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Jonathan lachte. »Nein. Du?«

José schüttelte den Kopf. »Bei einer hab ich’s mal versucht, die hat mich ausgelacht und gesagt, ich wäre noch ein Kind. Aber wenn ich zurückkomme nach Isabela – wenn ich auf der Isla Maldita war und mit den Amis geflogen bin –, dann ist das das Erste, was ich tun werde. Ein Mädchen küssen. So eine mit ganz weichen Lippen, rot müssen sie sein und …«

Doch Jonathan erfuhr nicht, was die Lippen der Galapagosmädchen noch sein mussten, denn José war aufgesprungen und zeigte hinter sie. »Sie sind näher gekommen!«

Jonathan folgte seinem Blick. Die beiden Schiffe, die sie verfolgten, waren ein gutes Stück herangerückt. Sie hatten es aufgegeben, so zu tun, als würden sie der Mariposa nicht folgen. Die Sonne zog die letzten Schlieren des Tageslichts mit sich hinter den Horizont. Ein Windstoß fegte durch die Stille, und ein Tropfen landete auf seinen Lippen, den nicht roten, nicht weichen Lippen. Er sah zum Himmel empor. Es war nicht nur die hereinbrechende Nacht, die ihn verdunkelte.

»José«, sagte er leise. »Ich weiß, warum sie näher kommen. Guck dir das da oben an.«

José nickte grimmig. Es war nicht nur Regen, den die Wolken heranbrachten. Sie trugen einen Sturm in sich, einen ausgewachsenen Sturm.

»Wer immer die dort sind«, sagte Jonathan und zeigte zu den Schiffen hinüber. »Was immer sie wollen. Sie haben sich ausgerechnet, dass nichts mehr übrig bleibt, wenn dieser Sturm mit uns fertig ist.«

Und tatsächlich sah es so aus, als hätten die Skipper der beiden Schiffe es sich in den Kopf gesetzt, die Mariposa vor Einbruch des Sturms zu erreichen. Sie fuhren unter Motor, der kleine Segler voran. Hatten sie sich abgesprochen? Oder war es ein Wettrennen, das sie dort veranstalteten, ein Rennen, dessen Sieger zum Preis die Mariposa bekäme und vielleicht die Karte einer mysteriösen unbewohnten Insel?

Die Böen legten die Mariposa auf die Seite, die Wellen wuchsen und hatten mit einem Mal Schaum vor dem Maul wie tollwütige Tiere. Von einem Moment auf den anderen warf der Pazifik seine Abendromantik ab, wie eine Schlangenhaut, und wurde zum Raubtier, vielzähnig, gierig. Es war jetzt so dunkel, dass man das Raubtier kaum noch sah, nur die Schaumkronen strahlten weiß, wie von innen beleuchtet. José pflückte die Hecklaterne von der Reling, entzündete sie und machte sie mittschiffs am Kajütendach fest. »Rasch!«, befahl er. »Die Segel! Wir müssen die Segel runterholen. Stell sie in den Wind, ich mach das.«

Jonathan versuchte die Mariposa so zu steuern, dass der Wind von vorn kam, und die Segel begannen wild hin und her zu schlagen.

»Mierda!«, schrie José. »Es geht nicht!«

Jonathan sah, wie er sich geduckt an die Reling klammerte. »Bring sie zurück auf Kurs! Ganz dicht am Wind! Ich muss erst nach vorn zum Mast, ehe mich der Baum erschlägt! Und mach den Motor an!«

Jonathan schob das Steuerruder herum, riss am Anlasser des Motors – nichts geschah. Die Mariposa schoss nur so vorwärts, stand auf ihrer Leekante wie auf einer Schlittschuhkufe … Wellen schwappten über die Reling und sammelten sich im Boot. Die leeren Wasserkanister kullerten über das Deck, einer wurde von einer Welle mitgenommen. Jonathan riss noch einmal am Anlasser. Diesmal gab der Motor ein unwilliges Geräusch von sich – und verstummte. Der Regen peitschte Jonathan ins Gesicht, er sah kaum noch, was er tat. Er spürte etwas Kleines, Weiches an seinem bloßen Fuß: Carmen. Jetzt sah er auch, dass sich Eduardo, Oskar und Kurt ängstlich am Fuß der Treppe drängten, vor der Kajüte. Es gelang ihm, das Ruder für einen Moment festzuhaken, und er machte einen Satz nach vorn und öffnete die Kajütentür, um die Tiere in Sicherheit zu bringen. Sie taumelten so panisch ins Dunkel, dass eines über das andere fiel. Jonathan warf die Tür zu und kehrte zum Steuer zurück. José hatte es inzwischen geschafft, die Fock einzurollen. Warum begann er mit der Fock? Jonathan sah, wie er das Tau um die eingerollte Fock wand, doch dann riss der Sturm es ihm aus der Hand und trug es über Bord. José sah sich um und rief etwas. Ein Tau! José brauchte ein Seil. Irgendeines. Jonathan sah sich um. José hatte das Schiff aufgeräumt. Es gab keine losen Seile und Bändsel mehr, die am Mast hingen. Sie lagen alle ordentlich zusammengerollt unter Deck, aber gerade hatte Jonathan vergessen, wo. Er ließ das Steuer mit einer Hand los, löste seinen Gürtel und zog ihn aus den Schlaufen. José war schon übers Kajütendach geklettert und streckte die Hand nach dem Gürtel aus.

