Ozzard beobachtete ihn aufmerksam.»Ich nehme an, sie hat ihn in der Eile vergessen.»
Bolitho packte den Fächer fester. Nein, sie hatte ihn bestimmt nicht vergessen.
Schritte kamen näher, dann betrat Kommodore Glassport die Kajüte, gefolgt von Jenour und Haven. Glassports Gesicht war hochrot, als ob er bergauf gehastet wäre.
Bolitho machte eine einladende Bewegung.»Nehmen Sie Platz. Ein Glas Rotwein gefällig?»
Glassport schien bei diesen Worten aufzuleben.»Ich wüßte ein Gläschen zu schätzen. Gott verdamme diese Aufregung! Ich hätte mich schon längst pensionieren lassen sollen.»
Ozzard servierte, und Bolitho hob sein Glas:»Auf den Sieg!»
Glassport streckte die dicken Beine aus und leckte sich die Lippen.»Ein sehr guter Claret, Sir Richard.»
Haven unterbrach:»Wir haben einige Briefe, Sir Richard, sie sind mit dem letzten Paketschiff gekommen. «Auf seinen Wink hin brachte Jenour ein kleines Bündel und legte es vor Bolitho auf den Tisch.
Bolitho deutete auf die Gläser.»Nachfüllen, Ozzard. «Und zu den anderen gewandt:»Entschuldigen Sie mich, Gentlemen.»
Er schlitzte einen Brief auf und erkannte sofort Belindas Handschrift. Sein Auge überflog den Text zu schnell, so daß er aufhörte und von vorne begann.
«Mein lieber Gatte…«, schrieb sie wie an einen Fremden. Dann berichtete sie kurz über ihren letzten Besuch in London, und daß sie nun in einem gemieteten Haus lebe und seine Zustimmung erwarte. Elizabeth war von einer Erkältung genesen und hatte sich an das neu eingestellte Kindermädchen gewöhnt. Der Rest des Briefes beschäftigte sich mit Nelson, der zwischen England und Frankreich stünde. Wie sehr das Land doch von ihm abhinge, schrieb Belinda.
Jenour fragte leise:»Hoffentlich keine schlechten Nachrichten, Sir Richard?»
Bolitho steckte den Brief in seinen Rock.»Tja, Stephen, das weiß ich selber nicht.»
Sie schrieb nichts über Falmouth und die Menschen dort, mit denen er aufgewachsen war. Kein Wort, weder Ärger noch Reue, über die Art, wie sie sich getrennt hatten.
Glassport sagte schwerfällig:»Es ist jetzt viel ruhiger hier, seit der Generalinspekteur abgereist ist. «Und tief in sich hineinlachend:»Ich möchte nicht auf die falsche Seite Somervells geraten.»
Haven erklärte steif:»Seine Welt ist eine andere und ganz gewiß nicht meine.»
Bolitho lenkte ab.»Ich möchte die Kommandanten morgen sehen. «Und mit einem Seitenblick auf Glassport:»Wie lange wurde der Viscount denn hier aufgehalten?»
Glassport blinzelte ihn an, sein Verstand war schon wieder durch mehrere Gläser getrübt.»Bis der Sturm nachließ, Sir Richard. Dann reiste er ab.»
Unwillkürlich erhob sich Bolitho. Er mußte sich verhört haben.»Ohne auf Lady Somervell zu warten? Welches Schiff benutzte sie denn für die Rückreise, nachdem sie mit der Fregatte angekommen war?»
So sehr er auch darauf erpicht war, Seiner Majestät den Schatz persönlich zu präsentieren, hatte Somervell doch bestimmt gewartet, um sich von Catherines Wohlergehen zu überzeugen?
Glassport bemerkte Bolithos plötzliche Erregung und sagte beschwichtigend:»Aber sie hat die Insel doch gar nicht verlassen, Sir Richard. Ich erwarte noch immer ihre Anweisungen. «Irritiert schloß er:»Lady Somervell wohnt jetzt in der Residenz.»
Bolitho nahm wieder Platz und schaute zum Fächer hin, der auf dem Weinschränkchen lag. Er sagte:»Entschuldigen Sie mich bitte für heute, Gentlemen. Wir sprechen uns morgen wieder.»
Später, als das Trillern der Pfeifen und das Poltern von Glassports Boot an der Bordwand verklang, starrte er durch die Heckfenster auf die Hafenlichter, so fein wie Nadelstiche. Von der offenen See kam eine träge, glasige Dünung herein, die den schweren Rumpf der Hyperion eben rührte. Am Himmel standen einige wenige Sterne. Bolitho begann sie zu zählen, und dabei wurde ihm auf einmal klar, was er Augenblicke früher noch nicht mal hatte denken wollen.
Würdest du alles riskieren? Eine — ihre — Stimme schien das laut gefragt zu haben.
Im dicken Glas neben sich erblickte Bolitho ein Spiegelbild. Jenour war lautlos eingetreten.
