Yovell ließ die Sitzkante los, an die er sich geklammert hatte.»Diese Wege sind eine Schande, Mylady.»
Catherine ließ die Scheibe herunter, steckte trotz des Regens, der sie von Chatham hierher begleitet hatte, den Kopf ins Freie und fragte Matthew, den Kutscher:»Wo sind wir?»
Mit hochrotem Gesicht beugte sich der junge Mann herab und antwortete:»Da drüben das Haus muß es sein, Mylady. Andere gibt es hier nicht. «Er blies die Backen auf.»Ziemlich einsam, wenn Sie mich fragen.»
«Du kennst dich hier aus?»
Er lächelte.»Gewiß, Mylady. Vor vierzehn Jahren war ich hier als Junge. Mit meinem Großvater, der auch schon bei den Bolithos diente.»
«Was hattet ihr in Kent zu tun?»
«Sir Richard war hierher abkommandiert worden, um Schmuggler zu jagen. Er schickte mich aber bald zurück nach Falmouth, als es für mich zu gefährlich wurde.»
Catherine zog den Kopf zurück.»Fahren wir weiter!«Sie schloß das Fenster, und die Kutsche rollte durch Schlamm und Pfützen hügelabwärts. In der Ferne schimmerte der Medway. Die Straße von Chatham folgte dem Fluß, der mal in großen Bögen und Windungen durch das Land floß, mal wie ein See zu ruhen schien, doch immer den Himmel spiegelte, silbern oder bleigrau mit jagenden Wolken. Catherine schauderte, als sie weit draußen Hulks liegen sah, düster und mastlos, sicherlich überquellend von Kriegsgefangenen. Das erinnerte sie an ihre eigene Zeit im Gefängnis.
Bolitho war jetzt an Bord seines neuen Flaggschiffes. Wie lange würde er noch in England bleiben können? Sie nahm sich vor, jede Minute mit ihm zu genießen. Darüber vergaß sie fast den Zweck ihrer Reise und die Sorge, ob Herricks Frau sie überhaupt empfangen würde. Sie dachte zurück an die Beisetzung Somervells auf einem Londoner Friedhof. Niemand hatte mit ihr gesprochen außer dem Pfarrer, den sie aber nicht kannte. Am Grab stand neben ihr nur Bolitho. In der Nähe am Straßenrand warteten Kutschen, aus denen sie Gesichter beobachteten, um dann später über sie zu hecheln. Ein Mann lehnte an der Mauer und war davongeeilt, als sie den Friedhof verließen: Somervells Steward.
Matthew bremste und bog langsam in eine gut gepflasterte Allee ein. Catherine spürte plötzlich ihr Herz schlagen. Sie kam uneingeladen zu Dulcie Herrick und ohne sich angemeldet zu haben. Aber eine Anmeldung hätte vielleicht eine Absage zur Folge gehabt. Es bedrückte sie, daß Herrick sie nie akzeptieren würde. Und Dulcie?
Yovell sah nach draußen.»Ein schönes Haus. Was für ein Aufstieg!«Damit spielte er wohl auf Herricks Herkunft an. Bolithos ältester Freund stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Nur seine Ehe mit der über alles geliebten Dulcie war ihm Trost und Ansporn gewesen bei seinem schwierigen Aufstieg in der Navy. Als Yovell Catherine aus der Kutsche half, empfand sie Verbitterung. Bolitho hatte seinem Freund immer und überall zur Seite gestanden — hätte Herrick jetzt nicht loyal und tapfer zu ihnen beiden stehen müssen?
«Bleiben Sie beim Kutscher«, bat sie Yovell.»Mein Besuch wird wahrscheinlich nicht lange dauern.»
Matthew, der Kutscher, sagte:»Ich bringe die Pferde auf den Hof, da gibt's hoffentlich Wasser für sie.»
Catherine stieg die Treppe hinauf, hob einen glänzenden Messingklopfer und ließ ihn gegen das Holz fallen. Fast sofort wurde ihr geöffnet. Sie trat in einen dunklen Flur.
Als die beiden Männer in den Hof fuhren, hob Yovell entsetzt beide Hände. Zwei Stallburschen reinigten dort eine Kutsche, die kurz vor ihnen angekommen sein mußte.»Die gehört Lady Belinda, ich kenne sie! Ich muß ins Haus, zu Lady Catherine. Sir Richard würde es mir nie verzeihen…»
«Laß sie allein«, sagte der Kutscher.»Du kannst nicht zwei
Stuten gleichzeitig reiten. «Er grinste.»Ich setze jederzeit auf Lady Catherine!»
Yovell sah ihn tadelnd an und ging zur Hintertür.
Nach dem Lärm der Reise wirkte der Flur auf Catherine fast gespenstisch ruhig und kühl wie ein Grab.»Ist deine Herrin zu Hause?«fragte sie die kleine Dienerin, die ihr geöffnet hatte.
