Allday trat ein und ging quer durch die Kajüte.»Die Bestrafung ist vorüber, Sir Richard.»
Bolitho hörte ihn kaum, er dachte an Vincent. Und an die abweisende Art, wie seine Mutter Catherine behandelt hatte.
«Weißt du, alter Freund«, sagte er wie zu sich selber,»wer helfen will, tut manchmal das Falsche.»
«Zugleich!«Allday beugte sich an der Pinne vor, als ritte er über holperige Straßen, statt die Barkasse der Black Prince zu steuern. Trotz seiner großen Erfahrung machte ihm dieses Übersetzen von einem Flaggschiff zum anderen zu schaffen. Er hielt sich zurück, um in Gegenwart seines Admirals nicht laut zu fluchen, aber später würde er es dafür um so mehr tun. Die untrainierten Rudergasten fürchteten zu Recht Alldays Ungeduld mehr als den hohen Gast im Heck. Bolitho sah zum ersten Mal sein Flaggschiff vom Wasser aus. Im Februarlicht glänzte der mächtige Dreidecker wie poliertes Glas. Sein schwarz-beiger Rumpf mit den weißen Kanonenpforten war der einzige Farbfleck auf der grauen Nordsee. Weit achteraus drehte die Zest auf ihren Platz im Geschwader ein.
Das Schiff lag gut im Trimm. Keen hatte sich rundum rudern lassen, ehe es das erste Mal auf See ging und noch einmal danach. Er hatte Ballast und Vorräte umstauen lassen, bis der Bug höher aus dem Wasser kam. Unter dem Bugspriet drohte mit gezogenem
Schwert die Galionsfigur, der Schwarze Prinz, Sohn König Edwards III., in seinem Kettenhemd, geschmückt mit Lilie und englischem Löwen. Unter dem schwarzen, gekrönten Helm starrte er wie lebensecht nach vorn. Der Holzschnitzer war einer der besten Englands gewesen, der hochbetagte Aaron Mallow aus Sheerness.
Vor ihnen lag jetzt die Benbow, Herricks Flaggschiff. Sie führte vierundsiebzig Kanonen wie die Hyperion, war jedoch schwerer, denn sie war gebaut worden, als England noch Eichen für seine hölzernen Mauern in Fülle besaß. Jetzt waren die Wälder in Kent und Sussex, in Hampshire und im Westen abgeholzt, denn der Krieg, ewig hungrig, fraß nicht nur die Männer, sondern auch die Bäume.
Von drüben leuchtete ihnen das Rot der angetretenen Seesoldaten entgegen, Metall blitzte auf. Bolitho mußte wieder an den Toppgast denken, der ausgepeitscht worden war.
Keen hatte ihm berichtet: Mit nacktem Oberkörper war er an die Gräting gefesselt worden und hatte ohne Schmerzensschrei die zwölf Hiebe ausgehalten — nur die Luft hatte ihm die Peitsche aus den Lungen gepreßt. Aber als man ihn losband, hatte eine Stimme aus der stummen Menge geschrien:»Das zahlen wir denen heim, Jim!«Natürlich konnte weder der Waffenmeister noch der Profos den Rufer finden. Seither war der bis dahin unbekannte Matrose Jim Fittock an Bord so etwas wie ein Märtyrer geworden — wegen Felicitys Sohn Miles Vincent. Das durfte sich auf keinen Fall wiederholen.
Dann ragte der Rumpf der Benbow über ihnen auf, und Allday wurde noch zorniger, weil der Buggast einige Male vergeblich an den Großrüsten einzuhaken versuchte. Schließlich kletterte Bolitho die salzverkrustete Treppe empor. Bei diesem trüben Licht hätte er stolpern können, ohne daß jemand wegen seines Auges Verdacht schöpfte. Der Wirbel der Trommeln, das Schrillen der Pfeifen und die gebrüllten Kommandos zu seinem Empfang schmerzten ihn fast. Aber in diesen wenigen Minuten erkannte er vertraute Gesichter an Bord wieder, die vorschriftsmäßig geradeaus starrten, unter ihnen Hector Gossage, Herricks Flaggkapitän. Er stand wie ein Fels vor den anderen Offizieren. Ein neuer Mann hatte De Broux ersetzt, den Flaggleutnant mit dem» verdammten französischen Namen«, wie Herrick immer gesagt hatte. Der Neue war plump und schien weder besonders intelligent noch besonders interessiert zu sein. Und dann sah er Herrick — und erschrak zutiefst.
Sein Haar, früher braun und noch kürzlich nur mit wenigen grauen Fäden durchzogen, hatte alle Farbe verloren. Tiefe Falten entstellten das vertraute Gesicht. Sie hatten einander doch erst vor kurzem in der Admiralität getroffen. Konnte ein Mann in kurzer Zeit so altern?
«Willkommen an Bord, Sir Richard!«Herricks Händedruck war so fest wie immer.»Sie erinnern sich sicher an Kapitän Gossage?»