«Seien Sie so gut, Stephen, und sagen Sie Allday, er soll mein Boot klarmachen, ich gehe gleich an Land.»
Jenour zögerte. Er hatte zugehört, als Glassport mit der Geschichte von Lady Somervell herausplatzte.
Er setzte an:»Darf ich etwas sagen, Sir Richard?»
«Habe ich Sie jemals daran gehindert, Stephen? Worum geht es, wollen Sie mein Schiff verlassen?«Halb ihm zugewandt, fühlte er des jungen Leutnants Unbehagen.
Jenour erwiderte heiser:»Es gibt nicht einen Mann unter Ihrer Flagge, Sir Richard, der nicht für Sie sterben würde.»
«Das bezweifle ich aber. «Bolitho musterte den bestürzten Jenour.»Sprechen Sie trotzdem weiter.»
Jenour setzte abermals an:»Sie haben die Absicht, die Lady zu besuchen, Sir Richard. «Als die erwartete Zurechtweisung ausblieb, fuhr er fort:»Aber morgen wird es das Geschwader wissen, und im nächsten Monat wird ganz England davon hören. «Er schaute zu Boden.»Es — es fällt mir schwer, so mit Ihnen zu reden. Ich habe kein Recht dazu, es ist nur, weil ich sehr besorgt bin.»
Bolitho nahm seinen Arm und schüttelte ihn leicht.»Es erforderte Mut, Stephen. Ich danke Ihnen. Einem alten Feind, John Paul Jones, wird das Wort zugeschrieben: >Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Was auch immer seine Fehler gewesen sein mögen, Mangel an Mut gehörte nicht dazu. «Er wurde ernst:»Ich kenne das Risiko, Stephen. Und nun rufen Sie Allday.»
Auf der anderen Seite der Pantrytür zog Ozzard den Kopf zurück und nickte langsam. Er freute sich, daß er den Fächer entdeckt hatte.
Bolitho merkte kaum etwas von seiner Umgebung, als er den Hafen hinter sich ließ und durch die Schatten schritt. Er hielt nur einmal an, um Atem zu schöpfen und seine Gefühle zu prüfen. Er sah zu den ankernden Schiffen hinaus, deren offene Stückpforten auf der leichten Dünung glitzerten, unter ihnen die dunkle, massige Ciudad de Sevilla. Was würde aus ihr werden? Würde man sie irgendeiner reichen Handelsgesellschaft verkaufen oder sie den Spaniern zum Tausch anbieten und versuchen, die Consort dafür zurückzugewinnen? Letzteres war unwahrscheinlich. Die Dons waren durch den Verlust des Schatzschiffes gedemütigt und durch die Versenkung eines weiteren unter ihren eigenen Kanonen erst recht verbittert.
Vor den weißen Mauern der Residenz blieb er abermals stehen. Sein Herz pochte. Was hatte er eigentlich im Sinn? Vielleicht würde sie ihn überhaupt nicht empfangen. Er schritt über die Auffahrt und ging durch den Haupteingang, der wegen der erfrischenden Seebrise weit offenstand. Ein in einem Korbstuhl schlafender Diener rührte sich nicht einmal.
Er befand sich in einer von Säulen gestützten Halle, deren schwere Gobelins im Widerschein zweier Kandelaber glühten. Es war ganz ruhig, selbst die Luft schien stillzustehen.
Über der geschnitzten Truhe bei einer anderen Tür entdeckte Bolitho einen Klingelzug und spielte mit der Idee zu läuten.
Während des letzten Gefechts auf dem Schatzschiff war der Tod sein Begleiter gewesen, und er war ihm auch sonst nicht fremd. Aber er hatte sich nicht gefürchtet, nicht einmal hinterher. Hatte der Mut ihn jetzt verlassen? Er faßte seinen Degen fester. Vielleicht hatte Glassport sich geirrt, und sie war wieder nach St. John's gegangen, wo sie Freunde besaß, diesmal über Land. Er dachte an Jenours Befürchtungen, an Alldays verdächtiges Schweigen, als er ihn zur Anlegebrücke rudern ließ. Einige Wachposten waren in eine Art Ehrenbezeugung verfallen, als sie den Vizeadmiral erkannten, der ohne Vorwarnung an Land gekommen war.
Allday hatte gemeint:»Ich werde warten, Sir Richard.»
«Nein. Wenn ich ein Boot brauche, kann ich eins rufen.»
Allday hatte ihm nachgesehen, wahrscheinlich genauso besorgt wie Jenour.
«Wer ist da?»
Bolitho drehte sich um und sah sie auf der breiten Treppe stehen, mit einer Hand am Geländer, die andere in den Falten ihres Gewandes verborgen. Sie trug einen hellen Überwurf und wirkte gegen die dunklen Wandbehänge wie eingerahmt. Sie bewegte sich nicht.