«Aha. Er hat sicherlich gedacht, es sei besser, die Aussage von Midshipman Vincent nicht zu bezweifeln. Schließlich ist er der Neffe des Admirals!«Bolitho wurde ärgerlich.
Keen hob die Schultern.»Es ist nicht leicht auf einem neuen Schiff. Die vielen unerfahrenen Männer würden jedes Nachgeben falsch verstehen und sofort hemmungslos ausnutzen.»
«Trotzdem — Vincent hat den Matrosen provoziert?»
«Ich denke schon. Fittock ist ein guter Toppgast. Es könnte schaden, einen so erfahrenen Matrosen vor gepreßten Männern auszupeitschen.»
Bolitho erinnerte sich an den Kommandanten der Hyperion, den Vorgänger von Keen. Der hatte durchgedreht und seinen Ersten Offizier erschießen wollen. Er dachte auch an den kranken, überarbeiteten Kommodore Warren am Kap der Guten Hoffnung und an Varian, den eine zweite Verhandlung erwartete, die leicht zu einem Todesurteil fuhren konnte. Alles Männer, die unter der schweren Last des Dienstes zusammengebrochen waren.
«Vielleicht ist Vincent nur unerfahren«, versuchte er zu vermitteln.»Oder er wollte jemanden beeindrucken.»
Sanft korrigierte Val:»Das glauben Sie doch nicht wirklich.»
Bolitho nickte.»Stimmt, es ist unwahrscheinlich. Aber was können wir tun? Wenig. Sie haben hier das Kommando. Nehmen wir mal an, ich würde mich einmischen, dann würde man daraus schließen, daß der Admiral seinem Flaggkapitän mißtraut. Wenn Sie Vincent nicht decken, wäre das Ergebnis ähnlich. Dann hieße es, daß die jungen Offiziere an Bord keinen Schuß Pulver wert seien.»
Keen seufzte.»Manch einer hielte dieses Problem für unbedeutend, Sir Richard, aber die Mannschaft ist noch nicht zusammengewachsen. Von Loyalität ist noch nichts zu spüren.»
Bolitho stimmte ihm zu.»Und wir haben so wenig Zeit.»
Keen erhob sich.»Ich werde es auch mit Mr. Cazalet besprechen, dem Ersten Offizier. Er ist schon wie mein rechter Arm. Aber man wird ihn bald versetzen und ihm das Kommando über ein eigenes Schiff geben.»
«Augenblick noch, Val. Ich soll Ihnen sagen, daß Catherine Zenoria besuchen wird. Sie standen einander früher sehr nahe und haben ähnliches durchgemacht. Also nur Mut, Sie werden Zenoria wiederfinden. «Keen schwieg.
«Werden Sie Konteradmiral Herrick auf der Benbow besuchen?«fragte er schließlich.»Er reagierte sehr verzweifelt auf die schlimme Nachricht, die man ihm brachte. Aber niemand sollte vom Tod seiner Frau nur aus einem Brief der Admiralität erfahren. Verzeihen Sie, Sir Richard, vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen?»
Bolitho strich sich den Ärmel glatt.»Ja, ich werde mit Herrick sprechen.»
Es klopfte an der Lamellentür, und der Posten meldete:»Midshipman der Wache, Sir!»
Ozzard erschien wieder und öffnete dem Midshipman die Tür.
«Noch einer, der Ihnen viel zu verdanken hat, Sir Richard«, sagte Keen leise.
Bolitho sah dem blassen jungen Mann entgegen, der seine Wiedersehensfreude kaum verbergen konnte.
«Ich freue mich, Sie auf diesem Schiff zu wissen, Mr. Segrave.»
Er wirkte älter als damals, als er Leutnant Tyacke geholfen hatte, die brennende Albacora zwischen die ankernden Versorger zu segeln.»Ich — ich habe Ihnen geschrieben, Sir Richard, um mich für Ihre Unterstützung zu bedanken. Mein Onkel, der Admiral, bewundert Sie sehr. «Erst jetzt wandte sich Segrave an Keen:»Mr. Cazalet läßt ausrichten, der Ausguck hat im Nordosten ein Segel gesichtet!«»Danke. Ich komme gleich an Deck.»
Als die Tür hinter Segrave zufiel, sagte Keen:»Ich weiß Bescheid über den Jungen und die Prügel, die er auf seinem ersten Schiff bezogen hat. Leutnant Tyacke ist in seinen Augen der Größte!«Er lächelte, sein Gesicht sah jetzt endlich entspannt aus.»Nach Ihnen natürlich, Sir Richard.»
Es tat gut, Keen fröhlich zu sehen. Zu all den Lasten, die ein neues Kommando auf einem neuen Schiff mit sich brachte, bedrückte ihn sicher auch die Sorge um Zenoria. Suchte sie Keen im Schlaf ebenso heim wie das Catherine tat, wenn Bolitho zu lange auf See gewesen war?
