«Nicht sehr weit von der Küste Marylands.»
«Gott sei Dank«, sagte Tyrell.»Ich weiß, daß ich ein Narr bin. Aber endlich wieder vor dieser Küste zu segeln, verändert für mich die Welt.»
Bolitho stellte sein Glas ab.»Schön, ich möchte gegen Ende der ersten Hundewache unsere Offiziere ganz zwanglos hier sehen. «Er bemühte sich sorgfältig, wieder in steifem Ton zu sprechen. Für den Augenblick hatte jeder von ihnen beiden genug von seinem Innern gezeigt.»Inzwischen könnten Sie mich auf einem Inspektionsgang durch das Schiff begleiten. Und ich möchte alles sehen, gut oder schlecht.»
Tyrell nickte:»Gewiß, Sir. «Ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht.»Ich habe so ein Gefühl, daß unsre Sparrow fliegen wird wie nie zuvor. «Er trat zur Seite, bis Bolitho seinen Rock übergeworfen und sein Hemd zugeknöpft hatte.»Wollen Sie mir nun bitte folgen, Sir?»
Als sie auf das Geschützdeck ins Sonnenlicht hinaufstiegen, blickte Bolitho auf Tyrells breite Schultern und unterdrückte ein Seufzen. Sollte jeder Tag solch einen Willenskampf mit sich bringen, so wäre sein Kommando eine ständige Prüfung.»Fangen wir bei der Steuerbordbatterie an, Mr. Tyrell. «Der Erste Leutnant blieb unter dem Niedergang vom Achterdeck einen Augenblick stehen.»Wie Sie sagten, Sir. Alles. «Er grinste wieder.»Gutes und Schlechtes.»
Stockdale räumte das Rasierbecken weg und schielte nach dem Frühstück, das unberührt auf dem Kajütstisch stand. Auf Deck und im ganzen Schiff zitterte die Luft vor Lärm und Aufregung. Einer Landratte kämen die Arbeiten und Vorbereitungen zum Seeklarmachen verwirrend und halbverrückt vor. Aber für das geübte Auge hatte jeder Mann seinen Platz und seine genau bestimmte Aufgabe. Das meilenlange Tauwerk, jeder Fetzen Segel erfüllten einen entscheidenden Zweck, wenn ein Schiff in See gehen und tadellos manövrieren sollte.
Bolitho stand in der Kajüte und blickte durch die Heckfenster auf den zunächstliegenden Landstreifen hinaus. Der Morgen war hell, über den Hügeln spannte sich der Himmel sehr blaß, reingewaschen und klar. Er konnte das Gebäude des Marinestabes über der Küstenbatterie ausmachen. Die Flagge dort hing nicht mehr träge am Mast, sondern hob sich und flatterte im frischen Nordostwind. Er empfand es fast als körperlichen Schmerz, sich hier in der Kajüte einzuschließen und gierig den genauen Zeitpunkt zu erwarten, an dem er es für richtig hielt, an Deck zu gehen.
Stimmen dröhnten über das Oberdeck, und Schatten wischten geschäftig über das Skylight. Ab und zu konnte er das mißtönende Quieken einer Fiedel und das verzerrte Gebrüll eines Matrosensongs hören, während die Männer um das Ankerspill stampften.
In den vergangenen Stunden, ja fast die ganze Nacht lang, hatte er sich in seiner Koje herumgeworfen und den Schiffsgeräuschen gelauscht, dem Knarren im Rigg und in den Decksbalken. Seine Gedanken hatten versucht, alles Ungewohnte auf einem fremden Schiff zu erfassen. Trotz aller Arbeit würde ihn jeder Mann heute morgen beobachten, der Kommandant auf dem Achterdeck des Flaggschiffs ebenso wie irgendein unbekannter Leutnant, der Bolitho wahrscheinlich haßte, weil er die goldene Chance gehabt hatte, allen anderen vorgezogen worden zu sein.
«Ihr Kaffee, Sir!«Stockdale blieb zögernd am Tisch stehen.
«Er ist immer noch heiß.»
Bolitho fuhr ärgerlich herum, weil er in seinen ruhelosen Gedanken gestört worden war. Aber beim Anblick von Stockdales besorgtem Gesicht verflog aller Zorn. Immer wieder war es das gleiche.
Er setzte sich an den Tisch und versuchte sich zu entspannen. Stockdale hatte recht. Sollte er irgend etwas vergessen haben, so war es nun zu spät. Man konnte auch allzuviel in seinen Kopf hineinpressen. Das würde dann nur die Gedanken verwirren und verwischen.
