Bolitho blickte ihm prüfend nach.»Jetzt hat es ihm die Sprache verschlagen. Das passiert wirklich selten. «Sie gingen nach vorn, an dem großen Doppelrad des Ruders vorbei, hinaus auf das breite Deck.
Nach der stickigen Kajüte schmeckte die Luft frisch, und am Stand der Marssegel erkannte Bolitho, daß sie gute Fahrt machten. Er überlegte, ob Herrick ihn wohl durch sein Glas beobachtete und sich die gleichen Sorgen wie Allday machte.
Viola schob die Hand unter seinen Arm und sagte zur Begründung:»An Deck geht es sich sehr schwer, nicht?«Dann sah sie zu ihm auf, ihr Blick war herausfordernd, bittend.
Etwas leiser fragte sie:»Drei Wochen, sagst du?»
Er spürte, wie ihre Finger seinen Arm drückten.
«Nach so langem Warten könnte ich es nicht ertragen«, fuhr sie fort.
Keen stand mit Ross auf der Leeseite und beobachtete die beiden verstohlen.
Der Steuermannsmaat fragte:»Was halten Sie davon, Mr. Keen? Der Käpt'n scheint hier ebensoviel zu riskieren wie in der Schlacht. «Er lachte verhalten.»Mann, er ist ihr ganz schön verfallen, daran besteht kein Zweifel. «Keen räusperte sich.»Ja. Gewiß.»
Der große Schotte blickte ihn verwundert an.»Mr. Keen, Sir, Sie werden ja rot!«Er ging davon, amüsiert über seine Entdeckung, und ließ den Leutnant verwirrt zurück. Midshipman Swift, der sich in der Nähe aufhielt, fragte:»Kann ich etwas für Sie tun, Sir?»
Keen funkelte ihn an.»Ja: Kümmern Sie sich um Ihren Dienst, verdammt noch mal.»
Die beiden an der Luvreling hörten davon nichts. Die Wildheit des Nahkampfes und alles, was vorher geschehen war, versank angesichts der dunkler werdenden blauen See. Und die Zukunft lag weiterhin in Ungewisser Ferne. Vielleicht war von Anfang an alles hoffnungslos gewesen; dennoch fühlte Bolitho sich wie erlöst.
Kommodore James Sayer trat erschöpft von den hohen Heckfenstern zurück, um der grellen Sonne zu entgehen, die in die Kajüte strahlte, als sein Flaggschiff vor Anker stark schwojte.
Er war gerade aus der Residenz des Gouverneurs zurückgekehrt und trug noch seine Paradeuniform. Unter dem Hemd war seine Haut kalt und klamm, selbst nach der Fahrt im offenen Boot.
Durch die Heckfenster konnte er gerade die Fregatte Tempest sehen; das dicke Glas verzerrte ihre Umrisse, als läge sie im Dunst. Im ersten Morgenlicht hatte sie Anker geworfen, und auf Sayers Signal war Kapitän Bolitho an Bord des Flaggschiffes gekommen und hatte seinen schriftlichen Bericht vorgelegt, aber auch eine mündliche Darstellung der Plünderung und Morde auf der Eurotas gegeben.
Der wichtigste Passagier, James Raymond, hatte das Flaggschiff nicht besucht, sondern sich direkt zum Sitz des Gouverneurs begeben.
Sayer atmete langsam aus, als er daran dachte, wie er dort empfangen worden war. Im allgemeinen kam er mit dem Gouverneur gut aus, wenn man die übliche Distanz zwischen Regierung und Marine berücksichtigte. Deshalb war er überrascht, als er ihn diesmal siedend vor Zorn antraf.»Als ob nicht alles schon schlimm genug wäre! Jetzt haben wir auch noch diese Bestie Tuke auf dem Hals. Er hat die Eurotas ausgeplündert, und Gott allein weiß, was er mit ihrer Artillerie unternehmen wird. Ich schicke die Brigg Quail mit meinen Depeschen sofort nach England. Wir brauchen hier Verstärkung. Man kann von mir nicht verlangen, daß ich alle diese deportierten Sträflinge aufnehme, für ihre Unterkünfte sorge, ihren Schutz übernehme und außerdem auch noch unsere Handelsrouten überwache.»
Kommodore Sayer war Raymond nie begegnet und wußte nicht, was er zu erwarten hatte. Er hatte gehört, daß Raymond, bisher Regierungsberater bei der East India Company, auf seinen gegenwärtigen Posten hier draußen versetzt worden war. Nach Sayers Meinung konnte eine
Versetzung in die Südsee niemals als Beförderung angesehen werden. Eher als Strafversetzung. Aber Tuke kannte er. Mathias Tuke hatte wie viele seines Gewerbes seine Laufbahn auf See als englischer Kaperkapitän begonnen. Für ihn mußte es nur natürlich gewesen sein, den nächsten Schritt zu tun und auf eigene Rechnung zu handeln — gegen jede Flagge und mit allen Mitteln, über die er verfügte. Dem Galgen war er oft nur um Haaresbreite entgangen, und die Geschichten von seinen gräßlichen Untaten kannte man auf beiden Ozeanen. Er hatte diese Gewässer schon früher heimgesucht und sich dann eine Basis näher bei den ergiebigeren Routen in der Karibik und den spanischen Häfen auf dem amerikanischen Kontinent geschaffen.