»Das Großsegel krieg ich nicht ab!«, rief José. »Das Fallsegel klemmt! Das Messer …«

Damit kletterte er zurück nach vorn und sicherte die Fock. Alles, was Jonathan in der Zwischenzeit tun konnte, war, das Steuer festzuhalten und Angst zu haben. Die Nacht, die er allein an Deck verbracht hatte, war nichts gewesen im Vergleich zu dieser Nacht. Dies war vielleicht das Ende der Mariposa. Er hatte gesehen, dass auch José Angst hatte. Zwei weitere Kanister wurden über Bord gerissen. Der Pazifik warf weitere Wellen ins Boot. Die Mariposa lief voll. Er drehte sich um und sah, dass das größere Boot zurückgeblieben war. Aber der andere Segler hatte ein gutes Stück aufgeholt. Auch er stand beinahe senkrecht auf einer Kante, er jagte dahin wie die Delfine im Wasser. Aber er war geschmeidiger als die Mariposa. Leichter. Einfacher zu steuern. War es wirklich Waterweg, der dieses Boot segelte? Hatte auch er Angst? Er holte auf, langsam, aber sicher …

José war wieder da und nahm Jonathan das Steuer aus den Händen.

»Jetzt«, sagte er. »Jetzt stellen wir sie in den Wind und kappen endlich das Großfall.«

Jonathan deutete stumm auf den Segler hinter ihnen. »Das würde ich nicht tun. Nicht, ehe du den Motor ankriegst. Sonst holt er uns ein.«

José fluchte. »Warum hast du den Motor nicht …?«

Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich hab es nicht geschafft. Versuch du es.«

»Dann hol du das Messer. In der Kajüte. Hinter den Dosen auf dem rechten Regal.«

Jonathan nickte. Als er die Kajütentür öffnete, merkte er, wie seine gürtellose Hose rutschte. Es gab nichts, was jetzt gerade unwichtiger war als eine Hose, und doch schien es wie ein Symbol. Auch er verlor eine falsche Schlangenhaut, wie der Pazifik. Für einen Moment fragte er sich, ob die Sachen, die er trug, dem Jonathan Smith gehört hatten, mit dessen Pass er unterwegs war. Er hatte ihn nicht gekannt. Waterweg hatte die Pässe besorgt. Waterweg, der jetzt vielleicht hinter ihnen her war, im Auftrag eines wahnsinnigen Deutschlands. Waterweg, den er hasste.

Er dachte all diese Gedanken in einer einzigen Sekunde, während er in die Kajüte kletterte, um Josés Messer zu suchen. Die Tür fiel hinter ihm zu. Es war schwierig, den Halt auf dem schrägen Boden nicht zu verlieren und gleichzeitig im Dunkeln zu tasten. Ein paar Dosen fielen vom Regal und er fluchte auf Deutsch.

In diesem Moment wurde es in der Kajüte hell. Sein eigener Schatten fiel auf die Wand vor ihm.

»Sieh mal einer an«, sagte jemand hinter ihm auf Spanisch. »Na, sieh mal einer an.«

Er fuhr herum und blickte in ein altes, bärtiges Gesicht. Hinter dem Mann gab es jetzt eine Öffnung in der Wand, die Öffnung zu einer verborgenen Koje. Jonathan sah Josés Mauser auf der schmalen, dreckigen Matratze liegen. Es war, als hörte der Sturm für einen Moment auf zu existieren. Die Nacht verschwand. Der ganze Pazifik war nicht mehr da. Es gab nur diesen winzigen Raum unter Deck und Jonathan und den fremden Mann.

Der Mann spielte mit der schwarzen Pistole. »Casaflora«, sagte er. »Juan Casaflora.«

»Jonathan Smith«, sagte Jonathan automatisch. »Sie sind … der Tote. Aber Sie sind nicht tot.«

Casaflora schüttelte den Kopf. »Und du bist nicht Jonathan«, sagte er.

Jonathan schwieg.

»Ich bin nicht so dumm«, fuhr Casaflora fort, »wie dein Freund da draußen. Und jetzt, wo wir vielleicht alle zusammen untergehen, will ich die Wahrheit wissen.«

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