Bolitho schaute auf seine makellosen Strümpfe hinunter und dachte an die Zeit, als er noch ein kleiner Leutnant mit nur einem feinen Paar Strümpfe für derartige Anlässe gewesen war. Die anderen waren über und über gestopft, ein Wunder, daß sie überhaupt noch zusammengehalten hatten. Dann fiel ihm wieder ein, daß Kapitän Haven ersucht hatte, an Bord bleiben zu dürfen. Haven hatte dies damit begründet, ein Sturm könne ausbrechen und seine rechtzeitige Rückkehr an Bord verhindern. Die Luft war wirklich schwer und feucht und die Sonne blutrot untergegangen.
Der Segelmeister der Hyperion, Isaac Penhaligon aus Cornwall, bestand allerdings darauf, daß ein Sturm sehr unwahrscheinlich wäre. Vielleicht zog Haven es vor, sich abseits zu halten, auch wenn ihm jemand auf dem Empfang seine Abwesenheit verübeln sollte.
Wenn nur Keen sein Flaggkapitän gewesen wäre! Bolitho hätte ihn nur zu fragen brauchen, und Keen wäre mit ihm gekommen, aus Treue, Freundschaft, Zuneigung. Aber Bolitho hatte Keen genötigt, in England zu bleiben, bis dieser seine Probleme mit der reizenden Zenoria gelöst hatte. Mehr als alles andere hatte Keen sich nämlich gewünscht, das dunkeläugige Mädchen mit dem vollen kastanienbraunen Haar zu heiraten. Sie waren so sehr ineinander verliebt, daß Bolitho es nicht über sich brachte, die beiden wieder zu trennen, kaum daß sie sich gefunden hatten.
Verglich er ihre Liebe mit seiner eigenen Ehe? Da hörte er lieber auf, sich Gedanken zu machen. Es war jetzt nicht die rechte Zeit dazu. Vielleicht würde es das niemals mehr sein.
Jenour fragte höflich:»Sollen wir gehen, Sir Richard?»
Bolitho betastete sein linkes Auge, hielt dann aber inne und starrte statt dessen auf das nächste Sturmglas und seinen zarten Rauchfaden, der kerzengerade zur Decke stieg. Alles war hell und klar. Keine Trübung, keine Schatten, die ihn manchmal so plötzlich behinderten.
Zwei Lakaien, die sich bisher zurückgehalten hatten, rissen die hohen Türflügel auf. Musik und Stimmengewirr brandeten in den Raum. Bolitho spannte seine Muskeln, als gälte es, einer Musketenkugel zu widerstehen. Den von Pfeilern flankierten Korridor hinuntergehend, rätselte er über Sinn und Zweck dieses stattlichen Gebäudes auf einer so kleinen Insel. Aber es war eben ein Platz, der durch den Krieg schon öfter ein wichtiger Angelpunkt in Englands Strategie geworden war.
Er hörte Jenours Sohlen über die Dielen tappen und lächelte halb über des Leutnants Eifer, mit ihm Kopf an Kopf zu reiten. Sie hatten mehr wie Landjunker ausgesehen als wie Offiziere des Königs.
Dann sah er die reichen Farben der Damengewänder, die nackten Schultern und neugierigen Blicke, die ihn empfingen. Sie hatten kaum Zeit seit seiner Ankunft gehabt, wie schon Kommodore Glassport erklärte, aber wahrscheinlich war jeder offizielle Besucher oder ein Schiff aus England hier willkommener Anlaß zum Feiern. Er bemerkte einige Offiziere von der Hyperion. Ihr Blau und Weiß bot einen deutlichen Kontrast zum Rot und Scharlach der Armee und der Seesoldaten.
Wieder einmal mußte er sich beherrschen, um nicht nach vertrauten Gesichtern zu suchen oder nach Stimmen; es durfte nicht so aussehen, als ob er einen Handschlag erwarte oder ein Zeichen des Wiedererkennens.
Zwischen zwei Pfeilern, einige Stufen erhöht, stand Glassport und blickte ihn an, zweifellos erleichtert, daß Bolitho nach seinem Ritt doch noch gekommen war. Im Mittelpunkt, elegant und unbeschwert, stand eine von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidete Gestalt. Bolitho wußte wenig über den Mann, den zu treffen er gekommen war. Der Sehr Ehrenwerte Viscount Somervell, Seiner Majestät Generalinspekteur in der Karibik, schien nicht viel an sich zu haben, das ihn für diesen Posten empfahl. Er war ein bekanntes Gesicht bei Hofe und auf den richtigen Empfängen, ein rücksichtsloser Spieler, wie einige meinten, und ein Fechter von Ruf. Letzterer war wohlbegründet. Man wußte, daß der König sich seinetwegen eingeschaltet hatte, als Somervell einen Mann im Duell tötete. Für Bolitho war das ein vertrautes und zugleich schmerzliches Milieu, für das er nicht bestimmt war.