Grausam, erbarmungslos, selbst von Seinesgleichen gefürchtet, hatte er schon viele Admirale vor die problematische Frage gestellt, wo er als nächstes zuschlagen würde. Und jetzt war er hier.
Sayer hatte gesagt:»Ich habe einen umfassenden Bericht über die Ereignisse auf der Eurotas, Sir. Ohne Kapitän Bolithos sofortiges Eingreifen, mit keinem geringen Risiko für seine eigene Person und seine Gruppe, fürchte ich, wäre alles verlorengegangen und alle Menschen an Bord wären kaltblütig hingemetzelt worden.»
«Gewiß. «Der Gouverneur hatte in den Papieren auf seinem großen Schreibtisch gekramt.»Ich bin außer mir über die Dummheit des Kapitäns der Eurotas. Bei so vielen Sträflingen und zu wenigen Wachen an Bord in Santa Cruz noch zusätzliche Passagiere aufzunehmen!«Verzweifelt hob er die Hände über den Kopf.»Nun, er hat dafür büßen müssen, der arme Teufel.»
Sayer hatte nichts dazu gesagt. Schon seit einiger Zeit wußte er, daß die Kapitäne von Handelsschiffen im Dienst der Regierung zusätzlich Passagiere aufnahmen, um ihre Einkünfte zu verbessern. Sie brachten gutes Geld, und mancher Handelskapitän konnte sich reich zur Ruhe setzen. Diese Aussicht hatte Kapitän Lloyd nun nicht mehr.»Es versetzt mich in eine teuflische Situation. «Der Gouverneur ging trotz der drückenden Hitze heftig auf und ab.»Mr. Raymond hat eine wichtige Aufgabe auf den Levu-Inseln zu erfüllen. Es ist alles arrangiert. Jetzt, da die Eurotas praktisch völlig waffenlos ist und fähige Offiziere und eine neue Besatzung braucht, kann ich ihn nicht ohne eine Eskorte dorthin reisen lassen. «Sayer hatte weiter geschwiegen. Die Levu-Inseln, nahe bei den Freundschaftsinseln gelegen, wo Tuke die Eurotas versteckt hatte, standen schon seit vielen Monaten zur Diskussion, fast schon seit der Zeit, als die Kolonie in Neusüdwales gegründet worden war. Die meisten Häuptlinge der Inselgruppe waren freundlich gesonnen und zum Handel bereit.
Die Eingeborenenstämme haßten sich gegenseitig, das trug zur Sicherheit der Briten bei. Die Hauptinsel bot einen guten Ankerplatz, frisches Wasser und reichlich Holz. Immer wieder war die Inselgruppe von Kapitänen auf der Suche nach Wasser und frischen Lebensmitteln beansprucht worden, indem sie dort die Flagge mit ihren Landesfarben hißten.
Jetzt aber, da sich die Spannungen zwischen Großbritannien und Spanien verschärften, bedeutete die Insel mehr als nur eine Erweiterung des britischen Einflußgebietes. Sydney und der Rest der großen Kolonie wuchsen und breiteten sich jeden Monat weiter aus. Die neueröffneten Handels- und Versorgungsrouten und die Flanken der Kolonie mußten geschützt werden. Die Levu-Inseln konnten leicht Kriegsschiffen als Stützpunkt dienen, die von Südamerika her und um Kap Horn patrouillierten. Sayer konnte sich nicht vorstellen, wie ausgerechnet Raymond dort eine wichtige Position ausfüllen sollte. Dazu wirkte er durch ein angenehmes Leben zu verweichlicht. Gewiß verfügte er über eine gewisse Härte, aber das war eher Hartherzigkeit als Charakterstärke. Raymond hatte bestätigt:»Ja, ich muß eine Eskorte haben. «Er hatte Sayer angesehen.»Sie befehligen doch das Geschwader hier. «Es klang wie eine Beschuldigung. Daran war Sayer gewöhnt, aber es ärgerte ihn trotzdem.»Das werden Sie wohl arrangieren können, oder?«»Ich verfüge über ein paar Schoner, einige bewaffnete
Kutter und die Brigg Quail.«Er hatte aus dem Fenster gedeutet.»Jetzt habe ich auch die Tempest, Gott sei Dank, unter einem Kommandanten, der die Erfahrung und die Energie besitzt, sie gut und wirkungsvoll einzusetzen. «Der schnelle Blickwechsel zwischen den beiden war Sayer nicht entgangen. Sie hatten also über Bolitho gesprochen. Merkwürdig war nur die gespannte Stimmung. Vielleicht beruhte sie auf der Befürchtung, daß der Kommodore ihm etwas weitersagen würde, was nicht für Bolithos Ohren bestimmt war.