«Ja, Madam. Aber sie liegt zu Bett. «Das Mädchen deutete verlegen auf eine Tür.»Und sie hat Besuch!«Catherine lächelte.»Bitte melde mich an. Catherine Somervell — Lady Somervell.»
Sie trat in ein Vorzimmer und sah draußen zwei Männer im Garten arbeiten. Als der Regen heftiger wurde, suchten sie Schutz unter dem Fenster. Dabei merkte Catherine, daß die beiden spanisch miteinander sprachen.
Eine Tür in der Halle schlug, Schritte ertönten, die Tür zum Vorzimmer wurde aufgestoßen — und Belinda stand ihr gegenüber.
Catherina war noch nie mit ihr zusammengetroffen, erkannte sie aber sofort an der Ähnlichkeit mit ihrem Porträt in Falmouth.»Ich wußte nicht, daß Sie hier sind«, begann sie,»sonst.»
«Sonst wären Sie geblieben, wo Sie hingehören«, unterbrach Belinda sie mit großer Schärfe.»Wie können Sie es wagen, hierher zu kommen!«Ihr Blick wanderte abschätzig über Catherine und blieb an ihrem Trauerkleid aus schwarzer, glanzloser Seide hängen.»Wie unverschämt von Ihnen, Trauer zu tragen!»
Von weitem hörte man schwaches Rufen.
«Ihre Meinung darüber ist mir herzlich gleichgültig. «Catherine geriet allmählich in Zorn.»Dies ist nicht Ihr Haus, und ich besuche die Hausherrin, wenn sie es erlaubt!»
«Ich verbitte mir diesen Ton!«fuhr Belinda auf.
«Das sagen ausgerechnet Sie?«Catherine blieb hart.»Sie haben sich mit einem schurkischen Betrüger zusammengetan, um mich zu beseitigen: meinem Mann! Nein, ich trauere nicht um Somervell, sondern um Richards Freund.»
«Ich werde Richard niemals freigeben!«Belinda mußte zur Seite treten, weil Catherine auf die Tür zuging.
«Freigeben? Als ob er ihnen jemals gehört hätte!»
Wieder war die leise rufende Stimme zu hören. Catherine ging ohne ein weiteres Wort an Belinda vorbei. Sie war wie erwartet: schön und herzlos. Diese Erkenntnis machte sie ärgerlich, aber auch traurig.
Das Rufen kam aus einem großen Bett mitten im Nachbarzimmer. Herricks Frau lehnte in den Kissen und musterte die Eingetretene wie vordem Belinda — doch ohne Feindschaft.
«Ich bin gleich wieder da, liebe Dulcie!«rief Belinda von draußen.»Aber im Augenblick brauche ich dringend frische Luft. «Die Haustür fiel zu.
«Bitte verzeihen Sie meinen unangemeldeten Besuch. «Catherine fröstelte trotz des Feuers im Kamin.
Dulcie deutete mit einer Hand auf den Bettrand.»Setzen Sie sich bitte, so kann ich Sie besser sehen. Mein lieber Thomas hat mich vor ein paar Tagen verlassen und segelt jetzt zu seinem Geschwader. Er fehlt mir überall. «Ihre Hand tastete sich auf Catherines zu und ergriff sie.»Ja, Sie sind wirklich schön, Lady Somervell. Ich verstehe, daß Richard Sie liebt.»
Dulcies Hand war heiß und trocken.
«Das ist sehr lieb von Ihnen. Aber bitte, nennen Sie mich Catherine.»
«Es tut mir leid, daß Viscount Somervell gestorben ist… Regnet es noch?»
Catherines Besorgnis wuchs, denn Dulcies Gedanken liefen wirr durcheinander.»War ein Arzt bei Ihnen?«fragte sie vorsichtig.
Wie von weit her antwortete Dulcie:»Es ist so traurig. Thomas und ich konnten keine Kinder haben.»
Catherine blieb beharrlich:»Wie lange liegen Sie schon zu Bett?»
Zum erstenmal lächelte Dulcie. Dabei sah sie zerbrechlich aus wie ein Porzellanpüppchen.»Sie ähneln Thomas«, flüsterte sie.»Der fragt auch immer und macht sich solche Sorgen. Er denkt, ich arbeite zuviel. Aber er weiß nicht, wie einsam es hier ist, wenn er auf See ist.»
«Was sind das für Männer, die im Garten arbeiten?»
Dulcie hatte die Frage offenbar nicht verstanden.»Belinda ist so lieb«, fuhr sie fort.»Sie haben eine kleine Tochter.»
Catherine sah zur Seite. Sie, das waren Richard und Belinda.»Diese Männer sprachen spanisch!«beharrte sie.
Sie hatte nicht gehört, daß Belinda zurückgekommen war.»Ach ja, Sie waren ja mal mit einem Spanier verheiratet«, sagte Lady Bolitho.»Einer von Ihren vielen Ehemännern!»
«Es sind Kriegsgefangene«, antwortete Dulcie.»Freigelassen auf Ehrenwort. Sehr gute Gärtner. «Ihre Lider flatterten.»Ich bin so müde.»