«Leutnant Tyacke ist ein bemerkenswerter Mann«, sagte er.»Wenn man ihn erst besser kennt, empfindet man statt Mitleid große Bewunderung.»
Sie gingen zusammen nach oben zu ihrem Morgenspaziergang auf dem Achterdeck. Die Achterdeckswache wich ihnen respektvoll aus und bewegte sich auch sonst mit größter Vorsicht, um sie ja nicht zu behindern.
Der Himmel war tiefgrau, Masten und Segel standen dunkel davor. Unter Mars- und Großsegel laufend, lag die Black Prince nur wenig nach Lee über.
«An Deck!«Nach der Truculent klang der Ruf von oben, als sei der Ausguck Meilen entfernt.»Es ist eine Fregatte, Sir!»
Keen schlug den Mantelkragen gegen den beißenden Wind hoch.»Also kein Franzose, denn der würde mit Vollzeug davonsegeln!»
Bolitho hielt sich gerade noch davor zurück, sein verletztes Auge zu reiben. Man beobachtete jede seiner Bewegungen, und viele sahen ihn jetzt zum ersten Mal. Ein neues Schiff, ein bekannter Flaggoffizier — nur zu leicht konnte er das Vertrauen der Männer verspielen.
Ein großer, dunkelhaariger Midshipman, dessen Stimme alles übertönte, befahl:»Nach oben mit Ihnen, Mr. Gough! Und nehmen Sie ein Fernglas mit!«Ein kleiner Kadett kletterte eilends die
Webleinen empor und war im Gewirr des Riggs schnell verschwunden. Bolitho lächelte innerlich. Der große Midshipman hieß Bosanquet und gehörte zur Gang des Stückmeisters. Er sollte bald seine Leutnantsprüfung ablegen.
«An Deck!«Einige Matrosen grinsten, als sie die piepsige Stimme des Jungen von oben hörten.»Sie setzt das Erkennungssignal!»
Cazalet, der Erste Offizier, hob das Sprachrohr; seine dunklen Augenbrauen zitterten.»Wir sind alle schon sehr gespannt, Mr. Gough.»
Wieder piepste der Midshipman aus luftiger Höhe:»Die Zahlen lauten fünf, vier, sechs, Sir!»
Bosanquet hatte schon das Signalbuch aufgeschlagen.»Die Zest. Vierundvierzig Kanonen, Kommandant Kapitän Varian.»
Jenour trat neben ihn und schaute zu Bolitho hinüber.»Korrigieren Sie bitte das Buch. Varian ist nicht mehr ihr Kommandant.»
Keen befahl:»Bitte antworten Sie der Zest!»
Bolitho trat an die Querreling. Einige sahen in ihm sicherlich Varians Henker. Unten auf dem Hauptdeck riggten der Bootsmann Ben Gilpin und seine Gehilfen in Lee eine Gräting auf. Sie bereiteten die Auspeitschung vor. Für alle, die frisch an Bord gekommen waren, mußte dieser Strafvollzug ein furchtbarer Anblick sein. Und die anderen würde er noch brutaler werden lassen.
Bolitho straffte sich, als er Felicitys Sohn ganz in der Nähe stehen sah. In seinem Blick lag zuviel grausame Vorfreude.
«Fallen Sie zwei Strich ab, Mr. Cazalet. Wir wollen auf die Zest warten«, befahl Keen.
Jenour hatte gesehen, wie Bolitho sich über das linke Auge strich. In seiner Familie gab es einige Ärzte, und einem davon, seinem Onkel, hatte er den fremd klingenden Namen des Arztes genannt, der Bolitho behandelt hatte: Rudolf Braks. Sein Onkel kannte den Namen gut.»Der hat Lord Nelson behandelt«, sagte er,»und er behandelt auch den König, dessen Augenlicht immer schlechter wird. Wenn Braks deinem Admiral nicht helfen konnte, dann kann es keiner.»
Jetzt hörte er den Ersten Offizier melden:»Alle Mann an Deck angetreten, Sir.»
Keen antwortete kurzangebunden:»Überwachen Sie die leidige Sache.»
Bolitho hörte die Bitterkeit in Keens Ton. Er erinnerte sich wahrscheinlich an den Sträflingstransport. Damals hatte er Zenoria vor der Peitsche gerettet und später ihre Unschuld nachgewiesen. Aber ein Hieb hatte sie noch getroffen und ihre Haut von der Schulter bis zur Hüfte aufgerissen. Die Narbe würde sie nie mehr verlieren.
Bolitho ging nach unten in seine Tageskajüte und setzte sich auf die Bank unter den Fenstern. Er ballte die Faust, als er, gedämpft durch die Decks, die Trommeln wirbeln hörte. Das ferne Knallen der Peitsche traf ihn fast ebenso wie den Delinquenten. Er versuchte an Herrick zu denken und an das Geschwader, das er von ihm übernehmen würde. Fünf Linienschiffe, doch nur zwei Fregatten. Diese Aufklärer fehlten eben überall.