Bolitho nickte, ließ aber Herricks Hand nicht los.»Ich fühle mit dir, Thomas.»
Herrick zuckte mit den Schultern, wollte seine Gefühle verbergen.»Lassen Sie wegtreten, Kapitän Gossage«, befahl er.»Bleiben Sie in der Nähe der Black Prince und informieren Sie mich, falls sich das Wetter verschlechtert. «Er führte Bolitho nach achtern, und dieser fragte sich dabei, ob Herrick schon immer so gebückt gegangen war.
In der Tageskajüte, wo er so oft auf und ab geschritten war, sah sich Bolitho um. Gab es noch Spuren von ihm? Nein, keine. Diese Kajüte hätte genausogut auf jedem anderen Linienschiff sein können.
Ein Diener, an den er sich nicht erinnerte, brachte Brandy. Herrick sah Bolitho an.»Ich bin froh, daß du mich hier ablöst, damit die Benbow endlich daheim ins Dock kann. Wir haben im letzten Sturm fast das Ruder verloren. Damals warst du wohl noch an Land. Die See riß einen Mastergehilfen und zwei Matrosen über Bord — wir hatten gar keine Chance, sie aufzufischen.»
Bolitho unterbrach ihn nicht. Herrick mußte sich immer erst freireden, ehe er zur Sache kam, das war er gewöhnt. Aber Brandy um diese Stunde, das war neu. Ingwerbier oder Wein — das kannte er bei Herrick. Vielleicht hatte er mit dem Trinken begonnen, nachdem Dulcie gestorben war.
«Ich habe deinen Beileidsbrief bekommen, er tat mir gut. «Harsch fuhr er den Diener an:»Lassen Sie die Flasche hier, Mann! Ich komme schon alleine klar. «Der alte Herrick hätte so nie gesprochen; nicht umsonst war er immer der beliebteste Offizier bei den Besatzungen gewesen. Seine Hand zitterte leicht, als er die Gläser nachfüllte und ein paar Spritzer Brandy auf den Teppich verschüttete. Er schien es nicht zu bemerken.
«Guter Stoff. Stammt von einem Schmuggler. «Nur die Augen waren so klar und blau, wie Bolitho sie kannte. Ihm war, als schaue ihn ein Bekannter aus einem fremden Körper an.
«Verdammt noch mal, ich war nicht bei ihr, als sie mich am nötigsten brauchte!«brach es aus Herrick heraus.»Ich hatte ihr doch gesagt, sie solle sich nicht um die Gefangenen kümmern! Jetzt möchte ich sie am liebsten alle aufhängen. «Er trat an die Wand, an der sein Degen hing und mit dem Schwanken des Schiffes am Holz scheuerte. Doch er übersah die Waffe und berührte fast zärtlich das Teleskop daneben in seiner Halterung, das Dulcie ihm einst in London geschenkt hatte.»Aber ich wäre auf jeden Fall zu spät gekommen.»
Herrick leerte sein Glas in einem Zug.»Lady Bolitho hat mir von den verdammten Spaniern erzählt, die überall in Haus und Garten arbeiteten. Sie hätte sie auf den Hulks lassen sollen!«Er sah Bolitho an und fragte plötzlich:»War bei der Beerdigung alles so, wie es sein sollte?»
«Ja. Deine Schwester war da und viele von Dulcies Freunden.»
«Und ich konnte nicht kommen! Sie starb allein.»
Der Satz hing in der Luft, bis Bolitho sagte:»Dulcie war nicht allein. Catherine war bei ihr und hat sie gepflegt, bis der Tod sie erlöst hat. Das war mutig von ihr, denn Typhus ist sehr ansteckend.»
Herrick trat an den Tisch und griff zur Brandyflasche.»Nur Catherine?»
«Ja. Sie ließ nicht einmal die Haushälterin ins Zimmer.»
Herrick rieb sich die Augen, als schmerzten sie ihn.»Du denkst jetzt bestimmt, daß sich Catherine dafür meine Anerkennung verdient hat.»
Bolitho zügelte seinen Zorn.»Ich bin nicht hergekommen, um aus deinem Schmerz Gewinn zu schlagen, Thomas. Ich weiß noch sehr genau, wie du mir damals die schreckliche Nachricht über Cheneys Tod brachtest. Ich fühle mit dir, Thomas, denn ich weiß, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren.»
Herrick ließ sich schwer in seinen Stuhl fallen und füllte sich schon wieder das Glas.»Aber du hast jetzt Catherine — und ich habe alles verloren. Dulcie gab mir die Kraft zum Vorwärtskommen. Es war ein langer Weg vom armen Kadetten zum Konteradmiral. «Als Bolitho schwieg, beugte er sich über den Tisch und sprach lauter.»Aber du hast das ja nie verstanden! Dein Neffe auch nicht, niemand. Ihr Bolithos denkt immer nur an euch!»