Bolitho schlürfte seinen Kaffee und starrte auf das kalte Fleisch. Er konnte es nicht anrühren. Sein Magen rebellierte ohnehin schon in besorgniserregender Weise. Die übereinandergeschichteten Scheiben Schweinefleisch wären sicher mehr als genug, um ihn vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Stockdale spähte durch die Fenster.»Es wird eine gute Überfahrt werden, Sir. Lange genug, um diese Burschen richtig einzuschätzen.»
Bolitho blickte zu ihm auf. Stockdale mußte seine Gedanken erraten haben. Zusammen mit einer anderen Korvette sollten sie für zwei fette Transportschiffe, die Nachschub für die Truppen in Philadelphia geladen hatten, Geleitschutz geben. Zweitausend Meilen, meist auf offener See, würden ihm reichlich Gelegenheit geben, sich und seine Mannschaft zu prüfen.
Am vergangenen Abend hatte er sich in der winzigen Messe mit seinen Offizieren getroffen. Außer Tyrell waren alle schon seit der Indienststellung in Greenwich an Bord. Bolitho war ein wenig eifersüchtig auf ihre offenkundige Vertrautheit mit der Sparrow. Die beiden achtzehnjährigen Fähnriche waren als unerfahrene Novizen an Bord gekommen. Sie waren auf der Sparrow erwachsen geworden und warteten nun voll Hoffnung auf ihre Beförderung. Schade, dachte er, daß sie erst Fähnriche waren. Sie könnten zu sehr um die Gunst ihres Kapitäns wetteifern. In einem größeren Schiff mit vielen Bewerbern würde die Rivalität unter den» jungen Herren «weniger aufdringlich sein.
Buckle hatte während ihres formlosen Zusammenseins wenig gesprochen. In seiner Zurückhaltung hatte er sich auf Fragen der Navigation beschränkt. Zweifellos war er neugierig, wie sich sein neuer Kapitän auf See verhalten würde.
Robert Dalkeith, der Wundarzt, war ein sonderbarer Mensch. Er war zwar noch jung, aber bereits plumper und schwerfälliger, als es für seine Gesundheit gut sein konnte. Über seinen vollkommen kahlen Schädel hatte er eine hellrote Perücke gestülpt. Aber er schien gebildet und in seinem Beruf viel geschickter zu sein, als es sonst auf Kriegsschiffen üblich war, und Bolitho kam zu der Ansicht, daß in ihm mehr steckte, als er nach außen hin zeigte.
Lock, der Zahlmeister, ein linkischer, doch freundlicher, dürrer Stecken von einem Mann, vollendete die Versammlung.
Graves war später hereingekommen und hatte ziemlich viel Aufhebens von seinem Verdruß mit den Wasserleichtern gemacht. Er redete viel von den Schwierigkeiten, an Land Schauerleute zu finden. In der Tat, die Aufzählung all seiner Ärgernisse war schier endlos. Endlich hatte ihn Tyrell fröhlich unterbrochen.»So eine Gemeinheit, Hector. Ausgerechnet Sie wurden auserwählt, als geschundener Märtyrer dazustehen.»
Als alle in Tyrells Lachen einfielen, hatte Graves die Stirn gerunzelt und sich zu einem dünnen Lächeln gezwungen.
Bolitho lehnte sich zurück und starrte zum Skylight hinauf. Er war sich über Graves immer noch nicht im klaren. Zweifellos war er ein harter Arbeiter! Ransomes Speichellecker? Er konnte nicht herausfinden, wann sich die verborgene Antipathie zwischen Tyrell und Graves entwickelt haben mochte. Aber sie war deutlich spürbar.
«Herr Kapitän?»
Bolitho fuhr aus seinen Gedanken auf und wandte sich zur Tür. Dort stand Fähnrich Bethune. Seinen Hut hatte er unter einen Arm geklemmt, seine freie Hand klammerte sich an das Heft seines Entermessers. Er war ein pausbäckiger, handfester junger Kerl, und sein Gesicht war über und über mit Sommersprossen bedeckt.
«Was gibt's?»
Bethune schluckte.»Sir, Mr. Tyrell läßt respektvoll melden, daß die Transportschiffe Anker gelichtet haben. Auf der Fawn wurde das Vorbereitungssignal gehißt, Sir. «Er schaute sich neugierig in der Kajüte um.
Bolitho nickte ernsthaft.»Ich werde gleich an Deck sein. «Er zwang sich in scheinbarer Gelassenheit, noch einen Schluck Kaffee zu nehmen. Fast wurde ihm übel davon. Die Fawn war die andere Korvette, die zum Geleitzug bestimmt war. Auf ihr fuhr außer ihrem Kapitän noch Colquhoun als höchster Offizier.
Der Fähnrich stand immer noch in der Kajüte.»Ich bin auch aus Cornwall, Sir«, brachte er linkisch heraus.
Trotz seiner Anspannung mußte Bolitho lächeln. Anscheinend hatte der Wettbewerb zwischen den Fähnrichen bereits begonnen.