Dann fuhr der Gouverneur fort:»Sie werden eben die Tempest abstellen. Ich bin schon dabei, die entsprechenden Befehle aufzusetzen. Ich habe auch Anweisung gegeben, die Eurotas wieder mit allem auszurüsten, über das wir verfügen. Mit Geld und Kanonen sieht es allerdings schlecht aus«, hatte er erbittert hinzugefügt.
Raymond hatte sich entschuldigt und war in einen anderen Teil der Residenz gegangen, wo er und seine Frau wohnten. Sayer hatte erwartet, daß Raymond Zeichen der Dankbarkeit zeigen würde, daß er überlebt hatte, und Mitgefühl für die weniger Glücklichen. Aber es war, als ob er die Erinnerung an die Ereignisse aus seinem Gedächtnis getilgt hätte. Sobald Sayer mit dem Gouverneur allein war, erlebte er seine zweite Überraschung.
«Ich kann Ihnen versichern, Sayer, wenn Bolitho das Schiff nicht wiedererobert hätte, wenn seine Tapferkeit nicht so offenkundig wäre und er nicht so viele Menschen gerettet hätte, würde ich Ihnen befehlen, ihn vor ein Kriegsgericht zu stellen.»
Sayer war völlig verblüfft.»Dagegen muß ich protestieren, Sir! Ich kenne Bolithos Laufbahn. Er ist in jeder Hinsicht ein hervorragender Offizier, wie es sein Vater schon war.«»Und sein Bruder?«Der Gouverneur hatte den Kommodore eisig angesehen.»Mr. Raymond sagte mir, daß Bolithos Bruder ein Verräter war, ein verdammter Überläufer im Krieg!«Darauf hatte er eine Hand erhoben.»Das war unfair von mir, Sayer, aber es entspricht meinen Empfindungen. Ich bin überarbeitet, überfordert durch die Zwiste in der Kolonie und die Unfähigkeit meines Verwaltungspersonals.
Und nun noch dieses. James Raymond, ein wichtiger Mann aus London, der das Ohr des Premierministers und wahrscheinlich auch das des Königs hat, beschuldigt Bolitho einer Liaison mit seiner Frau.»
Das war es also. Irgendwo in Sayers Gedächtnis lebte etwas wieder auf: Vor vier oder fünf Jahren hatte Bolitho die Fregatte Undine kommandiert und mit ihr eine andere neue Handelsmission unterstützt. In Borneo, das war es. Der Gouverneur dieses gottverlassenen Orts war ein Admiral im Ruhestand gewesen. Es hatte Gerede über ein Verhältnis zwischen der Frau eines Regierungsbeamten und einem jungen Fregattenkapitän gegeben.
Der Gouverneur sagte knapp:»Ich sehe Ihrem Gesicht an, Sayer, daß Sie schon davon gehört haben.«»Nein, Sir. Das war vor langer Zeit. Und nur Gerüchte.«»Mag sein. Aber durch eine unerfreuliche Fügung des Schicksals wurden sie hier wieder zusammengeführt. Und es ist nicht dasselbe wie früher. Bolitho ist nach wie vor Fregattenkapitän, während Raymond an Einfluß gewonnen hat, kaum aber an Nachsicht. Versuchen Sie, es von meinem Standpunkt aus zu sehen. Ich kann mir keine zusätzlichen Probleme leisten. Mit meinen Depeschen werde ich einen Antrag nach London schicken, daß die Tempest hier abgelöst wird. Ich bin kein solcher Tyrann, daß ich gleich die Absetzung ihres Kommandanten verlange. «Der Gouverneur hatte mehr oder minder deutlich eingeräumt, daß er von Raymond keinen guten Eindruck gewonnen hatte. Doch was änderte das schon, überlegte Sayer.
Als er jetzt wieder in seiner Kajüte stand, war er unsicher, wie er Bolitho gegenübertreten sollte. Der war ein ausgezeichneter Offizier, wichtiger noch, ein guter Mann. Doch Sayer hatte seine Verantwortung. Es ging wieder einmal um die Hierarchie.
Sein Kapitän blickte in die Kajüte.»Die Gig der Tempest legt an, Sir.»
«Gut. Empfangen Sie Kapitän Bolitho und bringen Sie ihn nach achtern.»