Ein Lakai klopfte mit seinem langen Stab auf die Dielen und verkündete:»Sir Richard Bolitho, Vizeadmiral der Roten Flotte!»
Die plötzliche Stille war fast körperlich spürbar. Bolitho sah aller Augen auf sich gerichtet, als er über den Teppich ging. Die Musiker mit ihren Instrumenten standen stockstill, ein junger Marineoffizier, der seinen Partner knuffte, erstarrte, als ihn Bolithos Blick streifte. Dann der kühne Blick einer Lady in so tief ausgeschnittener Robe, daß sie sich überhaupt nicht hätte anzuziehen brauchen, und der eines jungen Mädchens, welches scheu lächelte und dann das Gesicht hinter einem Fächer verbarg.
Der Viscount kam ihm zur Begrüßung nicht entgegen. Er stand wie zuvor, eine Hand nachlässig in die Hüfte gestemmt, die andere an der Seite baumelnd. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, das sowohl Belustigung als auch Langeweile bedeuten konnte. Seine Gesichtszüge waren die eines Jüngeren, aber er besaß die trägen Augen eines Lebemannes, der schon alles gesehen hatte.
«Willkommen in…«Somervell stockte und drehte sich ungehalten um, als ein fahrbarer Kandelaber hinter ihm in den Saal gerollt wurde und ihn um seine elegante Pose brachte.
Der überraschend grelle Lichtschein in Augenhöhe kostete Bolitho die Balance, als er eben einen Fuß auf die erste Stufe setzen wollte. Eine Dame in Schwarz, die neben dem Viscount gestanden hatte, ergriff stützend seinen Arm. Durch die vielen Kerzen lugten überraschte und neugierige Gesichter wie auf einem Gemälde.
«Pardon, Ma'am!«Bolitho gewann sein Gleichgewicht wieder und versuchte gar nicht erst, sein Auge zu beschatten, als der Schleier darüber hinwegzog. Es war, als fiele er in tiefes Wasser, tiefer und tiefer.
«Es geht schon«, versicherte er. Die Robe der Dame war gar nicht schwarz, sondern von dunkelgrün schillernder Seide, die ihre Farbe in Falten und Kurven zu wechseln schien, was das blendende Licht erst jetzt enthüllte. Der Rock war weit geschnitten, das Mieder mit dem tiefen Dekollete eng. Das Haar — soweit er sich entsann, war es lang und so dunkel wie sein eigenes gewesen. Jetzt trug sie es über den Ohren zu Locken aufgetürmt.
Die neugierigen Gesichter, das wieder einsetzende Gemurmel, das mutwillige Geschwätz, alles schien vor seinen Augen zu verblassen. Er hatte sie einmal als Catherine Pareja gekannt, als Kate.
Er vergaß seine momentane Behinderung, als er ihre Augen sah, in denen Besorgnis einer erzwungenen Ruhe wich. Sie hatte gewußt, daß er kommen würde. Die Überraschung war nur auf seiner Seite.
Somervells Stimme schien von weither zu dringen. Auch er tat gelassen, hatte seine Haltung wiedergewonnen.»Natürlich, ich vergaß. Sie beide kennen sich von früher.»
Bolitho beugte sich über ihre ausgestreckte Hand. Sogar ihr Parfüm war noch das gleiche. Er hörte sie erwidern:»Das ist lange her.»
Als Bolitho sich aufrichtete, wirkte Kate seltsam fern und selbstsicher, fast gleichgültig. Sie setzte hinzu:»Aber einen Helden vergißt man nicht.»
Dann bot sie ihrem Gatten den Arm und wandte sich den übrigen Gästen zu.
Bolitho war wie ins Herz getroffen. Sie trug die langen, goldenen Filigranohrringe, die er ihr in jener anderen unwirklichen Welt einmal gekauft hatte — in London.
Lakaien näherten sich mit Tabletts voll funkelnder Gläser. Das kleine Orchester erwachte wieder zum Leben. Doch über die erhitzten, erregten Gesichter hinweg trafen sich ihre Blicke und schlossen alles andere aus.
Glassport sprach ihn an, aber er hörte nicht hin. Trotz allem, was geschehen war, bestand das Band zwischen ihnen immer noch. Aber es mußte zerrissen werden, bevor ihre Gefühle sie beide zerstörten.