares: einen Topf und ein paar Glasscherben. Die Scherben konnte man womöglich als Messer benutzen. Der Topf war schwarz und dreckig und uralt, aber dicht. Marit säuberte ihn und holte Wasser, um das Becken in der Bank aufzufüllen. Sie besorgte Feuerholz und errichtete ein Lager aus Ästen und Blättern, auf dem sie weicher schlafen würden als auf dem bloßen Steinboden. Sie pflückte noch mehr Guaven. Ihre Hände arbeiteten rasch und sie summte dabei. Es war wie ein Spiel, das sie früher im Hof gespielt hatten, vor unendlich langer Zeit: damals, als selbst Richard noch klein gewesen war. Der Schuppen war ihr Haus gewesen und sie hatten Tische aus Holzscheiten errichtet und Betten aus alten Küchentüchern. Sie hatten Löwenzahnsuppe gekocht und Pudding aus Erde …

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