Er wandte sich wieder den Fenstern zu. Mrs. Raymond war eine sehr schöne Frau, hatte er gehört. Er nahm an, daß sie lediglich als Begleitung ihres Mannes mitgekommen war. Sie würde kaum in die Gesellschaft von Sydney passen: Beamte, Milizionäre, deren Ehefrauen und Mätressen. In Cornwall hatte Sayer mehr gesellschaftliche Veranstaltungen erlebt als hier draußen. Nicht ganz das Richtige für eine Dame aus guter Familie. Er hörte das Stampfen von Füßen, das Trillern der Bootsmannspfeifen, als Seite gepfiffen wurde, um den besuchenden Kapitän gebührend zu empfangen. Sayer wandte sich der Tür zu und riß sich zusammen. Als Bolitho eintrat, sah er genauso aus wie am Vormittag. In seiner Paradeuniform, den goldbetreßten Hut unter dem einen Arm, war er ein Mann nach dem Herzen jeder Frau. Er war stark von der Sonne gebräunt, und sein schwarzes Haar mit der rebellischen Locke über dem einen Auge schimmerte im gedämpften Sonnenlicht wie Rabenflügel. Er wirkte gelassen und zeigte nicht mehr die verhaltene Spannung, die Sayer an ihm bemerkt hatte, als er zum erstenmal in den Hafen eingelaufen war.»Setzen Sie sich, Richard. «Sayer sah ihn unsicher an.»Ich bin gerade vom Gouverneur zurückgekommen. Es dauerte Stunden, und ich bin halbtot vor Erschöpfung.«»Tut mir leid, Sir. Aber ich hoffe, der Besuch hat sich gelohnt.»
«Gelohnt?«Der Kommodore sah ihn grimmig an.»Ich dachte, er würde einen Anfall bekommen!«Ungeduldig öffnete er einen hängenden Weinkühler und nahm Flasche und Gläser heraus.»Verdammt, Richard, stimmt das mit Ihnen und Raymonds Frau?«Er drehte sich schnell um und verschüttete dabei Wein.»Denn wenn es so ist, dann fordern Sie Ärger heraus!»
Bolitho nahm das angebotene Glas und ließ sich Zeit. Es war vorauszusehen gewesen. Nach allem, was geschehen war, hatte es kommen müssen. Warum also die Überraschung?
Er erwiderte:»Ich weiß nicht, was man Ihnen hinterbracht hat, Sir.»
«Um Himmels willen, Richard, spielen Sie doch nicht mit
Worten! Wir sind beide Seeleute, wir wissen, wie solche Dinge geschehen. Mein Gott, nach Ihrem tollkühnen Rettungsunternehmen würde sich Ihnen heute abend in Sydney jede Frau hingeben!»
Bolitho stellte sein Glas ab.»Viola Raymond ist kein billiges Flittchen, Sir. Ich habe sie vor fünf Jahren kennengelernt. Dann glaubte ich, es sei alles vorüber, obwohl es in Wahrheit erst begonnen hatte. Sie ist mit dem falschen Mann verheiratet. Er ist ordinär, arrogant und gefährlich. «Bolitho hörte seine gelassene Stimme, wie ein zufälliger Zeuge.»Ich habe nichts anderes zu bedauern als die verlorenen Jahre. Wenn Viola nach England zurückkommt, wird sie ihre Londoner Wohnung verlassen und auf meine Rückkehr warten. «Er blickte auf, seine Stimme war ganz ruhig.»Ich liebe sie sehr. «Sayer sah ihn ernst an. Er war über diese Enthüllung betroffen, aber Bolithos Aufrichtigkeit und seine Bereitschaft, seine Hoffnungen mit ihm zu teilen, rührten ihn.
Er sagte:»Der Gouverneur schickt heute abend mit der Quail seine Berichte nach England. Dabei wird sich auch ein Antrag befinden, die Tempest in heimische Gewässer zurückzuverlegen. Das entspricht Ihren Wünschen, wenn auch nicht Ihren Gründen. Aber es wird Monate dauern, bis diese Berichte angekommen sind und beantwortet werden. Inzwischen kann alles mögliche geschehen.«»Ich weiß, Sir. Danke, daß Sie mich darüber unterrichten. «Durch die Enthüllung der Pläne des Gouverneurs hatte Sayer seine Sorge zu erkennen gegeben. Wenn Bolitho wollte, konnte er jetzt seine eigenen Berichte und Briefe mit demselben Schiff absenden. Auch wenn er keinen Einfluß besaß, hatte er doch zahlreiche Freunde. Es rührte ihn, daß Sayer sich in seinem Interesse so offen zeigte. Nachdenklich sagte der Kommodore:»Ich weiß wenig von James Raymond, aber was ich von ihm gesehen habe, halte ich für unerfreulich.»
«Wir haben beide unsere festen Positionen bezogen, Sir. «Bolitho konnte ihre Augen vor sich sehen, ihre Haut fühlen, die Berührung ihres langen, rotgoldenen Haares spüren.
«Viola wird auf meine Rückkehr nach England warten.«»Sie wird nicht nach England fahren, Richard. «Sayer war bei den eigenen Worten elend zumute.»Sie wird Raymond zu seinem neuen Amtssitz auf den Levu-Inseln begleiten müssen. «Er stand schnell auf.»Glauben Sie mir, sie hat keine andere Wahl. Der Gouverneur ist verpflichtet, Raymond zu unterstützen, und was Sie auch an Überedungskraft oder Geldmitteln aufwenden, es kann nicht dazu führen, daß Viola Raymond an Bord der Quail nach England fährt.»